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Leo Trotzki 19190103 Ein Merkblatt für gewisse frischgebackene Anglophile

Leo Trotzki: Ein Merkblatt für gewisse frischgebackene

Anglophile

[3. Januar 1919, „Iswestija WZIK" Nr. 4, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in L. Trotzki: Wie sich die Revolution rüstete (über die Militärarbeit). Band 2: 1919-1920. Moskau 1924, S. 225-226, verglichen mit der englischen Übersetzung].

Ein alter russischer Schriftsteller beschrieb mit Hass die internationale Politik der Engländer, die nach seinem Worten ihren Ausdruck fand im Aphorismus eines der englischen Staatsmänner: Tout prendre, rien rendre, toujours prétendre (d.h., alles wegnehmen, nichts hergeben, immer Anspruch erheben). Es bedeutet auf völlig nosdrewsche Weise: was vor dem Wald liegt gehört mir und was hinter dem Wald liegt – gehört mir auch. Weiter gehen in dieser Gier nach Erwerb kann man nicht, und es ist das erste Anzeichen des Falls.

Unser Schriftsteller charakterisiert das herrschende England mit sehr ausdrucksstarken Linien: "Also, in einer Nation, in der der Handel das vorherrschende Handlungsmotiv bildet, wird die Herrschaft immer oligarchisch sein, die Armee immer eine Söldnerarmee. Freiheit der oberen und mittleren Stände, erbarmungslose Ausbeutung der untersten – aber all das auf der Grundlage lautstark gepredigter Freiheit, die aber für diesen letzten Stand die Freiheit bedeutet, an Hunger zu sterben.

Worin bestehen die Unterscheidungsmerkmale dieses Bestandes1? Anspruch, Verheißung, Betrug: Man kann alles für Geld kaufen. Es gibt keine Treulosigkeit, vor der die Engländer zurückschrecken würden; und den ständigen Wunsch, sich von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen. Letzteres zeigte sehr deutlich die ganze Epoche der Napoleonischen Kriege. ”

Ein weiterer Zug des geistigen Bestandes Englands“ (d.h. seiner herrschenden Klassen) „ist allseitiges Pharisäertum und Heuchelei. Was immer sie Ungerechtes und manchmal direkt Schändliches mit Blick auf monetäre Interessen tun, sie tun es immer im Namen der Zivilisation, im Namen der Interessen der Menschheit. Sie verkünden lautstark die Menschenrechte, rebellieren gegen jede Unterdrückung, und doch ist kein Druck grausamer, unerbittlicher und verheerender als der, unter der Irland und Indien leiden.

Sie kämpfen auch gegen die Buren angeblich im Namen der Interessen der Humanität, des Fortschritts, der Zivilisation, aber diese Interessen laufen darauf hinaus, sich der Goldlagerstätten zu bemächtigen. Sie haben sogar ihre berüchtigten Konzentrationslager für die Burenfamilien eröffnet, weil es angeblich für diese Familien bequemer sei, in Lagern zu leben, und die Sterblichkeitsrate in ihnen geringer als auf ihren eigenen Farmen sei. Und so bei allem.”

Völlig wahr: so bei allem. Nachdem die britischen Pharisäer nun einen Raubzug gegen die Arbeiter und Bauern Russlands eröffnet haben, schwören sie auf die Interessen der Zivilisation und den Namen der Menschheit. Und es gibt „gebildete" russische Menschen, die ihnen das glauben.

Wer aber ist der Autor, dessen Meinung über das bürgerliche England oben zitiert wurde? Dies ist kein Bolschewist, kein Kommunist, kein Marxist, kein Revolutionär – nein, das ist der alte Dragomirow, der General der zaristischen Armee.2 Seine Charakteristik der Pharisäergier der englischen herrschenden Klassen sollte man dem Sohn Dragomirow auf die Stirn zu schreiben, der sein „Schwert“ und das Blut der von ihm getäuschten Soldaten und Offiziere an den anglo-französischen Imperialismus verkaufte.

1In der englischen Übersetzung: „Mentalität“

2 Die Rede ist vom Artikel M. Dragomirows, „Der Niedergang der politischen Macht Englands“. Dieser Artikel befindet sich im Sammelband originaler und übersetzter Artikel M. I. Dragomirows unter dem Titel „Elf Jahre 1895-1905“, Buch 1. St. Petersburg 1909

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