G. Sinowjew 19180328 Statt einer Vorrede (zum Sammelband ,Gegen den Strom')

G. Sinowjew: Statt einer Vorrede

[Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. IX-XV]

Die Aufsätze dieser Sammlung sind von Genossen Lenin und mir während unserer Emigrantenzeit vom September 1914 bis Februar 1917 verfasst worden Der Ausbruch des Krieges hat uns in Galizien getroffen, wo die Verfasser dieses Buches damals lebten, um möglichst nah der russischen Grenze zu sein und die Möglichkeit zu haben, an der damals in Petrograd erscheinenden „Prawda" zu arbeiten. Nur mit Mühe gelang es uns, die neutrale Schweiz zu erreichen wo wir mit der Herausgabe des „Sozialdemokrat" (des damaligen Zentralorgans unserer Partei) wieder begannen, und darauf eine Nummer der Zeitschrift „Der Kommunist" und zwei Hefte des „Sammelbuch des Sozialdemokraten" veröffentlichten.

Wir bringen hier die wichtigsten jener Aufsätze, ohne sie zu ändern Wir lassen auch die Polemik gegen den Genossen Trotzki stehen, obwohl diese Polemik gegenwärtig ihre aktuelle Bedeutung zum großen Teil eingebüßt hat.

Gegen den Strom!" so ist unser Sammelband benannt. Wir haben den Kampf gegen den Sozialchauvinismus als kleine Gruppe begonnen; wir haben diesen Kampf damals aufgenommen, als die trübe Welle der Vaterlandsverteidigung über die Arbeiterorganisationen aller Länder zusammenschlug als in Deutschland selbst Karl Liebknecht noch nicht offen gegen die Kriegskredite stimmte.

Erst in Zimmerwald gelang es uns, zusammen mit einer kleinen Gruppe entschlossener Internationalisten aus anderen Ländern den ersten kompakten Kern der Internationalisten zu schaffen. Die Zimmerwalder Linke stellte damals numerisch eine geringe Kraft da. Und es sei offen gesagt, dass die Vertretung des russischen Internationalismus damals als Gruppe gewertet wurde, die von den Massen gelöst sei, als Zirkel von Emigranten, die einigermaßen größere Arbeitermassen nicht vertreten. Der weitere Verlauf der Ereignisse hat gezeigt dass dem nicht so war, dass wir damals schon unzweifelhaft die wahre Stimmung der breitesten Kreise des russischen Proletariats ausdrückten, dass wir damals schon in den Grundzügen jene Linie markierten, die dem besten Teil der klassenbewussten Arbeitern Russlands vorschwebte.

Der Verfasser dieser Zeilen erinnert sich lebhaft an seine Unterredung mit Viktor Adler zu Beginn des Krieges. Der alte, erprobte, ausgekochte Opportunist Viktor Adler behandelte uns wie erwachsene Kinder. Man fühlte aus jedem seiner Worte, dass er von uns dachte: Diese Revolutionäre verstehen wohl, im Gefängnis zu sitzen und in die Verbannung zu gehen, aber dass ihnen diesen „Utopisten" und „Phantasten" große Arbeiterkreise folgen würden, das werde ich, alter Knochen, nie und nimmer glauben. Der Gang der Ereignisse hat den Skeptizismus des alten Führers des internationalen Opportunismus widerlegt. Die Ereignisse haben gezeigt, dass gerade wir „Phantasten", wir „Utopisten", Blut vom Blute der unterdrückten Klasse unseres Landes waren und es vermochten, in einer für die ganze Menschheit kritischen Epoche die Stimmungen und Hoffnungen von Millionen und Abermillionen Werktätiger unseres Landes zum Ausdruck zu bringen.

Einsam klang unsere Stimme zu Beginn des Krieges. Der Widerhall aus Russland drang nur spärlich in das ferne Exil. In der ersten Zeit hatte die Idee der „Vaterlandsverteidigung" auch in unserem Lande das Haupt erhoben. Die Bourgeoisie und selbst die weitblickendsten Anhänger des Zarismus förderten unsere „Vaterlandsverteidiger" auf jedwede Art. In der Führung der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei, unter den Emigranten waren sofort neue Gruppierungen zu erkennen. Plechanow ging in die Reihen der wütendsten Patrioten über. Zuerst wollten wir es kaum glauben. Ich erinnere mich, wie Genosse Lenin und ich extra nach Lausanne reisten, zum ersten Vortrag G. W. Plechanows, um uns zu überzeugen, inwiefern das Gerücht wahr sei, dass Plechanow ein Anhänger der „Vaterlandsverteidigung" in dem von Nikolai Romanow angezettelten Kriege ist. Wir trauten unseren Ohren nicht, als wir Plechanow hörten. Aber nach diesem Vortrag in Lausanne wurde uns klar: G. W. Plechanow war für den Sozialismus verloren. Und das zeigte uns wieder und wieder einmal, wie groß die Krise des Sozialismus war, die von diesem Kriege hervorgerufen wurde. Wenn Plechanow soweit kommen konnte, sagten wir uns, was Wunder, dass in Deutschland Scheidemann und Konsorten so tief gesunken sind.

Dann folgten neue Schläge. Guesde, der alte französische Arbeiterführer schlug sich zu den Agenten des französischen Imperialismus! Guesde, der so lange gegen den „sozialistischen Ministerialismus" gekämpft hatte, dieser Guesde wurde selbst Minister einer Regierung, die einen imperialistischen, räuberischen Krieg führte.

Auf Guesde folgte Kautsky! Kautsky hatte einige Jahre vor Beginn des Krieges durch seine ganze literarische Tätigkeit gezeigt, dass er von den alten Positionen des revolutionären Marxismus abrückte, für den er in den Jahren der Hochblüte seiner literarischen Tätigkeit so viel geleistet hatte. „Der Weg zur Macht", eine Broschüre, die Kautsky, wenn ich nicht irre, 1910 geschrieben hat, war der Schwanengesang Kautskys, als Theoretiker des echten revolutionären Marxismus. Seitdem rutschte Kautsky immer mehr und mehr die schiefe Ebene hinab. Er bildete die sogenannte Gruppe des „Zentrums", die bemüht war, die „mittlere Linie" zwischen dem revolutionären Marxismus und Opportunismus einzuschlagen. „Zwischen Baden und Luxemburg" – so charakterisierte in der Presse selbst Kautsky seine Haltung. Baden ist der Mittelpunkt des deutschen Opportunismus. Marx' Heimat (Trier) liegt zwischen dem Herzogtum Baden und Luxemburg. Kautsky wollte damit sagen, dass seine Haltung im gleichen Maße die „Auswüchse" des Opportunismus ablehne, wie auch die „Extreme" des linken Flügels, dessen Vertreterin in Deutschland die Genossin Rosa Luxemburg ist. Die Kriegsjahre haben deutlich gezeigt, wie unrichtig, wie grundfalsch Kautskys Versuche waren, Rosa Luxemburg und ihre Gruppe als „anarcho-syndikalistische Gruppe" hinzustellen. Die Kriegsjahre haben anschaulich gezeigt, dass gerade die Gruppe der Genossin Luxemburg die sicherste Stütze des revolutionären Marxismus in Deutschland ist und bleibt.

Der Leser wird aus dem vorliegenden Sammelband ersehen, dass wir uns in unserer literarischen Tätigkeit während der Jahre 1914/1917 besonders viel mit der Bekämpfung des „Zentrums" und insbesondere mit der literarischen Tätigkeit Kautskys befassten. Das ist auch nicht verwunderlich. Wir glauben, dass dies sich vollauf aus der Lage des internationalen Sozialismus während dieser Jahre ergibt. Schon 1912 hat Rosa Luxemburg einmal die Bemerkung fallen lassen, dass, wenn jetzt ein theoretischer Kampf mit dem Revisionismus sich verlohne, so nur mit jenem Revisionismus, der sich hinter dem marxistischen „Buchstaben" verstecke. Und die Kautskysche Auffassung ist ja nichts anderes als Revisionismus unter der Hülle „marxistischer" Phrasen. Der Schaden, den die Politik des „Zentrums" in jener kritischen Epoche der Arbeiterbewegung zufügte, war besonders groß. Von allen Seiten rief man uns zu: Was ist es denn für ein Opportunismus, was ist es für ein Verrat am Sozialismus, wenn Guesde, Kautsky und Plechanow jetzt den Prinzipien der Vaterlandsverteidigung frönen? Die Autorität der alten Vertreter der alten Internationale kam der bürgerlichen Politik entgegen, die sich die Scheidemänner in Deutschland, die Renaudels in Frankreich, die Mussolinis in Italien, die Viktor Adler und Renner in Osterreich zu Eigen machten. Es galt, die mächtigsten Gegner zu bekämpfen, es galt, diejenigen zu entlarven, die, auf ihren alten Nimbus gestützt, den Marxismus auf die schamloseste Art verzerrten und die Arbeiter in das Joch der Vaterlandsverteidigung zwangen.

Die deutsche Bourgeoisie hat in Gestalt ihrer weitblickendsten Vertreter sehr bald die unzweifelhafte Wahrheit erfasst, dass die Zimmerwalder Linke, die unter unserer tätigen Mitwirkung geschaffen wurde, den ersten Kern der aufkeimenden dritten Internationale darstellte. Es gelang uns nur wenige Publikationen in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Die Broschüre „Sozialismus und Krieg", von Lenin und mir verfasst, wurde in Deutschland illegal verbreitet. Gemeinsam mit unseren holländischen Freunden (Henriette Roland-Holst), den polnischen Sozialdemokraten und den schweizerischen Sozialisten-Internationalisten veröffentlichten wir in Zürich drei Nummern der Zeitschrift „Vorbote". Außerdem veröffentlichte das Büro der Zimmerwalder Linken, an dem die Verfasser dieses Buches aktiv beteiligt waren, einige Agitations- und Programmblätter in deutscher Sprache. Diesen wenigen literarischen Erzeugnissen haben die deutschen nationalliberalen und konservativen Professoren sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht nur in den Zeitungen und Zeitschriften der deutschen Imperialisten wurde wegen dieser literarischen Erzeugnisse viel Aufsehen gemacht, – ihnen wurden ganze Bücher der Pressevertreter des deutschen Imperialismus gewidmet. Diese Herren waren sich scheinbar dessen völlig bewusst, dass der imperialistische Krieg, der unter Beteiligung der Imperialisten der anderen Länder begonnen wurde, unvermeidlich das „rote Gespenst des Kommunismus" heraufbeschwören würde. Sie verfolgten mit Aufmerksamkeit die Diskussion im Lager des internationalen Sozialismus, und sobald sie die ersten gefährlichen Symptome wahrnahmen, schlugen sie Alarm. Es gab keine Lüge, es gab keine Verleumdung, die von der linken deutschen bürgerlichen und patriotischen Presse nicht über uns und über die Zimmerwalder Linke verbreitet worden wäre. Die Objektivität fordert jedoch zu sagen, dass auch die französische bürgerliche und patriotische Presse sich nicht um ein Jota besser benahm. Sie blies eifrig in das Horn ihrer deutschen Brüder. Es sei nur der Name Homo (Grumbach) genannt, der tagein, tagaus auf den Seiten der Humanité (des damaligen Zentralorgans der französischen „Sozialisten“-Opportunisten) log und die Zimmerwalder Linke verleumdete, mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig gewesen wäre.

Aber nach und nach wandten sich der Zimmerwalder Linken die Sympathien der Sozialisten-Internationalisten aller Länder zu. Auf der ersten Konferenz in Zimmerwald waren solche Führer wie Genosse Rakowski und sogar die Genossin Roland-Holst gegen uns. Die italienischen Internationalisten, die in Zimmerwald durch Genossen Serrati vertreten waren, machten auf dieser ersten Zimmerwalder Konferenz ebenfalls gewisse Einwände gegen uns. Von den deutschen Sozialisten-Internationalisten schloss sich uns nur ein Delegierter sofort an, die anderen kamen uns erst allmählich näher. P. Axelrod, L. Martow und andere bekannte Menschewiki, die damals im Auslande lebten, nutzten ihre langjährigen Verbindungen aus, um die Zimmerwalder Linke unter den Sozialisten der anderen Länder zu diskreditieren. Durch tendenziöse Informationen aus Russland brachten sie es zu Wege, dass viele der gemäßigten Sozialisten-Internationalisten Westeuropas lange Zeit hindurch dem Märchen Glauben schenkten, in Russland folge die Mehrzahl der Arbeiter nicht den Internationalisten, sondern bestenfalls den Politikern des „Zentrums". Erst die Ereignisse 1917/18 haben, wie wir hoffen, unseren Genossen endgültig gezeigt, wem die russischen Arbeiter in Wahrheit Gefolgschaft leisteten.

Die Überleitung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg – das war die Losung, die wir gleich zu Beginn des Krieges aufgestellt hatten. Die Vertreter des alten Sozialismus wollten von dieser Losung nichts wissen. Wir erinnern uns noch lebhaft, wie Robert Grimm sich weigerte, die erste Kriegsdeklaration unseres Zentralkomitees zu veröffentlichen und darauf pochte, dass jetzt von einer Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg reden – „Anarchismus" sei. Es galt gegen den Strom anzukämpfen, es galt, unter wahrhaft schwierigen Umständen die erste Furche zu bahnen.

Wir hatten die größte moralische Genugtuung, als während der ersten Zimmerwalder Konferenz ein Brief von Karl Liebknecht einlief, der mit den Worten schloss: „Nicht Burgfrieden, Bürgerkrieg ist unsere Parole". Freilich war Liebknecht in Deutschland dafür als „Anarchist" verschrien. Aber für uns war schon damals klar, dass alle ehrlichen und selbstlosen Elemente in der deutschen Arbeiterklasse Liebknecht folgen würden und nicht denjenigen, die ihn zum Anarchisten stempelten.

Die Berichte, die wir in den ersten zwei Kriegsjahren aus Russland erhielten, waren sehr spärlich. Die illegalen Zeitungen, die in Petrograd und Moskau erschienen, konnten wir nur mit größter Mühe beschaffen; die Unterredungen mit den Parteigenossen, die damals in Russland wirkten, wurden immer mehr erschwert; sogar die einfache Korrespondenz und Drucksachen brauchten Monate, um aus Russland zu uns zu gelangen. Für uns stand natürlich von Anfang an fest, dass der Krieg den Untergang des Zarismus in Russland bedeute; aber erst Ende 1915 erreichten uns die ersten Nachrichten aus Russland, die zeigten, dass die revolutionäre Krise mit großer Geschwindigkeit vorwärts schreite. Im Oktober 1915 wurden die Umrisse der nahenden russischen Revolution zum ersten Mal mehr oder weniger deutlich. Der Leser möge den Aufsatz: „Einige Thesen" auf Seite 291 dieses Buches beachten. Hier werfen wir zum ersten Mal die Frage auf, was unsere Partei tun würde, wenn sie durch die Revolution noch während des Krieges ans Ruder gelangte. Viele hielten selbst die Perspektive, dass unsere Partei während des Krieges an die Macht gelangen könnte, für höchst unwahrscheinlich. In Westeuropa hatten unsere politischen Gegner für diese Fragestellung nur ein Lächeln übrig, so unwahrscheinlich erschien ihnen der Sieg der Arbeiterklasse und unserer Partei im Kriege. Die Ereignisse haben nicht die Skeptiker und Ungläubigen gerechtfertigt, die Ereignisse haben uns recht gegeben.

In den genannten Thesen beantworten wir die Frage, was die Partei des Proletariats tun würde, wenn sie im jetzigen Kriege durch die Revolution ans Ruder gelangte, folgendermaßen: Wir würden allen Kriegsführenden den Frieden anbieten, unter der Bedingung der Befreiung der Kolonien und aller unterdrückten, abhängigen und entrechteten Völker. Weder Deutschland, noch England oder Frankreich würden bei ihrer jetzigen Regierung diese Bedingungen annehmen. Dann müssten wir den revolutionären Krieg vorbereiten und führen, d. h. wir würden nicht nur unser ganzes Programm-Minimum aufs entschiedenste durchführen, sondern hätten auch systematisch alle von den Großrussen momentan unterdrückten Völker, alle Kolonien und abhängigen Länder Asiens (Indien, China, Persien usw.) aufgerüttelt und in erster Linie das sozialistische Proletariat gegen seine Regierungen und Sozialpatrioten aufgewiegelt. Der Leser möge besonders die Worte „den revolutionären Krieg vorbereiten und führen" beachten. Ich erinnere mich lebhaft an die Diskussion in unserer kleinen Redaktion (Redakteure des „Sozialdemokrat" waren damals Lenin und Sinowjew) wegen dieser Worte. Dass die Perspektive eines revolutionären Krieges zur Realität würde, war für uns beide unanfechtbar. Aber, sprach ich damals zu Genossen Lenin, was dann, wenn unsere Partei ans Ruder gelangen würde in einem Moment, wenn der revolutionäre Krieg über die Kraft der Arbeiterklasse unseres Landes geht, wenn unsere Regierung ein schlimmes Erbe vom alten Regime übernehmen muss, wenn die materiellen Kräfte für eine sofortige Führung des revolutionären Krieges fehlen, wenn die Armee so zermürbt, wenn die Transportschwierigkeiten und der sonstige Ruin so groß sein werden, dass von einem sofortigen revolutionären Kriege nicht die Rede wird sein können? Und auf Grund dieser Diskussion einigten wir uns, dass wir nicht einfach sagten: „Wir werden den revolutionären Krieg führen", sondern: „Wir werden den revolutionären Krieg vorbereiten und führen". Und für uns war natürlich klar, dass diese Vorbereitung eine gewisse Zeit beanspruchen würde.

Es kam genau so, wie wir erwartet hatten. Es sind die schlimmsten Erwartungen eingetroffen. Das Erbe, das wir vom Zarismus und der achtmonatelangen Wirtschaft der Bourgeoisie und der Kompromissler übernommen haben, erwies sich als so furchtbar, dass die Führung eines revolutionären Krieges unmöglich war. Es mussten die schweren Friedensbedingungen angenommen werden, die uns der deutsche Imperialismus diktierte. Es musste dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Kräfteverhältnis der Welt im gegebenen Moment zu unseren Ungunsten war. Doch der revolutionäre Krieg kommt dennoch, die Umrisse der kommenden Periode neuer Kriege und neuer Revolutionen werden immer deutlicher. Zweifelsohne wird unsere Generation der Sozialisten diese Etappe durchmachen müssen, und ebenso unzweifelhaft ist es, dass der Sozialismus in diesem Kampf siegen wird. Die Perspektive des revolutionären Krieges war von uns in richtiger Einsicht schon im Oktober 1915 vorausgesehen, und diese Perspektive bleibt auch jetzt noch richtig. Doch dies bedeutet nicht, dass wir in jedem beliebigen Moment den revolutionären Krieg beginnen können. Insofern die Wahl des Moments von uns abhängt, sind wir verpflichtet, im Interesse des Sozialismus den Beginn jenes revolutionären Krieges hinauszuschieben, der unvermeidlich ist, der kommt und kommen wird.

Wir schreiben diese Zeilen Ende März 1918. Seit einem Monat gehen wir wieder – gegen den Strom. Es ist ein offenes Geheimnis, dass vor einem Monat in den Reihen unserer Partei und in den Reihen der Sowjetdemokratie überhaupt fast die Majorität gegen die Unterzeichnung des Brester Friedensvertrages war. Und wir werden kaum fehlgehen, wenn wir sagen, dass jetzt, nach Verlauf von einigen Wochen, die überwiegende Majorität unserer Genossen denjenigen von uns Recht geben muss, die von Anfang an darauf beharrten, dass der Kelch bis zur Neige geleert, und dass der Friede unter den gegenwärtigen Verhältnissen unterzeichnet werde. Wir stehen jetzt vor einer neuen Gefahr. Es besteht die Gefahr, dass einige Genossen in das andere Extrem verfallen; es besteht die Gefahr, dass die berühmte ..Atempause" allzu „weitherzig" ausgelegt werden könnte. Wir haben weder vor uns, noch vor den anderen verheimlicht, dass der revolutionäre Krieg unvermeidlich ist. Die Schaffung einer neuen Armee ist unserer Meinung nach in diesem Moment die wichtigste Aufgabe. Wir werden nicht aufhören, Alarm zu schlagen; wir werden nicht müde werden, jeden Anhänger der Sowjetregierung zu ermahnen, dass neue Kriege in Anmarsch sind, dass neue Kriege unvermeidlich sind, dass wir unsere Revolution nur retten können, wenn wir in Russland eine starke revolutionäre Armee schaffen …

Die Lage der Internationale erinnert jetzt, wo wir diese Zeilen niederschreiben, äußerlich schier an die schlimmsten Tage von 1914. Zu Beginn des Krieges schien es vielen Ungläubigen, dass die Internationale für immer verloren sei. Momentan ist hie und da das Wiedererwachen solcher trostlosen und niedergedrückten Stimmungen wahrzunehmen. Die Arbeiterklasse Deutschlands ist uns nicht rechtzeitig zu Hilfe gekommen. Die Arbeiter Frankreichs und Deutschlands gestatten dem deutschen und französischen Imperialismus widerspruchslos, das Gemetzel fortzusetzen. Gerade in dem Moment, in dem wir diese Zeilen niederschreiben, bringt der Telegraph die Meldung von den ungeheuerlichen Metzeleien an der deutsch-französischen Front. Wenige Kilometer von Paris finden wieder harte Kämpfe statt. Die Blüte der Arbeiterklasse geht zugrunde, Zehntausende französischer und deutscher Arbeiter werden den räuberischen Plänen der Herren Clemenceau und Hindenburg zum Opfer gebracht. Die revolutionäre Bewegung in Deutschland scheint unterdrückt zu sein. In Frankreich herrscht äußerlich Friedhofsruhe. Kein zorniger Protest ist zu vernehmen, kein Anzeichen des Aufstandes zu erblicken. Die Lage ist derart, dass die Liquidierung des imperialistischen Krieges, der die Menschheit zermartert hat, gewissermaßen ganz in den Händen der bürgerlichen Regierungen Deutschlands, Englands und Amerikas liegt. Und viele der Glaubensschwachen meinen, dass die Arbeiter der entscheidenden Länder bis zuletzt wortlos verharren werden. Viele der sogenannten „nüchternen" Menschen glauben, dass die Internationale für viele und viele Jahre zu Ende sei. Wir sind fest vom Gegenteil überzeugt. Die internationale Revolution des Proletariats kommt und wird kommen. Die überwiegende Majorität der sogenannten Sozialisten und Vertreter des alten amtlichen offiziellen Sozialismus hat die Sache der Arbeiterklasse verraten. Es hat mitunter den Anschein, als ob nur einzelne Personen, wie Karl Liebknecht, Friedrich Adler, MacLean u. a. dem sozialistischen Banner die Treue bewahrt hätten. Wir sagen: Je finsterer die Nacht, umso heller leuchten die Sterne. Je schwärzer der Verrat der offiziellen Sozialisten ist, umso heller leuchten uns die Namen jener Einzelpersonen, die als erste ihre Stimme des Protestes gegen die unerhörte Erniedrigung des sozialistischen Banners erhoben haben. Aber wir glauben zugleich auch, dass gerade diesen Einzelpersonen die Herzen der Millionen Proletarier in Deutschland, in Frankreich, in Italien und sogar in England und Amerika gehören. „Gegen den Strom", bleibt auch jetzt unsere Devise. „Gegen den Strom" des Opportunismus, der Landesverteidigung und zugleich gegen den Strom der Verzagtheit und der Skepsis soll in unseren schweren Tagen gekämpft werden. Wir nehmen jetzt hier in Petrograd eine der gefährlichsten und verantwortlichsten Positionen ein. Der Hauptsitz der Russischen Republik ist offiziell nach Moskau übertragen, aber das Petrograder Proletariat bleibt dennoch die Avantgarde der internationalen Revolution. Und wir sind überzeugt, dass die Herzen der ehrlichen Proletarier aller Länder für die der Petrograder Arbeiter schlagen. Mag sich jetzt die Bourgeoisie freuen. Mag jetzt auch die sozialpatriotische Strömung die Arbeiterbewegung aller Länder überschwemmen – wir verkünden, im Glauben an die internationale Arbeiterklasse: „Freunde, rudert gegen den Strom!" Und wir sind überzeugt: Kommen wird der Augenblick, da die internationale Revolution zur Tatsache werden wird.

Schon hatte unsere Revolution 1905/6 Millionen und Abermillionen Menschen im Osten geweckt. Man erinnere sich bloß an die Türkei, an Persien, man erinnere sich an die Bewegung der österreichischen Arbeiter 1905/6. Aber unsere Revolution 1905 war ein Kinderspiel im Vergleich mit der Revolution 1917/18. Es gibt keine Macht in der Welt, die imstande wäre, die internationalen Folgen unserer Revolution aufzuheben. Die sozialistische Revolution in Finnland, die als Widerhall unserer Bewegung aufgeflackert ist, bildet entschieden das Vorbild dessen, was wir morgen oder übermorgen in den anderen Ländern erblicken werden. Sollte es auch dem deutschen Imperialismus morgen gelingen, das sozialistische Finnland zu erdrosseln, so wird er übermorgen selbst erdrosselt werden.

Komme, was kommen mag, – auch wir werden noch frohe Tage erleben …

28. März 1918

G. Sinowjew.

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