IX. Ansichten der Internationalisten über die Vaterlandsverteidigung. Unsere Aufgaben.

IX. Ansichten der Internationalisten über die Vaterlandsverteidigung. Unsere Aufgaben.

Worin besteht unsere propagandistische Aufgabe in der Gegenwart?

Vor allen Dingen müssen alle Anhänger der III. Internationale mit besonderer Klarheit die Frage der Vaterlandsverteidigung aufstellen. Die kleinste Unklarheit in dieser Frage ist geeignet, unserer Agitation großen Schaden zuzufügen.

Der Sozialist ist verpflichtet, sein „Vaterland" in jedem Kriege zu „verteidigen", – das ist der Grundsatz des Sozialchauvinismus. Aufrichtigere Sozialchauvinisten stellen diese These ohne jede Vertuschung auf. Mag unsere Regierung unrecht haben, mag sie als erste den Krieg begonnen haben, mag ihre ganze Auslandspolitik bis zum Kriege eine fehlerhafte, ja mehr noch – eine verbrecherische gewesen sein, aber – man kann doch das Volk nicht für die Fehler, oder selbst für die Verbrechen der Regierung bestrafen. Wenn der Krieg schon einmal zur Tatsache geworden ist, wenn unserem Lande ein feindlicher Einbruch droht, – so müssen wir uns verteidigen. Und zwar müssen wir dies tun, ganz unabhängig von dem Inhalte, den Zielen und dem Sinn des Krieges. Eine Niederlage meines Vaterlandes – das ist das größte aller nur denkbaren Übel. Und deshalb: ob mein Vaterland nun im Recht ist oder nicht, es ist mein Vaterland! (right or wrong – my country).

Wie immer wir aber über die Ursachen und die Vorgeschichte des Krieges, über das Verhalten des Proletariats … denken mögen, darüber kann kein Zweifel bestehen: unsere höchste Pflicht ist – durchzuhalten." So 'sprach der hervorragendste Diplomat des internationalen Sozialchauvinismus, Viktor Adler, erst vor einigen Tagen in einer ParteikonferenzA.

Nicht alle Sozialchauvinisten drücken sich mit einer solchen Aufrichtigkeit aus. Die Mehrzahl zieht es vor, von der Verteidigung der „Kultur", „Freiheit", vom Kampfe gegen den Militarismus usw. zu sprechen. Sie handeln aber alle nach diesem Prinzip.

Das ist die Stellungnahme des Sozialchauvinismus.

Was ist nun darauf die Antwort der Internationalisten?

Wir verwerfen die Verteidigung des Vaterlandes nicht im Allgemeinen. Wir verwerfen die sogenannte „Vaterlandsverteidigung" in imperialistischen, d. h. reaktionär-kapitalistischen Kriegen. Wir beschränken uns aber nicht, auf jene unzweifelhafte Tatsache hinzuweisen, dass der gegebene Krieg, der Krieg von 1914-16, ein imperialistischer Krieg ist. Wir haben den Grundsatz aufgestellt, dass in der jetzigen imperialistischen Epoche die Kriege zwischen den Großmächten von Rechtswegen auch keine anderen sein können.

Das will aber nicht heißen, dass wir immer, überall, unter allen Umständen und zu jeder Zeit die Vaterlandsverteidigung auch in der imperialistischen Epoche verwerfen.

In unserem Artikel in Nr. 1 und 2 des „Kommunist" schrieben wir:

Konnte es während der Epoche der nationalen Kriege ,gerechte' Kriege geben? Ja, das war möglich. Die Kriege der großen französischen Revolution waren zum größten Teil ,gerechte' Kriege, die italienischen nationalen Kriege waren ,gerechte' Kriege.

Kann es aber jetzt, in der imperialistischen Epoche, ,gerechte' Kriege geben?

Ja, es ist möglich. Aber – nur in zwei Fällen. Erstens – der Krieg des Proletariates, das in irgendeinem Lande gesiegt hat, und nun sein errungenes sozialistisches Regime anderen Staaten gegenüber verteidigt, die für das kapitalistische Regime eintreten. Zweitens – der Krieg Chinas, Indiens und anderer Länder, die ein Objekt der Unterdrückung von Seiten des Imperialismus sind, für ihre Unabhängigkeit gegen die europäischen imperialistischen Regierungen“B.

Ein „gerechter" Krieg zwischen imperialistischen europäischen Regierungen ist unmöglich, sowie es unmöglich ist, sich einen „gerechten" Kampf zwischen Räubern wegen der Teilung des geraubten Gutes vorzustellen, – natürlich vom Standpunkte ehrlicher Menschen aus gesehen, und nicht von dem der Räuber selbst. Jeder andere Krieg, außer den von uns genannten zwei Fällen, muss in unserer Zeit nicht ein gerechter, sondern ein ungerechter Krieg sein, ein Krieg der Imperialisten untereinander, ein Krieg der plutokratischen Finanzklüngel, ein Krieg, der der Arbeiterklasse aller Länder immer feindselig gegenübersteht.

Konnte in den „gerechten" nationalen Kriegen von einem Kampfe der Bourgeoisie gegen das Proletariat die Rede sein, das die sozialistische Umwälzung auf die Tagesordnung stellt? Nein, das war nicht möglich. Aber jetzt, in den imperialistischen Kriegen, besonders jenen, die ein alleuropäisches Ausmaß angenommen haben, ist dies eine der Hauptaufgaben der internationalen Bourgeoisie".

In zwei Fällen sind auch jetzt „gerechte" Kriege möglich. Aber im Jahre 1915 trat weder der erste noch der zweite Fall ein.

Wir gestehen also natürlich den „Vaterländern", die von imperialistischen Mächten unterdrückt werden, das Recht auf Verteidigung zu. Das Bestreben der Kolonien und Halbkolonien, sich vom Joche der Großmächte zu befreien, verdient von Seiten der Sozialdemokratie zweifellos Unterstützung.

Den Unterschied zwischen dieser wahren Verteidigung seines Vaterlandes und der „Vaterlandsverteidigung", die nur darauf hinausläuft, dass die imperialistische Bourgeoisie neue Völker zu Leibeigenen machen, oder aber das Abhängigkeitsverhältnis der alten noch größer machen will, – diesen Unterschied kann nur der nicht verstehen, der ihn nicht verstehen will.

Ein Sozialchauvinist französischer Marke (wenn auch deutscher Abstammung), Herr Grumbach, zitiert in seinem unlängst erschienenen Buche „Der Irrtum von Zimmerwald-Kienthal" folgende Zeilen aus der Broschüre Lenins und Sinowjews („Der Sozialismus und der Krieg"):

Wenn morgen zum Beispiel Marokko in den Krieg gegen Frankreich, Indien gegen England, Persien und China gegen Russland eintritt, so wären es gerechte Verteidigungskriege, unabhängig davon, wer den Krieg angefangen hat, und jeder Sozialist würde mit dem Siege der unterdrückten, abhängigen und nicht volle Rechtsgleichheit genießenden Staaten über die räuberischen, sklavenhalterischen Großmächte sympathisieren." („Der Irrtum von Zimmerwald-Kienthal", Beonplitz-Bern. 1916, S. 77.)

Und mit gemachter Entrüstung antwortet Herr Grumbach:

Kolonien dürfen selbst Offensivkriege führen … Wenn aber die größte Republik Europas … sich gegen die einbrechenden Heere der feindlichen deutschen Monarchie zur Wehr setzt … dann heißt es: „Verräter am Sozialismus."

Ein „Sozialist", der so spricht, hat entweder eine so eiserne Stirn, dass er sich bewusst so stellt, als ob er den Unterschied zwischen der Lage einer Kolonie, die für ihre Unabhängigkeit kämpft, und der einer Großmacht, die selbst die Rolle eines Unterdrückers spielt, nicht verstünde, – oder die Sozialchauvinisten sind so sehr in der bürgerlichen Ideologie befangen, dass sie jedes sozialistische Gefühl verloren und einfach aufgehört haben, den Unterschied zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, Ausbeutern und Ausgebeuteten, Aussperrung und Streik, revolutionärem Aufstande und gegenrevolutionärer Unterdrückung des Aufstandes zu verstehen.

Die größte Republik Europas" besitzt auf jede 100 Kilometer ihres Mutterlandes 1135 Kilometer Kolonialland, das sie unterdrückt, aus dem die Finanzoligarchie Frankreichs Blut und Mark aussaugt. „Die größte Republik Europas" führt unter anderem jetzt auch für die Festigung ihrer Herrschaft über diese Kolonien Krieg.

Und die Lakaien des Imperialismus verstehen nicht, worin der Unterschied zwischen den Kolonien und ihren Unterdrückern liegt!

Sich darüber zu empören, ist überflüssig. Die Sozialchauvinisten und wir sprechen verschiedene Sprachen. Sie verteidigen die Interessen der Bourgeoisien, – wir verteidigen die Interessen des Proletariats. Aber das „Argument" des Herrn Grumbach beweist nur wieder einmal, wie notwendig volle Klarheit in der Frage der Vaterlandsverteidigung ist.

Es zeigt, wie verderblich es wäre, dem sozialchauvinistischen Spiel mit dem Begriffe der „Vaterlandsverteidigung" auch nur die geringste Schonung angedeihen zu lassen; ebenso unzulässig, wäre es auch, den Verzicht auf die Vaterlandsverteidigung überhaupt zu predigen, für alle Zeiten, unabhängig vom Charakter des gegebenen kriegerischen Konfliktes.

Die Schwäche der II. Internationale liegt nicht darin, dass sie das Prinzip der Vaterlandsverteidigung überhaupt anerkennt. Für die nationalen Kriege war dieses Prinzip richtig. Für die eventuellen Kriege, von denen wir schon gesprochen haben, ist dieses Prinzip auch jetzt richtig.

Die Schwäche der II. Internationale liegt darin, dass sie nicht klipp und klar sagte: in der Epoche der nationalen Kriege ist die Vaterlandsverteidigung berechtigt und notwendig; in der Epoche der imperialistischen Kriege soll man den Begriff „Vaterlandsverteidigung" nicht auf imperialistische Kriege anwenden.

Das Elend, das Unglück und der Zusammenbruch der II. Internationale liegt darin, dass aus Gründen, von denen zu sprechen hier nicht der Platz ist, der Opportunismus in ihr die Oberhand gewann und objektiv die wichtigsten Parteien der II. Internationale der Politik der Bourgeoisie unterwarf, in deren hauptsächlichstem Interesse es lag, dass die ungerechten imperialistischen Kriege den Arbeitern als gerechte und progressive dargestellt werden.

Wenn wir die Notwendigkeit der Schaffung der III. Internationale verkünden, – verzichten wir damit schon ganz und gar auf das Erbe der II. Internationale?

Die Aufgabe der revolutionären Marxisten besteht darin, dass sie zeigen, wie im Laufe der 25jährigen Existenz der II. Internationale zwei Grundrichtungen mit wechselndem Erfolge in ihr um die Oberhand kämpften: die marxistische und die opportunistische. Wir wollen nicht die ganze Geschichte der II. Internationale auslöschen. Wir verzichten auf das, was marxistisch in ihr war, nicht.

Eine Reihe von Theoretikern und „Führern" hat sich vom revolutionären Marxismus entfernt, die Kautskyaner aller Länder haben sich vom revolutionären Marxismus abgewendet. In den letzten Jahren der Existenz der II. Internationale gewannen die Opportunisten und das „Zentrum" die Mehrheit den Marxisten gegenüber. Aber dessen ungeachtet bestand in der II. Internationale die revolutionär-marxistische Richtung immer. Und auf dieses Erbe haben wir keinen Augenblick verzichtet.

Im Kriege der Jahre 1914-1916 haben der Opportunismus einerseits und der Anarchismus und der Syndikalismus andererseits Schiffbruch erlitten. Der Krieg war ein großer Schlag für den Sozialismus. Die positive Seite des Krieges für die Arbeiterbewegung liegt darin, dass er dazu beitragen wird, mit diesen beiden kleinbürgerlichen Entstellungen des Sozialismus aufzuräumen.

Unser Kampf gegen den Anarchismus und den Syndikalismus muss nicht weniger scharf sein als unser Kampf gegen den Opportunismus. Die propagandistische Aufgabe unserer Tage liegt nicht darin, dass wir im Syndikalismus einen „gesunden Kern" oder ein „Körnchen Wahrheit" suchen. Unsere Aufgabe liegt darin, zu zeigen, dass der Syndikalismus zu demselben Verrate an der Sache der Arbeiter, zu demselben Übertritt in die Dienste der Bourgeoisie gelangt ist, wie der Opportunismus. Ja, noch mehr als das. Die Schuld des Anarchismus und des Syndikalismus ist noch größer. Viele Opportunisten sprachen schon lange vor dem Kriege so, wie sie jetzt sprechen. Die Syndikalisten und die Anarchisten haben im Namen eines angeblich unversöhnlichen Kampfes gegen die Bourgeoisie, gegen den Militarismus und gegen den Krieg in die Arbeiterbewegung in Frankreich und Italien eine Spaltung hineingetragen, um jetzt in der Praxis ebenso verräterisch zu handeln, wie die schlimmsten Opportunisten. Die Anarchisten und die Syndikalisten haben auf dem Gebiete der revolutionären Phrase alles Menschenmögliche geleistet und dadurch die revolutionären Parolen, die revolutionären Aufrufe in den Augen der Arbeiter noch mehr diskreditiert.

Gegen den Opportunismus und gegen den Anarchismus!

Und gegen die „Marxisten des Zentrums" in erster Reihe! Das „Zentrum" war in der II. Internationale immer ein Helfershelfer des Opportunismus. Das Zentrum ist jetzt ein Helfer des Sozialchauvinismus. Welch eine reaktionäre Rolle das Kautskyanertum spielt, hat jetzt der „Longuetismus", diese Kautskyanische Strömung auf französischem Boden, besonders deutlich gezeigt, die in der Tat nur den Chauvinisten schlimmster Sorte hilft.

Zurück zu Marx!

Und im Rahmen dessen – die III. Internationale!

Oktober 1916.

G. Sinowjew.

A „Arbeiter-Zeitung", Wien, Nr. 318, 16. November 1916.

B Die letzte These bedarf vielleicht einiger Einschränkung. Beispiel: Persien zur Zeit des imperialistischen Krieges 1914-1916.

Es ist bekannt, dass die deutschen Imperialisten, auf die Gefühle des gerechten Hasses der Perser gegen ihre russisch-englischen Unterdrücker rechnend, Persien im Jahre 1915 fast in den Krieg hineingetrieben haben. Die liberalen „Russkija Wjedomosti" stellten den Gang der Ereignisse folgendermaßen dar: „Im September und im Oktober 1915 prüfte die persische Regierung augenscheinlich ernstlich die Frage, sich mittels eines Bündnisses mit Deutschland und der Türkei vom russisch-englischen Einfluss (!) zu befreien. Der Schah bereitete sich schon vor, zusammen mit dem Kabinette und der Medschilis, die der russischen Grenze zu nahe gelegene Stadt Teheran zu verlassen. Aber den energischen Vorstellungen der anglo-russischen Diplomatie – Vorstellungen, die durch das Erscheinen einer russischen Abteilung vor den Mauern Teherans unterstützt (!) wurden – gelang es, dem Schwanken des Schahs ein Ende zu machen … In Persien brach die Revolution aus, im Zentrum und im Süden bildeten sich Revolutionskomitees … Diese revolutionäre Bewegung wurde indessen von russischen Truppen im Winter und im Frühjahr 1916 unterdrückt." („Russkija Wjedomosti", 28. Juli 1916.)

Wie soll man sich zu einer solchen Lage der Dinge in Persien verhalten? Es versteht sich von selbst, dass die Sozialisten von ganzem Herzen mit der revolutionären Bewegung in Persien, die gegen die russisch-englischen Imperialisten gerichtet ist, sympathisieren Aber, falls Persien am Kriege von 1914-1916 teilgenommen und sich auf die Seite der deutschen Koalition gestellt hätte, so wäre der persische Krieg nur eine unbedeutende Episode im imperialistischen Raubkriege gewesen. Objektiv betrachtet, hätte sich die Rolle Persiens nur sehr wenig von der Rolle der Türkei in den Kriegsjahren 1914-16 unterschieden.

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