III. Die Bauern und die Agrarfrage

III. Die Bauernschaft und die Agrarfrage.

Gemäß den – übrigens nicht ganz genauen – statistischen Daten erreicht das gesamte wirtschaftliche Einkommen Russlands, sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie, jährlich die Summe von 6 bis 7 Milliarden Rubel, von denen 1½ Milliarden, das heißt, mehr als ein Fünftel, in den Staatssäckel fließen. Somit ist Russland relativ drei, bis viermal ärmer, als jeder andere unter den europäischen Staaten.

Die Anzahl der Erwerbstätigen ist, wie wir gesehen haben, im Verhältnis zu der Gesamtbevölkerung des Landes überaus gering und ihre Produktivkraft steht aus einem sehr tiefen Niveau. Dies gilt auch in Bezug aus die Industrie, deren Ertrag der Anzahl der in ihr beschäftigten Hände bei weitem nicht entspricht; auf einem ungleich tieferen Niveau aber stehen die Produktivkräfte in der Landwirtschaft, die etwa 61 Prozent der Arbeitskräfte des Landes in ihrem Dienste hat und dennoch nur 2,8 Milliarden abwirft, das heißt weniger als die Hälfte des Nationaleinkommens.

Die Bedingungen der russischen agrikulturen – in ihrer weit überwiegenden Mehrheit bäuerlichen – Wirtschaft wurden in ihrem Grundwesen durch den Charakter der "Befreiungsreform" von 1861 bestimmt. Im Interesse des Staates durchgeführt, war diese Reform ganz und gar den selbstsüchtigen Interessen der Junkerschaft angepasst und brachte es fertig, den Bauern nicht nur bei der Landbeteilung übers Ohr zu hauen, sondern ihn noch dazu in das Joch der fiskalischen Sklaverei zu spannen.

Die nachstehende Tabelle charakterisiert den Umfang der Landanteile die den drei Hauptkategorien der Bauernschaft bei der Liquidierung der Leibeigenschaft zufielen.

Bauern­kategorien

Anzahl d. männlichen Seelen im Jahre 1860

Anzahl der erhaltenen Desjatinen

Auf je eine männliche Seele

Gutsherrliche Staatliche Kabinettseigene

11.907.000 10.347.000 870.000

37.758.000 69.712.000 4.260.000

3,17

6,74

4,90

Summa

23.124.000

111.730.000

4,83

Setzt man den Fall, dass der den staatlichen Bauern zugefallene Anteil (6,7 Desjatinen pro männliche Seele) bei den gegebenen wirtschaftlichen Grundlagen ausreichend war, um die Arbeitskräfte der Bauernfamilie ganz in Anspruch zu nehmen – und dies entspricht so ziemlich der Wirklichkeit –, so erweist es sich, dass den staatlichen und den Kabinettsbauern etwa 44 Millionen Desjatinen an der vollen Norm vorenthalten wurden. Jene Grundstücke die die Bauern während der Leibeigenschaft zu eigenen Zwecken bearbeiteten, nahmen nur die Hälfte ihrer Arbeitskraft in Anspruch, da sie drei Tage in der Woche sich dem Gutsbesitzer zur Verfügung zu stellen verpflichtet waren. Nichtsdestoweniger wurde auch von diesen unzureichenden Anteilstücken – mit großen Abweichungen in den einzelnen Rayons – im großen Ganzen etwa 2 Prozent des besten Bodens zugunsten der Gutsbesitzer koupiert. Auf diese Weise wurde die landwirtschaftliche Überbevölkerung, die den Bedingungen der Fronwirtschaft zugrunde gelegt war, durch den von dem Adel an den Bauernländereien verübten Raub nur noch erhöht.

Die auf die Reform folgenden 50 Jahre brachten in dem Landbesitz eine wesentliche Neugruppierung hervor, indem für etwa ¾ Milliarden Rudel Land aus den Händen des Adels in die der kaufmännischen und der bäuerlichen Bourgeoisie überging. Für die breite Masse des Bauerntums aber erwuchs aus diesem Prozess so gut wie gar nichts.

In 50 Gouvernements des europäischen Russland stellte im Jahre 1905 die Verteilung der Bodenfläche folgendes Bild dar:

1. Anteilgrundstücke

112 Millionen Desjatinen,

Darunter gehören:

den ehemaligen staatlichen Bauern

66,3 Millionen Desjatinen,

den ehemaligen gutsherrlichen Bauern

38,4 Millionen Desjatinen,

2. Privatländereien

101,7 Millionen Desjatinen,

Darunter gehören:

Gesellschaften und Genossenschaften (11,4 davon bäuerl. Genossenschaften)

15,7 Millionen Desjatinen,

Einzelnen Eigentümern: bis zu 20 Desjatinen (2,3 davon bäuerlichen Eigentümern)

3,2 Millionen Desjatinen,

von 20 bis 50 Desjatinen

3,3 Millionen Desjatinen,

über 50 Desjatinen

79,4 Millionen Desjatinen,

3. Krons- und Kabinettsländereien

145,0 Millionen Desjatinen,

hiervon waldfrei und urbar

Zirka 4-6 Millionen Desjatinen,

4. Kirchen-, Kloster-, städtischen und sonstigen Instituten gehörende Ländereien

8,8 Millionen Desjatinen

Das Ergebnis der Reform, wie wir oben gestehen haben, war, dass auf jede einzelne männliche Seele im Durchschnitt, 4,83 Desjatinen kamen, 45 Jahre später im Jahre 1905, kommen, die neuerworbenen Grundstücke mit eingerechnet auf jede Seele nur 3,1 Desjatinen. Mit anderen Worten: Der Landbesitz der Bauernschaft ist um 36 Prozent zurückgegangen. Die Entwicklung von Industrie und Handel, die jährlich nicht mehr als ein Drittel des bäuerlichen Bevölkerungszuwachses absorbierte, die Ansiedlungsbewegung nach den Grenzländern, die die Bauernbevölkerung im Zentrum bis zu einem gewissen Grade lichtete; endlich die Tätigkeit der Bauernbank, die den mittel,- und besser situierten Bauern die Möglichkeit gab, von 1882 bis 1905 7,3 Millionen Desjatinen Land zu erwerben, – alle diese Faktoren erwiesen sich also vollkommen ohnmächtig, die Wirkung des natürlichen Bevölkerungszuwachses auszugleichen und der Verschärfung der Landnot vorzubeugen.

Nach ungefährer Berechnung finden im Lande etwa 5 Millionen erwachsener Männer keine Anwendung für ihre Arbeitskraft. Nur der geringere Teil dieser 5 Millionen bildet die industrielle Reservearmee oder setzt sich aus berufsmäßigen Landstreichern, Bettlern und ähnliche Elementen zusammen. Der weit überwiegende Teil dieser gewaltigen Legion „überflüssiger Leute" aber gehört der Bauernschaft an. Das sind keine vogelfreien Proletarier sondern bodenständige, an ihre Arbeitsscholle gebundene Bauern. Indem sie ihre Arbeitskraft einem Boden widmen, der ebenso gut ohne sie bearbeitet werden könnte, drücken sie die Produktivität der bäuerlichen Arbeit herab und retten sich, während sie in der allgemeinen Bauernmasse aufgehen, vor der Proletarisierung nur dadurch, dass sie noch breitere Massen der Dorfbevölkerung der Pauperisierung in die Arme treiben. Der theoretisch denkbare Ausweg aus dieser Lage, inwieweit er überhaupt innerhalb der kapitalistischen Ordnung möglich ist, bestände in der Intensivierung der Landwirtschaft. Dazu aber bedarf der Bauer der Kenntnisse, der Initiative, der vollen Mündigkeit und einer stabilen rechtlichen Ordnung, – lauter Bedingungen, die es in dem absolutistisch regierten Russland nicht gab und nicht geben konnte. Aber das hauptsächlichste und ernsteste Hindernis der wirtschaftlichen Vervollkommnung war und bleibt der Mangel an materiellen Mitteln. Und diese Seite der Krisis in der bäuerlichen Wirtschaft hat gleich der Landnot ihren Ursprung in der Reform des Jahres 1861.

Die so knappen Anteile wurden den Bauern nicht etwa geschenkt. Für die Landstücke, die ihnen während der ganzen Zeit der Leibeigenschaft die Mittel zur Fristung ihres Lebens gegeben hatten, das heißt, für ihre eigenen Landstücke, die noch dazu von der Regierung arg beschnitten wurden, mussten die Bauern den Gutsbesitzern unter Vermittlung des Staats einen Loskaufspreis zahlen. Die Abschätzung besorgten Regierungsagenten in innigem Verein mit den Gutsbesitzern – und statt der 648 Millionen Rubel, die gemäß der kapitalisierten Bodenertragsfähigkeit von den Bauern zu leisten gewesen wären, wurde diesen eine Schuld von 867 Millionen Rubel ausgeladen. Außer dem Preis für die eigenen Grundstücke bezahlten die Bauern faktisch den Gutsbesitzern einen Preis von 219 Millionen für ihre Emanzipierung von der Feudalfron.

Hierzu kamen noch die räuberischen Pachtzins als das Ergebnis der Landnot und die ungeheuerliche Arbeit des zarischen Fiskus. So muss an direkter Landsteuer von jeder bäuerlichen Desjatine 1 Rubel 56 Kopeken entrichtet werden, während eine im Privatbesitz befindliche Desjatine nur 23 Kopeken zu leisten hat. Dementsprechend auch fällt das russische Staatsbudget fast mit seiner gesamten Last auf die Schultern der Bauernschaft. Die von der Regierung im Jahre 1902 organisierten landwirtschaftlichen Komitees stellten fest, dass die direkten und indirekten Abgaben 50 bis 100 Prozent und noch mehr von dem reinen Bodenertrage der Bauernfamilie in Anspruch nehmen. Während aber der Staat den Löwenanteil des bäuerlichen Gewinns in seine Tasche steckt, gibt er dem Dorfe fast gar nichts als Entgelt zur Erhöhung seines kulturellen Niveaus und zur Entfaltung seiner Produktivkräfte. Dies führt einerseits zur Anspeicherung von hoffnungslosen Steuerrückständen, andererseits zur Stockung in der Landwirtschaft und selbst zum Niedergange derselben.

Auf dem ganzen ungeheuer großen Gebiete des zentralen Russland stehen die Technik und mit ihr die Ernte noch genau auf derselben Stufe wie vor 1000 Jahren. Die Weizenernte lässt sich durchschnittlich in folgenden Ziffern darstellen: England – 26,9 Hektoliter pro Hektar, Deutschland – 17,0, Russland 6,7. Wobei noch erwähnt werden soll, dass die Ertragsfähigkeit auf den Bauernäckern um 46 Prozent niedriger ist, als auf den Gutsbesitzeräckern – und dieser Unterschied ist um so größer, je schlechter die Ernte ausfällt.

Getreidevorräte für die Zeiten der Not aufzuspeichern, davon hat der Bauer längst zu träumen aufgehört. Die neuen Waren-Geld-Verhältnisse einerseits, der Fiskus andererseits zwingen ihn, alle seine Naturalvorräte und wirtschaftlichen Überschüsse in klingende Münze umzusetzen, die aber sofort daraus von den Pachtzinsen und dem Steueramte verschlungen wird. Die krampfhafte Jagd nach dem Rubel treibt den Bauern zur schonungslosen Vergewaltigung des Bodens, der jeder Düngung und rationellen Bearbeitung entbehren muss. Die darauffolgende Missernte, mit der der Boden für seine Erschöpfung heimzahlt, bricht über das aller Vorräte bare Dorf mit elementarem Elend und Unheil herein. Aber selbst in „normalen" Jahren kommt die Bauernmasse aus dem halben Hungerleiden nicht heraus. Man sehe sich nur das bäuerliche Budget an, das auf der goldenen Stirn der europäischen Bankiers, der Gläubiger des Zarismus, eingemeißelt zu werden verdiente: jedes Mitglied der bäuerlichen Familie gibt jährlich aus für das Essen 19,5, für die Wohnung 3,8, für die Kleidung 5,5, für die übrigen materiellen Bedürfnisse 1,4 und für die geistigen Bedürfnisse 2,5 Rubel. Ein einzelner qualifizierter amerikanischer Arbeiter verbrauche für seine Person direkt und indirekt ebenso viel, wie in Russland zwei Bauernfamilien, jede 6 Köpfe stark.

Aber selbst um diese Art von Ausgaben zu decken, die kein einziger moralisierender Geheimrat übermäßig nennen dürfte, fehlt der Bauernschaft jährlich mehr als 1 Milliarde Rubel, die ihnen der Ackerbau nicht zu liefern vermag. Die Heimindustrie bringt dem Dorfe etwa 200 Millionen Rubel. Zieht man diese Summe ab, so ergibt die bäuerliche Wirtschaft ein jährliches Defizit von 850 Millionen Rubel, – genau die Summe, die der Fiskus der Bauernschaft jährlich aus der Tasche zieht.

Bei unserer Charakteristik der bäuerlichen Wirtschaft haben wir bis jetzt die ökonomischen Verschiedenheiten der einzelnen Rayons unberücksichtigt gelassen, die jedoch in Wirklichkeit von sehr großer Bedeutung sind und die in den Formen der Agrarbewegung einen äußerst markanten Ausdruck erhalten haben (siehe: „Der Bauer rebelliert"). Beschränkt man sich nur auf 50 Gouvernements des europäischen Russland und scheidet man die nördlichen Waldstriche aus, so lässt sich der ganze übrige Raum, betrachtet unter dem Gesichtswinkel des Charakters der bäuerlichen Wirtschaft und der ökonomischen Entwicklung überhaupt, in drei große Becken zerlegen.

1. Der Industrierayon, in den von Norden her das Gouvernement Petersburg und vom Süden her das Gouvernement Moskau hineinragt. Die Fabrik – insbesondere die Textilfabrik –, die Heimindustriegewerbe, der Flachsbau, der Bau von Handelsgewächsen (im Einzelnen der Gartenbau) charakterisieren dieses nördliche kapitalistische Becken, das von Petersburg und Moskau beherrscht wird. Wie es bei jedem industriellen Land der Fall ist, begnügt sich dieser Rayon mit den eigenen Bodenerzeugnissen nicht, sondern greift zu dem Getreideimport aus dem Süden.

2. Der südöstliche Rayon, der an das Schwarze Meer und den unteren Wolgalauf anstößt, – das russische „Amerika". Dieses Gebiet, das die Leibeigenschaft fast gar nicht kannte, spielte die Rolle einer Kolonie gegenüber dem zentralen Russland. Auf den freien Steppen, die eine Masse von Ansiedlern herbeilockten, entstanden in kurzer Zeit zahlreiche „Weizenfabriken", die die neuesten landwirtschaftlichen Maschinen anwenden und ihr Getreide nach dem Norden – in den Industrierayon – und nach dem Westen – ins Ausland – absetzen. Parallel damit vollzog sich die Ableitung der Arbeitshände nach der bearbeitenden Industrie, der Aufschwung der „schweren" Industrie und das fieberhafte Anwachsen der Städte. Die Differenzierung innerhalb der Dorfgemeinde ist hier überaus groß. Dem bäuerlichen Farmer steht der bäuerliche Proletarier gegenüber, der nicht selten aus den Schwarzerdegouvernements eingewandert ist.

3. Zwischen dem altindustriellen Norden und dem neuindustriellen Süden liegt ein breiter Schwarzerdestrich – das russische „Indien". Seine Bevölkerung, die schon während der Leibeigenschaft eine verhältnismäßig große Dichte aufwies und die ganz und gar an den Ackerbau gebunden war, hatte bei der Bauernreform im Jahre 1861 24 Prozent ihres Bodenbesitzes eingebüßt, wobei die besten und ganz unentbehrlichen Stücke der bäuerlichen Anteilländereien in die Hände der Gutsbesitzer übergingen. Die Bodenpreise stiegen rasch, die Gutsbesitzer führten eine rein parasitäre Wirtschaft, indem sie teilweise ihr Land mit dem bäuerlichen Inventar bearbeiteten, teilweise dasselbe an die Bauern abtraten, die von den Bedingungen der schwersten Pachtsklaverei nicht mehr loskommen konnten. Hunderttausende von Arbeitern ziehen nach dem Norden, dem Industrierayon, und in die südlichen Steppen, um überall die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. In dem Schwarzerdegebiet gibt es weder eine Großindustrie, noch eine kapitalistische Landwirtschaft. Der kapitalistische Farmer ist hier ganz außerstande, mit dem pauperisierten Pächter zu konkurrieren, und der Dampfpflug unterliegt im Kampfe gegen die physiologische Hartnäckigkeit des Bauern, der, nachdem er Profit von seinem „Kapital", sondern auch den größeren Teil seines Arbeitslohnes in Form des Pachtzinses hergegeben hat, sich von einer Brotart nährt, die ein Gemisch von Mehl. Sägespänen und gemahlener Baumrinde darstellt. Stellenweise nimmt die Armut unter den Bauern einen so großen Umfang an, dass selbst die Anwesenheit von Wanzen und Schaben im Bauernhause als beredtes Zeichen des Wohlstands gilt. Und in der Tat wurde von dem Semstwoarzt Schingarew – heute liberaler Deputierter der dritten Reichsduma – festgestellt, dass bei den landlosen Bauern in den von ihm befahrenen Wolosten des Gouvernements Woronesch Wanzen überhaupt nicht anzutreffen sind, während bei den anderen Kategorien der Dorfbevölkerung die Anzahl der Wanzen im Allgemeinen dem Wohlstande der Familie proportional ist. Die Schabe ist weniger aristokratisch, aber auch sie beansprucht einen größeren Komfort, als der Woronescher Pauper: bei 9,3 Prozent Bauern waren Schaben nicht vorzufinden wegen des Hungers und der Kalte in den Häusern.

Von einer Entwicklung der Technik kann unter solchen Umständen keine Rede sein. Das Wirtschaftsinventar – darunter das Arbeitsvieh – wird zur Deckung des Pachtzinses und der Abgaben veräußert oder aber aufgezehrt. Wo aber keine Entwicklung der Produktivkräfte besteht, da gibt es auch keinen Platz für eine soziale Differenzierung. Im Schwarzerdegebiet herrscht die Gleichheit – des Elends. Die Schichtengliederung in der Bauernschaft ist im Vergleich zu der im Norden und im Süden sehr oberflächlich. Über den keimenden Klassengegensätzen herrscht der verschärfte Standesantagonismus zwischen der pauperisierten Bauernschaft und dem schmarotzerischen Adel.

Die drei von uns charakterisierten wirtschaftlichen Typen fallen selbstverständlich nicht genau mit den geographischen Grenzen zusammen. Die Einheit des Staats und das Fehlen innerer Zollschranken schließen die Möglichkeit der Bildung von gesonderten wirtschaftlichen Organismen aus. In den achtziger Jahren waren die halb leibeigenschaftlichen Verhältnisse, die in zwölf Gouvernements des Schwarzerdezentrums bestanden, auch noch in 5 Gouvernements außerhalb des Schwarzerdegebiets zu verzeichnen. Die kapitalistischen landwirtschaftlichen Verhältnisse andererseits herrschten in 9 Schwarzerde- und 10 Nicht-Schwarzerdegouvernements vor. Und endlich in 7 Gouvernements kompensierten die beiden Systeme einander. Der unblutige, jedoch nicht opferlose Kampf zwischen der Ernährungspacht und der kapitalistischen Landwirtschaft währte und währt ununterbrochen fort – wobei die letztere sich eines Sieges bei weitem nicht rühmen kann. In der Falle seines Anteils gefangen und jedes Nebenverdienstes beraubt, ist, wie wir gesehen haben, der Bauer gezwungen, von dem Gutsbesitzer Land zu pachten, mag der Preis auch noch so ungeheuerlich sein. Nicht nur verzichtet er auf jeden Gewinn, nicht nur spart er sich den letzten Bissen vom Munde ab – er muss auch sein landwirtschaftliches Inventar veräußern, so dass die auf ohnehin schon niedriger Stufe stehende Technik seiner Wirtschaft noch tiefer herabsinkt. Vor diesen fatalen „Vorzügen" der Kleinproduktion tritt das Großkapital ohnmächtig zurück: der Gutsbesitzer liquidiert seine rationelle Wirtschaft und verpachtet sein Land fetzenweise an die Bauern. Die Pacht- und Bodenpreise hochschraubend, drückt die überschüssige Bevölkerung des Zentrums zu gleicher Zeit die Arbeitslöhne in dem ganzen Lande herab. Dadurch wiederum macht sie die Einführung von Maschinen und die Hebung der Technik zu einem wenig lohnenden Beginnen – und dies nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in vielen anderen Zweigen des gewerblichen Lebens. In dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hatte der tiefe wirtschaftliche Niedergang bereits einen beträchtlichen Teil des südlichen Rayons erfasst, wo sich parallel mit dem Steigen der Pachtgelder eine progressiv zunehmende Dezimierung unter dem bäuerlichen Arbeitsvieh bemerkbar macht. Die Krisis in der Landwirtschaft und die Verelendung der Bauernschaft verengert des weiteren die Basis des russischen industriellen Kapitalismus, der in erster Linie auf den inneren Markt angewiesen ist. Auch inwiefern die schwere Industrie in den staatlichen Aufträgen ihren Nahrungsquell besitzt, hat sich der fortschreitende wirtschaftliche Verfall des Bauern zu einer ernsten Gefahr für sie verwandelt, da er das Staatsbudget in seinen Grundfesten erschüttert hat.

Diese Bedingungen erklären zur Genüge, weshalb die Agrarfrage die Achse geworden ist, um die das ganze politische Leben Russlands rotiert. Der Anprall an die scharfen Kanten des Bodenproblems hat allen revolutionären und oppositionellen Parteien des Landes so manche schwere Wunde geschlagen – im Dezember 1905, in der ersten und in der zweiten Duma. Um die Agrarfrage dreht sich zurzeit, gleichwie in einem verzauberten Kreis, die dritte Reichsduma. Und an eben derselben Frage läuft auch der Zarismus Gefahr sich seine verbrecherische Stirn einzurennen.

Die feudal-bürokratische Regierung ist wenn sie auch die besten Vorsätze hatte – nicht imstande, eine radikale Reform auf einem Gebiete durchzuführen, auf dem sich längst alle Palliativmittel als widersinnig erwiesen haben. Jene 6-7 Millionen Desjatinen brauchbaren Landes, die dem Staate zur Verfügung stehen, sind gänzlich unzureichend, wo das Dorf von 5 Millionen überschüssiger männlicher Lande überschwemmt ist. Aber auch dieses Land kann die Regierung den Bauern nur verkaufen – zu denselben preisen, die sie selbst den Gutsbesitzern zahlen muss. Und so wird – selbst bei einem vollkommenen und raschen Übergang dieser 6-7 Millionen Desjatinen an die Bauern – jeder bäuerliche Rubel jetzt ebenso wie es 1861 war, anstatt eine produktive Anwendung in der Wirtschaft zu finden, in die abgrundtiefe Tasche des Adels und der Regierung wandern.

Die Bauernschaft kann den Sprung aus der Armut und dem Hunger mitten in das Paradies einer rationellen Wirtschaft nicht so ohne weiteres ausführen. Soll ein solcher Übergang überhaupt zur Möglichkeit werden, so muss die Bauernschaft sofort, bei den gegebenen Bedingungen ihrer Wirtschaft die genügende Landbasis zur Anwendung ihrer Arbeitskraft erhalten. Die Übergabe aller großen und mutieren Latifundien an die Bauern ist die erste und unerlässliche Voraussetzung einer tiefgreifenden Agrarreform.

Es ist aber nicht schwer, den Nachweis zu führen, dass auch die Konfiskation des Großgrundbesitzes an sich selbst den Bauern noch nicht zu retten vermag. Die Gesamteinkünfte aus der Landwirtschaft belaufen sich auf 2,8 Milliarden Rubel; 2,3 Milliarden entfallen hierbei auf die Bauern und die Landarbeiter und etwa 450 Millionen auf die Gutsbesitzer. Oben haben wir erwähnt, dass das jährliche Defizit der Bauernschaft 850 Millionen erreicht. Folglich würde an sich selbst der Gewinn aus der Konfiskation der Gutsbesitzerländereien nicht einmal zur Deckung des genannten Fehlbetrages genügen.

Dergleichen Berechnungen wurden mehr als einmal von den Gegnern der Enteignung der adligen Latifundien ins Treffen geführt. Sie ignorieren indes völlig die Hauptseite der Frage: die Enteignung hat ja nur insofern Bedeutung, inwiefern sich auf dem den müßigen Händen entrissenen Landbesitz eine freie Farmerwirtschaft von hoher Kultur entwickeln kann, die die Gesamteinkünfte von dem Boden um ein Vielfaches erhöhen wird. Eine derartige Farmerwirtschaft auf russischem Boden ist ihrerseits nur in dem Falle denkbar, wenn der zarische Absolutismus mitsamt seinem Fiskus, seiner bürokratischen Bevormundung, seinem Militarismus, seinen Schuldverschreibungen an die europäische Börse ein für allemal gestürzt wird. Die entfaltete Formel der Agrarfrage lautet: Enteignung des Adels, Sturz des Zarismus, Demokratie! Nur unter diesen Bedingungen kann die Landwirtschaft vom toten Punkt fortgebracht werden. Ihre Produktivkräfte und zugleich ihr Bedarf an den Produkten der Industrie werden erhöht, die Industrie erhält einen mächtigen Impuls zur weiteren Entwicklung und absorbiert einen bedeutenden Teil der Übervölkerung des flachen Landes. Dies alles bietet bei weitem noch nicht die „Lösung" der Agrarfrage: in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist diese überhaupt nicht zu lösen. Allenfalls muss die revolutionäre Liquidierung des Absolutismus und der Fronherrschaft dieser Lösung vorausgehen.

Die Agrarfrage in Russland ist das ungeheure Gewicht an den Füßen des Kapitalismus, der Stützpunkt und zugleich die Hauptschwierigkeit für die revolutionäre Partei, der Stein des Anstoßes für den Liberalismus, das Memento Mori für die Konterrevolution.

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