Der Dezember

Der Dezember

Am 17. Dezember tritt der Moskauer Arbeiterdelegiertenrat dem „Finanzmanifeste" bei und am 19., unter dem unmittelbaren Einflusse bedeutender Unruhen innerhalb der Moskauer Garnison, fasst der Rat, der in jenen Tagen etwa 100.000 Arbeiter unter seiner Ägide vereinigte, zusammen mit den revolutionären Parteileitungen den Beschluss, für den nächsten Tag, den 20. Dezember, den allgemeinen Streik zu proklamieren, der bei entsprechenden Bedingungen in den allgemeinen Aufstand übergeleitet werden sollte. Die Konferenz der Delegierten von 29 Eisenbahnlinien, die den 18. und 19. in Moskau tagte, entschied, der Resolution des Rats beizutreten. Den gleichen Entschluss nahm auch der Post- und Telegraphenbeamtenverband an.

In Petersburg setzte der Streik am 21. ein, erreichte am folgenden Tage seinen Höhepunkt und begann bereits am 25. abzuflauen: er verlief bei weitem weniger kampfesfreudig als sein Vorgänger im November, und ergriff nicht mehr als zwei Drittel der Arbeiterschaft. Die Unentschlossenheit Petersburgs hat darin ihren Grund, dass gerade dort die Arbeiter klarer, als anderswo sonst einsahen, wie sehr es sich diesmal nicht um eine bloße Streikmanifestation sondern um den letzten schonungslosen Kampf handle. Der 22. Januar hatte sich für immer unauslöschlich dem Bewusstsein der Massen eingeprägt. Angesicht zu Angesicht mit einer furchtbaren Garnison, deren Kern von den Garderegimentern gebildet wird, sind die Petersburger Arbeiter außerstande, die Initiative eines revolutionären Ausstandes auf sich zu nehmen; ihre Mission wie das der Oktoberstreik gezeigt hat – besteht nur darin, dem Absolutismus, wenn er von dem Aufstande in dem ganzen übrigen Reiche bereits erschüttert ist, den letzten Stoß zu versetzen. Nur ein bedeutender Sieg in der Provinz hätte in Petersburg die psychologische Möglichkeit zu entschiedenen Taten schaffen können. Ein solcher Sieg war aber nicht gewonnen – und die Unschlüssigkeit lief in den Rückzug aus. Neben der Passivität Petersburgs war ferner von verhängnisvollem Einfluss auf die weitere Entwicklung der Dinge jene Tatsache, dass auf der Nikolaus-Eisenbahn (Petersburg-Moskau) der Verkehr aufrecht erhalten blieb. Das Petersburger Komitee des Eisenbahnerverbandes war nämlich mit von der allgemeinen abwartenden Stimmung, die in Petersburg herrschte, ergriffen und so in seiner Entschlussfähigkeit gelähmt. Die Regierung aber, deren ganzes Augenmerk auf die Nikolausbahn, diese so wichtige Verkehrsader, gerichtet war, machte sich dieses Zaudern zunutze und besetzte militärisch die Linie. Ein Teil der Arbeiter in den Werkstätten stellte die Arbeit ein, doch der Telegraphendienst wurde von höheren Beamten und der Betrieb von dem Eisenbahnbataillon weiter besorgt. Versuche, den Betrieb zu unterbrechen, würden mehr als einmal unternommen, indes jedes Mal erfolglos. Am 29. Dezember würde von Arbeitern aus Twer ein Teil des Gleises zerstört, wodurch die Truppentransporte von Petersburg nach Moskau verhindert werden sollten. Es war aber zu spät: das Semenowsche Garderegiment hatte die Strecke bereits passiert.

Im Allgemeinen aber würde der Eisenbahnbeamtenstreik mit sehr großer Verve eröffnet. Bis zum 23. trat die Mehrzahl des Personals der Linien in den Ausstand; die Übrigen schlossen sich in den nächsten Tagen an. Beim Eintritt in den Streik erklärte die Konferenz des Eisenbahnerverbandes; „Wir nehmen es auf uns, die Truppen aus der Mandschurei viel rascher nach Russland zurück zu befördern, als es die Regierung je vermöchte. … Wir werden alle Maßnahmen treffen, um den hungernden Bauern Brot und den Kameraden auf der Linie Proviant zuzustellen''. Nicht das erste Mal ist es, dass wir hier auf eine jener Erscheinungen stoßen, in deren Sinn diejenigen Anarchisten, die sich die Fähigkeit, zu denken, noch erhalten haben, tiefer eindringen sollten: indem er die staatliche Gewalt paralysiert, verpflichtet der allgemeine Streik seine eigene Organisation zu überaus verantwortungsvollen staatlichen Funktionen. Und es muss anerkannt werden, dass der Eisenbahnerverband im großen Ganzen seiner Aufgabe vortrefflich gerecht wurde. Die Züge mit den Reservisten, Druschinniki und Mitgliedern der revolutionären Organisationen wurden mit bewunderungswürdiger Regelmäßigkeit und Schnelligkeit befördert, trotzdem an zahlreichen Stellen die Regierungstruppen ganz in der Nähe waren. Viele Stationen wurden von gewählten Kommandanten geleitet. Über den Eisenbahngebäuden wehten die roten Fahnen.

Von den Städten trat als erste Moskau in den Ausstand (am 20. Dezember). Am nächsten Tage schlossen sich an: Petersburg, Minsk und Taganrog; es folgten dann von den größten Zentren: am 23. Tiflis, am 24. Wilna, am 25. Kiew, Charkow, Nischni-Nowgorod, am 26. Odessa, Riga, am 27. Beschreibung Łódź, am 28. Warschau. Insgesamt waren 33 Städte, gegen 39 im Oktober, ausständig.

Im Mittelpunkte des Dezemberkampfes steht Moskau.

Schon Mitte Dezember machte sich in einigen Regimentern der Moskauer Garnison eine starke Gärung bemerkbar. Trotz den größten Anstrengungen der Sozialdemokratie, einzelnen Ausbrüchen vorzubeugen, ließen sich die Wogen der Unzufriedenheit nicht mehr zurück dämmen Unter der Arbeiterschaft wurden Stimmen laut: „Wir müssen die Soldaten unterstützen, der Moment darf nicht versäumt werden." Die Soldaten, die vor den Fabriken Wache hielten, unterlagen völlig dem Einfluss der Arbeiter. „Sobald Ihr Euch erhebt, erheben wir uns und öffnen die Arsenale", versprachen viele von ihnen. In den Meetings traten nicht selten Soldaten und Offiziere als Redner auf. Am 17. Dezember wurde der Soldatendelegiertenrat gebildet, der eine Vertreterschaft in den Arbeiterrat entsandte. Aus den anderen Städten trafen vage, aber hartnäckige Gerüchte ein, dass die Armee zu dem Volke übergegangen sei. Dies war die Atmosphäre, in der der Moskauer Streik zur Proklamierung gelangte.

Am ersten Tage traten etwa 100.000 Mann in den Ausstand. Auf einem der Bahnhöfe wurden zwei Lokomotivführer getötet, die eigenmächtig mit ihren Zügen abgefahren waren. In diversen Teilen der Stadt kommt es zu kleineren Zusammenstößen. Ein Häuflein Druschinniki räumt eine Waffenhandlung aus. Mit diesem Tage verschwinden von dem Moskauer Straßenbild die gewöhnlichen Polizistenposten. Die Schutzleute erscheinen nunmehr fast nur in Gruppen. Am zweiten Tage steigt die Zahl der Streikenden auf etwa 150.000 an; der Streik in Moskau nimmt einen allgemeinen Charakter an und greift auf die vor der Stadt liegenden Fabriken über. Überall werden grandiose Meetings abgehalten. Auf der Station, wo die Züge aus dem fernen Osten haltmachten, entwaffnete die Menge die aus der Mandschurei heimkehrenden Offiziere. Aus einem der Züge holten die Arbeiter viele Pude Patronen heraus. Ein anderes Mal fiel ihnen ein ganzer Waggon voll Waffen in die Hände.

Am 21. Dezember, dem zweiten Streiktage, gibt das Exekutivkomitee kund: „Beim Erscheinen der Truppen bemühe man sich, mit den Soldaten Gespräche anzuknüpfen und mit kameradschaftlicher Rede auf sie einzuwirken.. Offene Zusammenstöße vermeide man vorläufig und leiste nur dann bewaffneten Widerstand, wenn die Haltung der Soldaten ganz besonders provozierend ist." Dass das entscheidende Wort die Armee sprechen werde, darüber bestand bei niemandem ein Zweifel. Das geringste günstige Gerücht über die Stimmung der Garnison fliegt von Mund zu Mund. Gleichzeitig führt die revolutionäre Menge einen unaufhörlichen Kampf mit den Moskauer Behörden um den Besitz der Armee.

Bei der Kunde, dass Infanteriesoldaten unter den Klängen der Marseillaise demonstrierend durch die Straßen ziehen, senden ihnen die Druckereiarbeiter eine Deputation entgegen. Zu spät. Die Militärbehörden lassen die erregten Soldaten von Kosaken und Dragonern umringen und in die Kaserne zurückführen wo ihnen Zugeständnisse gemacht werden. … An demselben Tage erhielten 500 Kosaken, denen man einen Polizeibeamten zum Anführer gab, den Befehl, auf die Demonstranten zu feuern. Die Kosaken aber leisteten keinen Gehorsam, traten mit der Menge ins Gespräch, wandten dann auf Kommando eines der Unteroffiziere die Pferde und ritten langsam davon. Die Menge gab ihnen unter lauten Begrüßungsrufen das Geleite.

Ein anderes Mal stößt eine zehntausendköpfige Arbeiterdemonstration uns eine Kosakenabteilung. Allgemeine Verwirrung. Zwei Arbeiterinnen mit roten Fahnen in den Händen sondern sich von der Menge ab und werfen sich den Kosaken entgegen. „Schießt auf uns", schreien sie, „lebend geben wir die Fahne nicht her." Die Kosaken sind bestürzt und wissen nicht, was sie tun sollen. Ein entscheidender Moment. Die Menge, der das Schwanken der Feinde nicht entgeht, drängt nun stürmisch vor: „Kosaken, wir kommen Euch mit leeren Händen entgegen, – werdet Ihr denn wirklich aus uns schießen?" – „Wenn Ihr nicht schießt, so schießen wir auch nicht*. lautet die Antwort. Der außer Fassung gebrachte Offizier bricht in einen wütenden Fluch aus. Seine Stimme geht aber in den empörten Rufen der Menge unter. Irgend jemand hält eine kurze Ansprache Die Menge begleitet sie mit jubelnden Zurufen. Noch ein Augenblick – und die Kosaken wenden ihre Pferde und reiten, die Karabiner über den Rücken geworfen, davon.

Nach der militärischen Belagerung eines der Volksmeetings, die mit der Misshandlung der wehrlosen Menge endete, wird die Stimmung in der Stadt nervöser. Das Publikum staut sich in immer größeren Massen auf den öffentlichen Plätzen und in den Straßen. Die verschiedenartigsten Gerüchte entstehen und vergehen in derselben Stunde. Auf allen Gesichtern ruht der Stempel fröhlicher Erregung, mit Unruhe gemischt. … „Viele meinen", schreibt Gorki, der damals in Moskau weilte, „dass es die Revolutionäre gewesen sind, die mit dem Barrikadenbau begonnen haben; das ist natürlich sehr schmeichelhaft, aber nicht ganz der Wahrheit entsprechend, – die Barrikaden begann nämlich gerade der obywatel (der simple Einwohner) zu bauen, ein Mann, der außerhalb jeder Partei steht, und darin liegt das Salz des Ereignisses. Die ersten Barrikaden in der Twerskaja wurden unter heiterem Lachen und Scherzen gebaut, und an diesem heiteren Werke nahm das buntscheckigste Publikum teil, von dem soliden Barin1 im kostbaren Pelz angefangen bis zur Köchin und dem Dwornik, der noch gestern zu den Stützen der „festen Macht" gehörte. … Die Dragoner gaben eine Salve auf die Barrikaden ab – ein paar Verwundete, zwei oder drei Tote –, ein Schrei der Empörung, ein einmütiger Ruf nach Rache, und alles änderte sich mit einem Schlage. … Nach der Salve begann der obywatel, die Barrikaden nicht mehr im Scherze zu bauen, sondern im bitteren Ernst, geleitet von dem Wunsch, sein Leben vor Herrn Dubassow und seinen Dragonern zu schützen."

Die Druschinniki, das heißt die nach militärischem Muster organisierten Schützen der revolutionären Organisationen, werden aktiver. Sie entwaffnen systematisch die ihnen begegnenden Polizistenpatrouillen. Hier beginnt man zum ersten mal die Forderung, „Hände hoch!" zu praktizieren, die den Zweck hat, die Angreifenden sicherzustellen. Wer sich nicht fügt, wird niedergeschossen. Die Soldaten lässt man in Ruhe, um sie nicht zu reizen. In einem der Meetings wird sogar folgender Beschluss gefasst: Wer ohne Kommando des Druschina-Anführers schießt, soll hingerichtet werden. Vor den Toren der Fabriken und Industriewerke wird von den Arbeitern eine lebhafte Agitation unter den Soldaten betrieben.

Aber schon am dritten Streiktage beginnen blutige Zusammenstöße mit den Truppen. An der einen Stelle treiben die Dragoner ein Abendmeeting auseinander; infolge des Streiks ist der Platz, auf dem das Meeting stattfindet, in vollste Finsternis gehüllt. „Brüder, tut uns nichts, wir gehören zu Euch!" Die Soldaten reiten vorüber. Nach Verlauf einer Viertelstunde aber kehren sie verstärkt zurück und attackieren die Menge. Finsternis, Panik, wilde Verwünschungen. Ein Teil der Menge sucht Rettung in einem Tramwaypavillon. Die Dragoner fordern Ergebung. Die Eingeschlossenen weigern sich, und es ertönen mehrere Salven. Das Ergebnis, ein Schüler getötet, mehrere Personen verwundet. Von Gewissensbissen oder auch von Furcht vor Rache getrieben, sprengen die Dragoner davon. „Mörder!" Die Menge umringt die ersten Opfer, die Fäuste ballen sich in wütendem Zorn. „Mörder!" Noch ein Augenblick, und der blutbespritzte Pavillon steht in Flammen. „Mörder!" Die Menge muss ihren Gefühlen Luft machen. Inmitten der Finsternis und der Gefahren stürmt sie blindlings vorwärts, stolpert über Hindernisse … Von neuem fallen Schüsse „Mörder!" Die Menge errichtet Barrikaden. Das Handwerk ist für sie neu und sie arbeitet daher ungeschickt und ohne System. … Dicht nebenan, in tiefster Finsternis, singt eine Gruppe von 30 bis 40 Personen im Chor das revolutionäre Totenlied „Ihr seid als Opfer gefallen." … Neue Salven, neue Tote und Verwundete. Die benachbarten Höfe verwandeln sich in fliegende Lazarette, an den Toren halten die Hausbewohner Wache und leisten Samariterdienste. …

Vor der Eröffnung der kriegerischen Handlungen ließ die sozialdemokratische Kampforganisation in der Stadt einen Aufruf affichieren, in dem sie den Aufständischen die nötigen technischen Anweisungen erteilte:

1. Die erste Regel ist, handelt nicht in Massen! Handelt in kleinen Gruppen von 3 bis 4 Personen, nicht darüber hinaus. Wenn nur diese Gruppen recht zahlreich sind und jede von ihnen es sich angelegen sein lässt, rasch anzugreifen und ebenso rasch zu verschwinden. Die Polizei sucht, mit einer Sotnie (hundert) Kosaken tausendköpfige Mengen zu füsilieren. Ihr aber stellt den Kosaken nur 1 bis 2 Schützen entgegen, – eine Sotnie lässt sich leichter treffen, wie ein einzelner Mann, besonders wenn dieser unerwartet feuert und unbekannt wohin verschwindet.

2. Ferner, Genossen, nehmt keine befestigten Positionen ein. Schließlich wird sich das Militär ihrer dennoch bemächtigen oder sie einfach mit Kartätschen fortfegen. Unsere Festungen seien die durchgehenden Höfe und alle jene Orte, woher man leicht schießen und wieder verschwinden kann. Wird ein solcher Ort auch eingenommen, so findet man dort niemand vor, verliert aber sehr viel."

Die Taktik der Revolutionäre ergab sich ohne weiteres aus der ganzen Lage der Dinge. Hingegen konnte man auf Seiten des Militärs im Laufe der ersten 5 Tage die völlige Unfähigkeit beobachten, sich der Taktik des Gegners anzupassen, und die Verlegenheit und Ratlosigkeit der Truppen wurde nur noch durch ihre Brutalität und Schonungslosigkeit übertroffen.

Im Folgenden das Bild eines der ersten Gefechte. Durch die Straße zieht eine georgische Druschina, eine der verwegensten. Die 24 Mann schreiten ganz offen in Paaren einher. Die Menge warnt sie, dass 16 Dragoner unter Anführung eines Offiziers im Anzuge seien. Die Druschinniki ordnen sich und schlagen ihre Mausergewehre an. Kaum wird die Patrouille sichtbar, als sie auch schon von einer Salve in Empfang genommen wird. Der Offizier ist verwundet, die vordersten Pferde bäumen sich getroffen, die Reihen geraten in Verwirrung, so dass die Soldaten von ihren Karabinern keinen Gebrauch machen können. Inzwischen geben die Druschinniki an die hundert Schüsse ab und schlagen die Soldaten, die mehrere Tote und Verwundete am Platze zurücklassen, in regelrechte Flucht. „Jetzt aber fort", mahnt die Menge, „gleich kommt ein Geschütz." Und in der Tat erscheint bald darauf Artillerie auf der Bildfläche. Sofort nach der ersten Salve fallen zahlreiche Tote und Verwundete aus der wehrlosen Menge, die keineswegs erwartet hat, dass man auf sie schießen werde. Zu derselben Zeit sind aber die Georgier längst über alle Berge und machen an einer neuen Stelle dem Militär hart zu schaffen. … Der Druschina ist nicht beizukommen, weil sie der dichte Panzer der allgemeinen Sympathie unverwundbar macht.

Noch eins aus der großen Zahl der Beispiele. Eine Druschina aus 13 Personen, die sich in einem Hause festsetzte, widerstand 4 Stunden lang der Beschießung durch 500 bis 600 Soldaten, die über 3 Geschütze und 2 Maschinengewehre verfügten. Nachdem sie alle Patronen verschossen und den Truppen große Verluste beigebracht hatten, entfernten sich die Druschinniki, ohne dass ein einziger von ihnen verwundet worden wäre. Die Soldaten aber zerstörten durch das Geschützfeuer die halbe Straße, steckten einige hölzerne Häuser in Brand, brachten nicht wenig vor Schrecken halb wahnsinnig gewordene Einwohner um – und das alles, um ein Dutzend Revolutionäre zum Rückzug zu zwingen.

Von den Barrikaden aus wurde kein Widerstand geleistet. Sie dienten nur dazu, den Vormarsch der Soldaten, insbesondere aber der Dragoner, aufzuhalten. Innerhalb des Barrikadenrayons waren sämtliche Häuser für das Artilleriefeuer unerreichbar. Erst wenn die ganze Straße beschossen war, „stürmten" die Truppen die Barrikaden, um sich zu überzeugen, dass niemand dahinter war. Kaum jedoch waren die Soldaten außer Sehweite, als auch schon die Barrikaden von Neuem aus dem Boden schossen.

Die systematische Beschießung der Stadt durch die Dubassowsche Artillerie beginnt mit dem 23. Dezember. Die Kanonen und die Maschinengewehre funktionieren unermüdlich in den Straßen. Die Opfer fallen nicht mehr vereinzelt, sondern zu Dutzenden. Die fassungslosen, wütenden Mengen flüchten von Ort zu Ort, ohne an die Wirklichkeit des Geschehenden glauben zu können: also, die Soldaten schießen und dies nicht auf einzelne Revolutionäre, sondern auf einen geheimnisvollen Feind, der sich Moskau nennt – auf seine Häuser, wo Greise und Kinder wohnen, auf das wehrlose Straßenpublikum. … „Mörder und Feiglinge! So stellen sie ihren mandschurischen Ruhm wieder her!"

Nach den ersten Kanonenschüssen nimmt der Barrikadenbau einen fieberhaften Charakter an. Der Schwung ist jetzt viel größer, die Griffe werden kühner. Man zertrümmert einen großen Fruchtpavillon, die Bude eines Zeitungsverkäufers, reißt Ladenschilder zu Boden, zerbricht gusseiserne Häusergitter, holt die Leitungsdrähte der elektrischen Trambahn herab. „Entgegen der Anordnung der Polizei, die Tore der Häuser geschlossen zu halten", beklagen sich die auswärtigen reaktionären Blätter, „sind dieselben überhaupt aus den Angeln herausgehoben und zum Barrikadenbau verwandt'" Am 24. Dezember ist die gesamte Stadt in ihren Hauptpunkten mit einem dichten Netz von Barrikaden überdeckt. Ganze Straßenzüge sind durch ausgespannte Drahthindernisse unpassierbar gemacht.

Dubassow macht bekannt, dass jede Menge „aus mehr als drei Personen" beschossen werden wird. Aber die Dragoner verschonen selbst einzelne Passanten nicht. Die durchsuchten Personen werden, sofern man bei ihnen keine Waffen gefunden hat, entlassen und bekommen dann hinterher eine Kugel in den Rücken. Man feuert auf arme Gaffer, die vor dem Dubassowsche Anschlag lesend stehen bleiben. Es braucht nur aus einem Fenster ein einsamer Schuss zu fallen – wie oft rührten solche Schüsse unzweifelhaft von Provokateuren her! – und sofort richten sich die Kanonenmündungen auf das betreffende Haus. Blutlachen und mit Haaren vermischte Gehirnteile, die an den Ladenschildern kleben, bezeichnen den Weg, den das Schrapnell genommen hat. An zahlreichen Stellen sieht man Hausmauern mit klaffenden Schussöffnungen. Vor einem der demolierten Häuser – entsetzliche Reklame des Aufstandes! – ein Stück Menschenfleisch auf einem Teller und darüber die Worte: „Opfert für die Verunglückten!"

Im Laufe von 2-3 Tagen hatte sich in der Stimmung der Moskauer Garnison eine Wandlung zuungunsten der Aufständischen vollzogen. Sofort mit dem Beginne der Unruhen in den Kasernen trafen die Militärbehörden eine ganze Reihe von Vorsichtsmaßregeln: sie entließen die Reservisten, Freiwilligen und alle, die als unzuverlässig galten; den übrigen begann man bessere Verpflegung zu geben. Um des Aufstandes Herr zu werden, rückte man vorerst nur die zuverlässigeren Truppenteile ins Gefecht. Die zweifelhaften Regimenter aus deren Mitte man die besten Elemente entfernte, wurden in den Kasernen zurückgehalten. Von diesen Regimentern machte Dubassow erst in zweiter Linie Gebrauch. Im Anfang gingen sie nur ungern und mit großer Unsicherheit in den Kampf; später aber, unter dem Einflusse einer blinden Kugel, der Agitation eines Offiziers und auch infolge des Hungers und der Müdigkeit gelangten sie zu furchtbarer Rohheit und Grausamkeit. Dubassow steigerte noch die Wirkung aller dieser Faktoren durch den aus Kronskosten reichlich gespendeten Alkohol. Die Dragoner befanden sich die ganze Zeit über in halb trunkenem Zustande.

Die Guerillaüberfälle aber erbittern nicht nur die Soldaten, sondern machen sie auch müde und überdrüssig; die allgemeine Feindseligkeit der Bevölkerung versetzt sie in trostlose Stimmung. Der 26. und der 27. Dezember waren kritische Tage. Todesmatt, wie die Soldaten waren, murrten sie laut und weigerten sich gegen einen Feind zu ziehen, den sie nicht zu Gesicht bekamen und dessen Kräfte ihnen unermesslich schienen. In diesen Tagen waren einige Fälle von Selbstmord unter den Offizieren zu verzeichnen.

Dubassow meldete nach Petersburg, dass von den 15.000 Mann der Moskauer Garnison nur 5000 für das „Werk" verwendet werden konnten, weil auf den Rest kein Verlass sei – und bat um Verstärkungen. Man gab ihm zur Antwort, ein Teil der Petersburger Garnison sei nach den Ostseeprovinzen abgegangen, ein Teil sei unzuverlässig, und was noch übrigbleibe, könne man selbst an Ort und Stelle nicht entbehren. Dank den aus dem Generalstab entwendeten diesbezüglichen Dokumenten wurde der Inhalt der Verhandlungen zwischen Dubassow und Petersburg schon am zweiten Tage in der Stadt bekannt und trug nicht wenig zur Festigung der Stimmung und der Hoffnungen bei. Dubassow aber setzte seinen Willen durch. Er forderte, dass man ihn telefonisch unmittelbar mit Zarskoje Selo verbinde und erklärte, dass er für die „Unversehrtheit der Selbstherrschaft" nicht einstehe. Darauf wurde die Order erteilt, das Semenowsche Garderegiment nach Moskau abzuschicken.

Am 28. Dezember änderte sich die Situation in schroffer Weise Voller Hoffnung auf die Semenowtzi fassten die reaktionären Gruppen Moskaus neuen Lebensmut. In den Straßen taucht die bewaffnete „Miliz" auf, diese vom Verband des Russischen Volkes in allen Schlupfwinkeln und Lasterhöhlen der Stadt angeworbenen Hilfstruppen. Die aktiven Kräfte der Regierung stiegen dank den aus den benachbarten Städten zusammengezogenen Truppenteilen. Die Druschinniki brachen fast unter den Anstrengungen zusammen. Der von Furcht und Ungewissheit gepeinigte Einwohner gab alle Hoffnung auf. Die Stimmung in den Arbeitermassen sank merklich. Mit der Siegeszuversicht war es zu Ende. Die Läden, die Kontore, die Banken, die Börse wurden wieder geöffnet. Der Verkehr in den Straßen begann wieder aufzuleben. Es erschien auch eine der Tageszeitungen. Alle hatten die Empfindung, dass das Barrikadenleben dahin sei. In den meisten Stadtteilen hörte das Schießen auf. Am 29. Dezember, mit dem Eintreffen der Truppen aus Petersburg und Warschau, schwingt sich Dubassow zum Herrn der Situation auf. Er geht zur entschiedenen Aggressive über und säubert das Stadtzentrum vollkommen von den Barrikaden. In Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Lage beschließen Rat und Partei, am 1. Januar* den Streik einzustellen.

Während der ganzen Zeit des Aufstandes lebte die Presnja, dieses Montmartre Moskaus, ihr eigenes Leben. Am 23. Dezember, als schon im Zentrum die Geschütze donnerten, herrschte hier vollste Ruhe. Die Meetings wurden weiter in gewohnter Weise abgehalten. Aber sie befriedigten die Masse nicht mehr. Man dürstete nach Taten und bestürmte die Delegierten. Endlich, um 4 Uhr nachmittags, traf aus dem Zentrum der Befehl ein, zum Barrikadenbau zu schreiten. Nun lebte in der Presnja alles auf. Hier war nichts von jener Regellosigkeit zu spüren, die im Stadtinnern herrschte. Die Arbeiter teilten sich in Gruppen zu je 10 Mann, wählten Anführer, bewaffneten sich mit Spaten, Brechstangen, Äxten – und traten in strenger Ordnung auf die Straße, gleich als ob es zu den städtischen Arbeiten ginge. Niemand stand müßig da. Die Frauen schleppten Schlitten, Holz, ausgehobene Torflügel auf die Straße. Die Arbeiter zerhieben und zersägten die Telefonmasten und die Laternenpfähle. Die ganze Presnja hallte nur so von dem Lärm der Axthiebe wieder – es war, wie wenn ein großer Wald gefällt würde.

Durch die Truppen von jeder Kommunikation mit der Stadt abgeschnitten ganz und gar mit Barrikaden übersät, verwandelte sich die Presnja in das Lager des Proletariats. Überall wurde von den Druschinniki ein regulärer Wachtdienst eingerichtet, nachts schritten bewaffnete Posten von Barrikade zu Barrikade und nahmen den Passanten die Parole ab. Die größte Begeisterung zeigten die jungen Arbeiterinnen. Ihre liebste Beschäftigung war es, Rekogniszierungsgänge zu unternehmen und mit den Polizisten eine Unterhaltung anzuknüpfen, wobei sie manche wertvolle Kunde über die Vorgänge in der Stadt heimbrachten. Wie viel bewaffnete Druschinniki wohl in der Presnja gewirkt haben mögen? Etwa 200 Mann, nicht mehr. Sie verfügten über annähernd 80 Karabiner und Mausergewehre. Trotz dieser so geringen Zahl aktiver Kräfte trat in den Zusammenstößen mit den Truppen keinen Augenblick Stillstand ein Die Soldaten wurden entwaffnet, die widerspenstigen unter ihnen niedergeschossen Die zerstörten Barrikaden erstanden immer von Neuem unter den Händen der Arbeiter. In ihrer Kampfweise hielten sich die Druschinniki streng an die Guerillataktik: in Gruppen von 2 bis 3 Mann gesondert, feuerten sie auf die Kosaken und Artilleristen aus Häusern, Holzschuppen, leeren Waggons, wechselten blitzschnell ihren Standort und überschütteten aufs Neue ihre Feinde mit Kugeln … Am 25. Dezember erbeuteten die Druschinniki nach hartem Kampfe mit Dragonern und Artilleristen eine Kanone. Eine Viertelstunde lang machten sie sich an dem Ding zu schaffen, ohne zu wissen, was sie mit ihm anfangen sollten. Aus dieser Verlegenheit befreite sie ein großes Detachement Kosaken und Dragoner, die das Geschütz zurückeroberten. Am Abend des 26, Dezember wurden 6 Artilleristen von einer Presnja-Druschina gefangen genommen und in ein Fabrikgebäude gebracht, Hier erhielten sie an der gemeinsamen Tafel ein Mittagsmahl, währenddessen Reden politischen Charakters gehalten wurden, Die Soldaten hörten aufmerksam und mit sichtlicher Sympathie zu, Nach dem Abendessen wurden sie undurchsucht und im Besitz ihrer Waffen entlassen: man wollte ohne Not keine Erbitterung in die Reihen der Soldaten tragen. Am Abend des 28. verhafteten die Druschinniki auf der Straße den Chef der Schutzabteilung, Woyloschnikow, und veranstalteten bei ihm eine Haussuchung, wobei ihnen zahlreiche Photographien von politisch beaufsichtigten Personen und 600 Rubel Kronsgelder in die Hände fielen. Woyloschnikow wurde an Ort und Stelle zum Tode verurteilt und im Hofe der Prochorowschen Fabrik erschossen. Er hörte das Urteil gefasst an und empfing den Tod mannhaft – viel edler, als er gelebt hatte.

Am 29. Dezember begann die Probebeschießung der Presnja durch Artillerie. Die Druschinniki erwiderten mit einem energischen Feuer, und zwangen die Artillerie zum Rückzug. An demselben Tage aber wurde bekannt, dass der Generalgouverneur aus Petersburg und Warschau Verstärkungen erhielt – und die Stimmung begann zu sinken. Unter den Webern begann eine massenhafte Flucht aus der Stadt zurück in das Dorf. Dichte Scharen von Fußgängern mit dem weißen Rucksack auf dem Rücken zogen unaufhörlich die Landstraßen entlang. In der Nacht zum 30. Dezember war die Presnja von dem eisernen Ring der Regierungstruppen umschlossen In der siebenten Morgenstunde wurde eine heftige Kanonade eröffnet. Die Artillerie gab bis zu sieben Schüsse in der Minute ab. Das Ganze währte mit einer einstündigen Unterbrechung bis 4 Uhr nachmittags. Eine Reihe von Fabriken und Wohnhäusern wurde zertrümmert und in Brand gesteckt. Man schoss von zwei Seiten. Die Presnja, ganz in Rauch und Feuer gehüllt, glich einer Hölle. Häuser und Barrikaden stehen in Flammen, Frauen und Kinder fliehen in tödlichem Entsetzen durch die Straßen, in den dichten Wolken des schwarzen Rauchs, unter dem Donner und dem Geheul der Geschosse. Der Feuerschein war so stark, dass man noch spät am Abend in der Umgebung wie am helllichten Tage lesen konnte. Die Druschina wehrte sich bis 12 Uhr mittags erfolgreich gegen die Infanterie, musste aber infolge des andauernden Kugelregens auf den weiteren Widerstand verzichten. Von diesem Augenblicke an bleibt nur eine kleine Gruppe von Druschinniki auf eigene Rechnung und Gefahr unter Waffen.

Am Morgen des 1. Januar war das rebellische Stadtviertel von den Barrikaden gesäubert Der „friedlichen" Bevölkerung wurde das freie Passieren der Presnja gestattet. Da aber die Kontrolle sehr lax gehandhabt wurde, kamen sehr viele ohne die übliche Leibesvisitation durch. Als erste zogen die Druschinniki ab, manche unter ihnen sogar mit den Waffen. Die späteren Gewalttaten der zügellosen Soldateska, so die zahlreichen Füsilierungen, fallen in eine Zeit, wo kein einziger Druschinnik mehr in der Presnja anwesend war.

Die mit der Pazifizierung betrauten Semenowtzi, denen als Aktionsgebiet die Eisenbahn zugefallen war, erhielten den Befehl: „Keine Gefangenen machen, schonungslos vorgehen!" Auf Widerstand stießen sie nirgends, auch wurde kein einziger Schuss auf sie abgegeben. Und dennoch töteten sie im Eisenbahnrayon nicht weniger als 150 Personen. Die Füsilierungen wurden ohne vorherige Untersuchung und Urteilsspruch vollzogen. Man zerrte die Verwundeten aus den Waggons und gab ihnen den letzten Rest. Um die Leichname kümmerte sich kein Mensch! Unter den von den Semenowtzi Erschossenen befand sich auch der Lokomotivführer Uchtomski; er hatte eine Kampfdruschina gerettet, indem er sie auf seine Lokomotive nahm und unter einem Hagel von Geschossen die tollste Geschwindigkeit entwickelte. Vor der Erschießung schilderte er den Henkern seine Tat und schloss mit den ruhigen und stolzen Worten: „Alle sind gerettet, ihr werdet sie nicht bekommen."

Der Aufstand in Moskau dauerte neun Tage: vorn 22. bis zum 30. Dezember.

Wie groß sind nun eigentlich die Schlachtkader des Moskauer Aufstandes gewesen? Im Grunde genommen verschwindend klein. Etwa 700–800 Personen gehörten den Parteidruschinas an (500 Sozialdemokraten, 250-300 Sozialrevolutionäre); etwa 500 mit Karabinern versehene Eisenbahner handelten auf den Bahnhöfen und an den Linien; etwa 400 freiwillige Schützen aus Druckereiarbeitern und Handlungsgehilfen bildeten die Reserve Dazu kamen noch einige kleine Gruppen von Freischärlern. Bei der Erwähnung der letzteren sei an dieser Stelle eines Häufleins von vier Montenegrinern gedacht: vortreffliche Schützen, furchtlos und unermüdlich, hielten sie sich stets zusammen und richteten ihre Geschosse ausschließlich auf Polizisten und Offiziere. Zwei von ihnen fielen, der dritte wurde verwundet, der vierte büßte seinen Winchester ein. Man gab ihm ein neues Gewehr, und nun setzte er allein seine furchtbare Jagd fort. Jeden Morgen bekam er fünfzig Patronen – beklagte sich aber, dass dies für ihn zu wenig sei. Der Mann war wie im Rausch. Er beweinte seine gefallenen Kameraden und übte fürchterliche Rache.

Wie kommt es nun, dass eine an Zahl so geringe Kämpferschar anderthalb Wochen lang einer nach Tausenden zählenden Garnison widerstehen konnte? Die Lösung dieses revolutionären Rätsels liegt in der Stimmung der Volksmassen. Die ganze Stadt mit ihren Straßen, Häusern, Zäunen und Durchgangshöfen verschwört sich gegen die Regierungstruppen. Die Millionenbevölkerung richtet sich gleich einer lebendigen Mauer zwischen den Freischärlern und den regulären Truppen auf. Die Druschinniki zählen nach Hunderten. Aber an der Errichtung und der Wiederherstellung der Barrikaden nehmen schon Massen teil. Auch größere Massen umwehen die aktiven Revolutionäre mit der Atmosphäre der tätigen Sympathie und hindern, wie immer sie nur können, die Pläne der Regierung. Aus welchen Elementen bestehen sie, diese sympathisierenden Hunderttausende? Aus Kleinbürgern, Intellektuellen und vor allem aus Arbeitern. Auf Seiten der Regierung befindet sich, abgesehen von dem käuflichen Straßenpöbel, nur die obere Kapitalistenschicht. Das Moskauer Stadtverordnetenkollegium, das noch vor kurzem durch seinen Radikalismus geglänzt hat, schlägt sich jetzt ganz unzweideutig zu dem Gefolge Dubassows. Nicht nur der Oktobrist Gutschkow, sondern auch Herr Golowin, der zukünftige kadettische Vorsitzende der zweiten Reichsduma, tritt als Mitglied dem vom Generalgouverneur gebildeten Rate bei.

Wie groß war die Zahl der Opfer des Moskauer Aufstandes? Genau ist sie nicht festgestellt worden und wird es wohl auch nie werden. Nach den Registrierbüchern von 47 Krankenhäusern und Rettungsstationen gab es neben 885 Verwundeten 174 Tote und an den Wunden Verstorbene. In den Krankenhäusern wurden aber Tote nur in den seltensten Fällen aufgenommen; wie üblich, würden die Leichname in die Polizeireviere verbracht und von hier aus in aller Stille fortgeschafft. Auf den Kirchhöfen wurden in diesen Tagen 454 Personen bestattet, die getötet oder an den Wunden gestorben waren. Viele Leichen aber würden waggonweise vor die Stadt expediert. Schwerlich aber dürften wir zu hoch greifen, wenn wir die Vermutung aussprechen, dass der Aufstand etwa 1000 Personen an Toten und ebenso viel an Verwundeten aus den Reihen der Moskauer Bevölkerung gerissen hat. Unter ihnen befinden sich 86 Kinder – auch Säuglinge! Die Ziffern sprechen lauter, wenn wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, dass auf dem Straßenpflaster von Berlin in den Märztagen des Jahres 1848, wo der preußische Absolutismus eine unheilbare Wunde erhielt, nur 183 Leichname zurückblieben. … Die Zahl der Opfer, die der Aufstand auf Seiten des Militärs gefordert hat, ist von der Regierung ebenso verheimlicht worden, wie die Opfer der Revolution. Der offiziöse Bericht spricht nur von 30-40 getöteten und verwundeten Soldaten. In Wirklichkeit aber betrug diese Zahl einige Hunderte. Kein allzu hoher Einsatz, wo Moskau, „das Herz Russlands", auf dem Spiele stand.

Lässt man die Grenzgebiete (Kaukasus und Ostseeprovinzen) fort, so stieg die Dezemberwelle nirgends so hoch wie in Moskau. Barrikaden, Schießgefechte mit den Soldaten und Geschützkanonade hatte indes noch eine ganze Reihe anderer Städte aufzuweisen: so Charkow, Alexandrowsk,Nischni-Nowgorod, Rostow, Twer. …

Nachdem der Aufstand überall niedergerungen war, hub die Ära der Strafexpeditionen an. Wie schon der offizielle Terminus zeigt, war ihr Zweck nicht der Kampf mit den Feinden, sondern die Rache an den Unterlegenen. Zu den Ostseeprovinzen, wo der Aufstand zwei Wochen vor dem Moskauer aufflammte, teilten sich die Strafexpeditionen in kleinere Detachements zur Ausführung der blutigen Aufträge der schurkischen Baronenkaste, die von jeher die rohesten Vertreter der russischen Bürokratie geliefert hat. Die Letten, Arbeiter wie Bauern, wurden füsiliert, gehängt, mit Ruten zu Tobe gepeitscht, mit Stöcken erschlagen; man ließ sie Spießruten laufen und vollzog die Hinrichtungen unter den Klängen der Zarenhymne. Im Laufe von zwei Monaten wurden in den Ostseegouvernements nach sehr unvollkommenen Zählungen 749 Personen hingerichtet, über 100 Höfe bis auf den Grund niedergebrannt, zahlreiche Menschen mit Knutenhieben zu Tode gemartert.

So kämpfte der Absolutismus von Gottes Gnaden für seine Existenz.

Vom 22. Januar 1905 bis zur Einberufung der ersten Reichsduma (am 10. Mai 1906) wurden – nach ungefähren, jedenfalls aber nicht übertriebenen Abschätzungen – von der zarischen Regierung über 14.000 Personen getötet, über 1000 hingerichtet, etwa 20.000 Personen verwundet (viele darunter starben an den Verletzungen), etwa 70.000 verhaftet, verbannt, im Gefängnis interniert.

Kein allzu hoher Preis, wo die Existenz des Zarismus auf dem Spiele stand.

1In der Fassung 1922: „soliden Herrn“

* Der Moskauer, der kaukasische und die übrigen Aufstände leben im Gedächtnis des Volkes unter dem Namen der Dezemberereignisse fort. Der Leser darf nicht vergehen, dass die russische Zeitrechnung um 13 Tage hinter bei westeuropäischen zurückbleibt.

Kommentare