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Leo Trotzki 19170807 Brief an die vorübergehende Regierung

Leo Trotzki: Brief an die vorübergehende Regierung

[„Nowaja Schisn" Nr. 88, 30. Juli 1917, eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 3, часть 1. Москва-Ленинград, 1924]

Bürger Minister!

Am 22. Juli veröffentlichten die Zeitungen einen Bericht des Anklägers des Petrograder Gerichtshofs über die Ereignisse vom 3. bis 5. Juli.

Dieser Bericht ist auch in der äußerst belastenden Geschichte des russischen Gerichtswesens ein unerhörtes Dokument und in diesem Sinne eine würdige Ergänzung zum Bericht der Herren Perewersew und Bessarabow, und sofort brachten sich die Informanten auf die Seite der Justiz.1

Ich werde hier nicht das Dokument kritisieren, das mit jeder Zeile zeigt, dass es nicht für die logische Kritik, sondern für deren Auslöschung oder vielmehr für die eingeschüchterte Kleinbürgerpsychologie gedacht ist und die Aufgabe hat, diese für bestimmte politische Zwecke zu beeinflussen. Ich halte es jedoch für notwendig, am Beispiel einer gegen mich persönlich gerichteten Anklage zu zeigen, in welchem Ausmaße die Staatsanwaltschaft Nachlässigkeit und Willkür an den Tag legt, um zu den notwendigen Schlussfolgerungen zu kommen.

Am 24. Juli erhob der Ermittler Alexandrow die gleiche Anklage gegen mich, wie gegen Lenin, Sinowjew, Kollontai und andere, das heißt, dass ich eine Vereinbarung mit Agenten Deutschlands und Österreichs mit dem Ziel der Desorganisation der russischen Armee eingegangen sei, Geld aus diesen Ländern erhalten habe usw. Zur gleichen Zeit hatte ich jede Gelegenheit, mich in der umfangreichen Vernehmung zu überzeugen, dass Herr Alexandrow als erwiesen ansah, dass „Lenin ein Agent Deutschlands“ sei. Meine Schuld wurde aus der Tatsache abgeleitet, dass ich 1) mit Lenin aus Deutschland kam; 2) Mitglied des Zentralkomitees der Bolschewiki war; 3) einer der Führer der militärischen Organisation unter dem Zentralkomitee war. Natürlich, wenn das alles wahr wäre, hätte dies nicht zu meiner Beziehung zur deutschen Regierung geführt. Lenin und seine Freunde sind in Wirklichkeit unversöhnlichere Feinde dieser Regierung als ihre Ankläger. Aber doch ist das nicht so. Wenn der Staatsanwalt und der Ermittler, bevor sie mich verhafteten und verhörten, die einfachsten Erkundigungen eingezogen hätten, hätten sie herausfinden können, dass ich einen Monat später als Lenin, nicht durch Deutschland, sondern aus Amerika über Skandinavien ankam und niemals ins Zentralkomitee kam und nichts mit seiner militärischen Organisation zu tun hatte. So sind auch die äußeren organisatorischen Rahmenbedingungen der in ihrer Monstrosität phantastischen Anklage auf mich völlig unanwendbar.

Diese Justizakteure, die vor fünf Monaten das „bestehende System" der Herren Romanow, Stürmer und Suchomlinow verteidigten, halten es für möglich, vor Abschluss der Untersuchung, die Welt zu informieren, dass die Revolutionäre, die jahrzehntelang gegen die Romanows, Stürmer und Suchomlinows kämpften, sich plötzlich an die Hohenzollern verkauften – das liegt wahrscheinlich in der Ordnung der Dinge. Man kann jedoch bezweifeln, ob es in der Ordnung der Dinge liegt, dass genau diese Akteure mit Justizangelegenheiten unter einem neuen Regime betraut sind, das republikanisch und demokratisch sein will. Aber auf jeden Fall ist eine Situation, in der die ernsthafteste Anschuldigung, die man sich vorstellen kann, vor ihrer Prüfung von der Staatsanwaltschaft durch die Kanäle der wütenden reaktionären Presse des Landes in die Massen geworfen wird, mit jeder Ordnung der Dinge unvereinbar.

Bürger Minister! Unsere politischen Gegner beschuldigen uns, die Internationalisten, dass unsere Parolen, die sich im Prisma der Köpfe der dunklen Massen brechen, zu Phänomenen der Anarchie führen. Nehmen wir an, dies sei so. Aber Ihre Justizakteure, die Hüter der Legalität, werfen die schwersten Anschuldigungen in der kompliziertesten und dunkelsten Form in die dunkelsten Massen – gegen die Führer einer großen politischen Partei. Der „Bericht" von Herrn Perewersew hat, wie Sie wissen, bereits dazu geführt, dass einzelne Bolschewiki nicht nur misshandelt, sondern auch getötet wurden. Der neue Bericht des Staatsanwalts bläst in dasselbe Horn.

Ich bin mir nicht sicher, ob das Büro des Generalstaatsanwalts Artikel des Strafgesetzbuchs für diese Handlungen hat. Aber ich weiß genau, dass es in der Geschichte der zivilisierten Länder keinen Prozess gab, bei dem die Gestaltung der Anklage und die Methoden der Verwendung einer wissentlich falschen Anklage im Interesse der ungezügelten Verfolgung einer ganzen politischen Partei monströser waren.

L. Trotzki

Einzelhaftgefängnis („Kresty"),

25. Juli 1917

1 Der Schluss ist mit nicht klar. Im Original heißt er „и сразу поставило самих сообщителей за бортом юстиции”

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