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Leo Trotzki 19170711 Thesen über den Krieg

Leo Trotzki: Thesen über den Krieg

[„Wperjod" Nr. 5, 11. Juli (28. Juni), 1917, Nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 3, часть 1. Москва-Ленинград, 1924]

I. Allgemeiner Charakter des Krieges

Die russische Revolution hat die Natur des Krieges bis heute nicht verändert. Durch die Anerkennung aller alten militärischen, diplomatischen und finanziellen Verpflichtungen des Zarismus, Hand in Hand mit seinen alten Verbündeten, brachte sich die russische Revolution, die nicht von der Regierung von Miljukow-Gutschkow, sondern von Lwow-Tereschtschenko geführt wurde, als untergeordnete Kraft in das blutige Gemetzel von zwei imperialistischen Gruppen ein.

Da die Revolution die Armee einer tiefen inneren Gärung und einer Reorganisation unterwarf, schwächte sie sie als einen Faktor im imperialistischen Krieg stark ab. So wurde die Rolle Russlands in diesem Krieg, ohne sich im Wesen zu ändern, nur abhängiger von den Alliierten.

Ohne eine entscheidende Veränderung in der gesamten internationalen Lage Russlands, solange die Macht in den Händen von Vertretern der kapitalistischen Klassen bleibt, die eng mit den Zentren des europäischen Imperialismus verbunden sind, solange drücken sich alle Versuche, die Kampfkraft der Armee zu erhöhen – nicht als unabhängige revolutionäre Kraft, sondern als Werkzeug der imperialistischen Pläne, die der revolutionären Armee fremd und feindlich sind und deren Schlüssel in den Händen der britischen und amerikanischen Kapitalisten liegt – natürlich vor allem in dem Wunsch aus, den revolutionär-demokratischen Geist der Armee zu brechen, und haben einen wesentlich konterrevolutionären Charakter.

II. Diplomatische Tätigkeit

Die diplomatische Tätigkeit der Provisorischen Regierung, die darauf abzielte, partielle Änderungen der russischen Außenpolitik einzuführen, die in die Ketten der vorrevolutionären Verpflichtungen verstrickt ist, hat bereits ihr völliges Versagen aufgedeckt.

Das Friedensprogramm des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, das von der provisorischen Regierung formell akzeptiert wurde, eines Friedens ohne Annexionen und Entschädigungen und mit der Garantie der nationalen Selbstbestimmung, konnte nur bei der Anwendung der entschlossensten revolutionären Mittel, als Banner des Kampfes der europäischen arbeitenden Massen gegen die imperialistischen Klassen ernsthafte Bedeutung bekommen. In den Mündern der kapitalistischen Regierungen klingen solche Formeln wie die abstoßendste Lüge. Die Antworten der alliierten Mächte auf die Note der provisorischen Regierung haben den Charakter von direktem Spott der bewussten und konsequenten Imperialisten gegenüber demokratischen Formeln; und wenn diese Formeln von den Herren Ribot, Lloyd George, Wilson und anderen nicht vollständig abgelehnt werden, so nur, weil sie immer noch dienen dazu können, die erwachenden Arbeitermassen über die wahren Ziele des Krieges zu täuschen, wozu sie mehr als einmal gedient haben. Auf der anderen Seite können die Appelle des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten an die Völker kein revolutionäres Handeln bewirken, solange der Sowjet selbst durch die provisorische Regierung freiwillig in eine der weltimperialistischen Kombinationen eintritt. Die Politik der ausweichenden Halbproteste der russischen Diplomatie gegen Gewalt gegen Griechenland und Albanien bei Fortsetzung der Gewalt Russlands gegen Persien und bei gegenseitigen Garantie aller Verbündeten für ihre ganze imperialistische Arbeit kann die russische Revolution in den Augen der arbeitenden Massen der ganzen Welt hoffnungslos kompromittieren und die Entwicklung der europäischen Revolution verzögern, ohne die es keine Mittel und Wege für die demokratische Beendigung des Krieges und die Rettung der Sache der russischen Demokratie gibt.

III. Offensive

Die oben beschriebene Regierungspolitik untergräbt grundsätzlich die Möglichkeit erfolgreicher militärischer Aktionen, die sich die Regierung jedoch als unmittelbares Ziel setzt.

Die materiellen Voraussetzungen für die Offensive sind äußerst ungünstig. Die Organisation der Ernährung der Armee spiegelt die allgemeine wirtschaftliche Zerrüttung wider, gegen die die gegenwärtige Regierung keine radikalen Maßnahmen ergreifen kann.

Die geistige Voraussetzung der Offensive ist noch ungünstiger. Die Regierung war offen gezwungen, vor den Augen des ganzen Volkes die Frage nach den alten Verträgen und den Zielen des Krieges aufzuwerfen. Gleichzeitig enthüllte sie der Armee die völlige Unfähigkeit, Zugeständnisse von den alliierten Regierungen in dieser Grundfrage zu erzielen und ihre Unfähigkeit, die Politik Russlands unabhängig vom Willen der imperialistischen Verbündeten zu bestimmen. Das Ergebnis musste einfach der fortschreitende Zerfall der Armee sein, zu dem die Regierung selbst mit all ihrem Verhalten die Idee beifügte, dass die alten Kriegsziele den Tribut, den die Offensive erfordern würde, nicht rechtfertigen können.

Die Massendesertion, die der Armee selbst schadet und der Revolution höchst schädlich ist, hört jedoch unter den gegenwärtigen Bedingungen auf, das bloße Ergebnis eines bösartigen individuellen Willens zu sein, sondern wird zum Ausdruck der völligen Unfähigkeit der Regierung, die revolutionäre Armee mit einem inneren einheitlichen Zweck zusammenzuschweißen.

Die Provisorische Regierung weicht unentschlossen vor dem Widerstand der besitzenden Klassen Russlands zurück, die den Krieg bis zum Schluss fordern und zugleich den Krieg boykottieren und nicht einmal die „Freiheitsanleihe" zeichnen; sie ist hilflos bei der Verurteilung unerhörter Diebstähle, die noch immer rund um den Krieg geschehen; sie wagt nicht, den Großgrundbesitz sofort abzuschaffen, das heißt, die einzige Maßnahme, die den rückständigsten Bauer überzeugen würde, dass diese Revolution seine Revolution ist, und dass, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind, die Revolution mit der Waffe in der Hand verteidigt werden muss; sie ist machtlos gegenüber der Desertion und geht zu Methoden der harten Behandlung von Deserteuren und sogar ihren Familien über.

Unter solchen materiellen und geistigen Verhältnissen muss die Offensive zwangsläufig den Charakter eines Abenteuers erhalten, bei dem sich einzelne Teile des Heeres gegenseitig gegenüberstehen und das damit endgültig seinen inneren Zusammenhang zerstören kann.

Schlussfolgerungen

Die Lösung der Frage von Krieg und Frieden liegt beim revolutionären Russland auf dem gleichen Weg wie die Lösung aller grundlegenden innenpolitischen Fragen des Landes. Nur das Zu-Ende-Führen der Revolution, das heißt, sie mit der Übergabe der Macht an den Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten zu einer Revolution der arbeitenden Massen zu machen, kann die notwendige innere Verbindung der Armee schaffen und sie zu einem lebensfähigen Organismus machen; und nur auf diesem Wege kann die russische Revolution der Revolution im Westen einen starken Impuls geben, der der einzige sichere Weg ist, den Krieg zu beseitigen.

Aus all dem Vorstehenden folgt:

1. dass die weitere Anerkennung der alten zaristischen Abmachungen mit den alliierten Imperialisten gleichermaßen katastrophal für die Interessen der Revolution ist und mit ihrer Ehre ebenso unvereinbar ist wie der Abschluss eines Sonderfriedens mit dem deutschen Imperialismus;

2. dass die ohnmächtigen Ermahnungen der russischen Regierung an die Adresse der alliierten Imperialisten nicht in der Lage sind, irgendwelche praktischen Resultate zu erzielen, sie kennzeichnen nur die Politik des Zauderns und Auf-der-Stelle-Tretens, demoralisieren die Armee und die Demokratie und untergraben die politische und moralische Autorität der russischen Revolution;

3. dass alle Appelle des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten an die Völker Europas durch die Tatsache gelähmt werden, dass die russische Außenpolitik in den Händen der kapitalistischen Klassen liegt, die mit der alliierten Diplomatie verbunden sind, deren Politik entgegengesetzt den Aufrufen des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gerichtet ist;

4. dass der einzige Ausweg das offene Verkünden der völligen Unabhängigkeit der gesamten diplomatischen und militärischen Politik der russischen Revolution durch das russische Volk ist, die die Völker nicht im Namen einer machtlosen Organisation, sondern im Auftrag der revolutionären Macht sofort aufrufen muss, ihre eigenen Imperialisten im Namen eines demokratischen Friedens zu bekämpfen und jenen Völker, die diesen Weg beschreiten, die ganze Kraft ihrer Unterstützung versprechen muss;

5. dass nur mit der Erfüllung dieser Voraussetzungen die russische Revolution einen unzerstörbaren inneren Zusammenhang zwischen der Armee und dem Volk schaffen und die Armee fähig machen wird, wenn nötig, alle ihre Kraft in die Waagschale zu legen;

6. dass nur ein solcher Ausschluss Russlands aus dem imperialistischen Kreise und die Umwandlung seiner Armee in eine aktive Säule der europäischen Revolution, wo immer sie aufflammt, die europäischen Regierungen – im Angesicht des Gespenstes eines Aufstandes ihrer eigenen Massen – veranlassen kann, den Frieden zu schließen, noch bevor die siegreiche europäische Revolution ihre kriminelle Herrschaft beendet.

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