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Grigori Sinowjew 19191213 An die französischen Arbeiter

Grigori Sinowjew: An die französischen Arbeiter

[Manifest, Richtlinien, Beschlüsse des Ersten Kongresses. Aufrufe und offene Schreiben des Exekutivkomitees bis zum Zweiten Kongress. Hamburg 1920, S. 158-161]

Genossen!

Die Arbeiter von Paris haben die Kandidatur des Bolschewik Sadoul für die Parlamentswahlen aufgestellt, um ihre Solidarität mit dem russischen revolutionären Proletariat hervorzuheben. In ihrem Bestreben, diese Kandidatur unschädlich zu machen und zugleich ihre Unabhängigkeit und Verachtung gegenüber dem Willen des eigenen Proletariats kundzutun, hat Eure Regierung mit einem Todesurteil für Sadoul geantwortet, auf Grund der Anklage, dass er fahnenflüchtig sei, Beziehungen mit dem Feinde unterhalte und die Soldaten zum Ungehorsam aufstachle. Doch solch Schrecken erregende Worte können die französische Arbeiterklasse nicht einschüchtern, weiß sie doch, was dahinter steckt. Die Schuld, die Sadoul zu sühnen hat, besteht darin, dass er seine revolutionäre Pflicht erfüllt hat. Und zwar dachte er gar nicht daran, diese „Verbrechen“ zu leugnen. Noch vor kurzem, am 23. November 1919, schrieb er in einem an die Abgeordneten Longuet, Pressemane, Cachin u. a. gerichteten Briefe wie folgt:

Deutschland hat den Krieg beendet. Der Friedensvertrag enthüllt der ganzen Welt die unerhörte Grausamkeit, die unersättlichen Gelüste, die unsinnige Gier, die sich bisher hinter den heuchlerischen „demokratischen“ Erklärungen der Herren Clemenceau, Lloyd George und Wilson verbargen.

Vier Jahre lang haben Millionen und Abermillionen unglücklicher, von ihren Henkern betörter armer Teufel einander im Namen der „Verteidigung von Vaterland, Recht und Zivilisation“ niedergemetzelt, bloß um zuguterletzt die Frage zu entscheiden, ob den deutschen oder aber den englisch-amerikanischen Kapitalisten das Recht zustehe, ihre am Leben gebliebenen Kameraden von der Konkurrenz zu erdrosseln. Sollen all diese Qualen, all diese Meere vergossenen Blutes, all diese Zerstörung denn wirklich einzig und allein das Emporblühen der knechtenden Macht der Kapitalisten und die verschärfte Unterjochung der Arbeiter zur Folge haben? Werden die Arbeiter denn nie sehend werden? Doch nein, alles spricht dafür, dass sie endlich verstehen gelernt haben. In dem finsteren Abgrund, in dem die Menschheit sich in Todesqualen wälzt, leuchtet noch ein lebendiges Feuer – die Sowjetrepublik Russland, die erste ehrliche Regierung, die die Weltgeschichte kennt. Sie ist der Leuchtturm, auf den die Blicke der Proletarier aller Länder gerichtet sind. Sie ist das erhabene Beispiel, der erhabene Trost.

Der Krieg mit Deutschland, der Krieg der Imperialisten, der Kampf um die Absatzmärkte der Welt ist beendet. Bald wird es wohl unter den Siegern wegen Teilung der Beute zu einem neuen Kampfe kommen. Allein die herrschenden Klassen der dem Kriege ferngebliebenen Länder, die hauptsächlich um die Wahrung der „Klassenharmonie“ besorgt sind, vereinigen zeitweilig ihre Kräfte, die noch gestern einander feindlich gegenüberstanden und es morgen wohl auch tun werden, um etwaige revolutionäre Aufstände im Keime zu ersticken, bevor es dem internationalen Proletariat gelingen sollte, seine für das Kapital tödliche Vereinigung zu verwirklichen. Und nunmehr stehen wir vor einem neuen Kampf, dem sozialen Kampf. Unwillkürlich fragt man sich dabei: werden die Sozialisten des Westens, und an erster Stelle die französischen Sozialisten, auch in diesem neuen Kriege eine gleich schmähliche Rolle spielen, wie sie es im Lauf des ganzen imperialistischen Krieges getan?

Ich weiß nicht, was Ihr davon haltet, Genossen. Ich meinerseits bin der Ansicht, dass die bewaffnete Einmischung der verbündeten Räuber und ihrer Lehnsmänner in die Angelegenheiten des Arbeiter- und Bauernrussland keinesfalls als Krieg des französischen Volkes mit dem russischen angesehen werden kann. Es ist ein Kampf der Bourgeoisie gegen das Proletariat, der Ausbeuter gegen die Ausgebeuteten. In diesem Klassenkampf ist der Platz jedes wahrhaften Sozialisten – und folglich auch mein Platz – in den Reihen des Proletarierheeres, gegen das Heer der Bourgeoisie … Ich trete in die Rote Armee ein …

Jaques Sadoul.“

Genossen! Gen. Sadoul hat getan, was er in diesem und einer Reihe anderer Briefe erklärt. Ja, Sadoul hat die Armee der Gegenrevolution verlassen, um in die Reihen der Revolutionsarmee einzutreten. Ja, Sadoul stand in Beziehung zu dem Feinde, jedoch nicht zu dem Feinde der französischen Arbeiter und Bauern, sondern zu demjenigen der französischen Imperialisten – nämlich zu dem russischen Proletariat, das für seine eigene Befreiung kämpft und auch für die Eurige, Genossen. Ja, Sadoul hat die französischen, englischen und amerikanischen Soldaten zum Ungehorsam gegen die Befehle der verbündeten Reaktionäre aufgefordert, die sie zu Henkern machen wollten. Und zwar war Sadouls Stellung dermaßen logisch und stark, dass Clemenceau sich fünfzehn Monate lang nicht entschließen konnte, ihn zur gerichtlichen Verantwortung zu ziehen. Erst der Beschluss des französischen Proletariats, den Bolschewik Sadoul ins Parlament zu schicken, hat Eure Gebieter bewogen, darüber nachzudenken, wie sie „der Gefahr vorbeugen“ könnten. Wie der in englischen Blättern veröffentlichte Bericht der Gerichtsverhandlung zeigt, hat Clemenceau, um den Hass der Chauvinisten gegen Sadoul zu entfachen und ihn in den Augen der Revolutionäre zu diskreditieren, ihn angeklagt, Berlin besucht zu haben zwecks Verhandlung mit Scheidemann. Das ist eine unverschämte Lüge. Sadoul war nicht in Deutschland.

Genossen! Sich vor dieser schamlosen Verleumdung, vor diesem neuen Verbrechen Clemenceaus beugen, hieße seine Machtlosigkeit, seine Niederlage eingestehen. Der Kampf hat begonnen, führt ihn zu Ende. Überall und stets zeiget Eure Einigkeit mit dem zum Tode verurteilten Genossen, mit der sozialen Revolution.

Besser als alle Erörterungen es könnten, beweisen die Tatsachen, dass das Recht auf unserer Seite ist. Das Beispiel Sadouls, zu Tode verurteilt trotz dem klar ausgedrückten Willen des französischen Proletariats; das Ergebnis der Wahlen, von den bürgerlichen Diktatoren geschickt gelenkt, um den Lakaien des Kapitals, den Würgengeln des Proletariats die Mehrheit zu sichern – all dieses muss selbst den Rückständigsten die Augen öffnen. Diese und Hunderte anderer Tatsachen beweisen, dass im Rahmen des bürgerlichen Staates jegliche noch so feierlich verkündeten und den Arbeitermassen angeblich überlassenen „Rechte" nichts weiter sind als Betrug. In welchem Lande es auch sei, dauerhaft sind bloß diejenigen Rechte, die das Proletariat sich erobert, die es gewaltsam den herrschenden Klassen entreißt.

Genossen, es ist Zeit, dass Ihr Eure Fesseln sprengt, die Macht in Eure Hände nehmt und die Demokratie der Bourgeoisie und Sklavenbesitzer durch eine proletarische Demokratie, eine Demokratie der unterjochten Klassen, ersetzt.

Um aber zum Siege zu gelangen, müssen wir unsere Reihen schließen, alle unwürdigen Führer aus ihnen entfernen, alle Lügenverbreiter, alle Agenten der Bourgeoisie, deren Endziel es ist, uns einzuschläfern und zu demoralisieren. Vertreibt die Sozialpatrioten, die Euch verraten haben, sowie die Sozialchauvinisten, die Aussöhnung und Zusammenwirken der Klassen predigen. Bereitet Euch mit allen legalen und illegalen Mitteln zur sozialen Revolution vor.

Nieder mit der Diktatur der Bourgeoisie!

Es lebe die Diktatur des Proletariats!

Nieder mit der parlamentarischen Republik!

Es lebe die Sowjetrepublik!

Vorsitzender des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale

G. Sinowjew.

Petrograd, 13. Dezember 1919.

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