Leo Trotzki‎ > ‎1922‎ > ‎

Leo Trotzki 19221114 Die Neue Wirtschaftspolitik Sowjetrusslands und die Perspektiven der Weltrevolution

Leo Trotzki: Die Neue Wirtschaftspolitik Sowjetrusslands und die Perspektiven der Weltrevolution

[Nach Protokoll des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1923. S. 268-295, Zehnte Sitzung, 14. November 1922]

(die Delegierten erheben sich und empfangen Genossen Trotzki mit stürmischem Händeklatschen) Genossinnen und Genossen!

Das große, das zentrale politische Ziel jeder revolutionären Partei besteht in der Eroberung der politischen Macht. In der zweiten Internationale war dieses Ziel, um mit den Philosophen zu sprechen, eine regulative Idee, d. h. ein ziemlich mageres Ding, das mit der Praxis wenig zu tun hatte. Wir haben es erst seit wenigen Jahren im internationalen Sinne zu lernen begonnen, die Eroberung der politischen Macht zu einem praktischen Ziele zu machen. Und wie sehr das Ziel keine nur philosophische Idee, sondern praktische Idee ist, beweist die Tatsache, dass wir in Russland ein ganz festes Datum haben, den 7. November 1917, an dem eine kommunistische Partei an der Spitze der Arbeiterklasse die politische Macht im Staat erobert hat.

Die Geschichte, wie man die Macht erobert hat, kann man Stunde für Stunde erzählen, was zu tun ich jedoch gar nicht beabsichtige. Aber diese Geschichte beweist, dass es sich dabei nicht um automatisch „objektiv” sich vollziehende Ereignisse, sondern um ganz praktische politische Bemühungen und Maßnahmen handelt.

Im Moment der Eroberung der politischen Macht steigert sich unsere politische Taktik zur revolutionären Strategie im konkretesten Sinne des Wortes. Am 7. November hat unsere Partei durch diese revolutionäre Strategie, die gewissermaßen die Potenz der gesamten vorhergehenden Politik darstellte, die Macht im Staate erobert. Das bedeutete nicht – und dies erwies sich mit voller Klarheit erst später –, dass der Bürgerkrieg zu Ende war. Im Gegenteil, erst nach der Eroberung der politischen Macht hat der Bürgerkrieg bei uns im weiten Umfange begonnen. Das ist eine Tatsache, die nicht nur geschichtliches Interesse hat, sondern aus der man manche wichtige Lehren für die westeuropäischen, überhaupt für die internationalen Parteien ziehen kann.

Warum ist es so gekommen, dass bei uns der Bürgerkrieg erst nach dem 7. November mit voller Wucht eingesetzt hat und wir später im Norden, im Süden, im Westen und im Osten fast fünf Jahre hindurch ohne Unterbrechung Bürgerkrieg haben führen müssen? Das ist eine Folge der Tatsache, dass wir die Macht so leicht erobert haben. Es ist oft gesagt worden, dass wir unsere besitzenden Klassen überrumpelt bitten. In gewissem Sinne ist das richtig! Das Land war politisch eben erst aus der zaristischen Barbarei herausgekommen. Das Bauerntum hatte fast keine politische Erfahrung, das Kleinbürgertum eine winzige, die mittlere Bourgeoisie eine, dank den Dumas usw., etwas größere, der Adel eine gewisse Organisation in den Semstwos usw. Also die großen Reserven der Konterrevolution: die reichen Bauern, für gewisse Augenblicke auch die mittleren Bauern, das mittlere Bürgertum, die Intellektuellen, dann das gesamte Kleinbürgertum, diese Reserven waren sozusagen noch intakt, noch fast unberührt, und erst als das Bürgertum zu verstehen begann, was es verlor, wenn es die Macht verlor, suchte es mit allen Mitteln, wobei es selbstverständlich die erste Stelle an den Adel, die adeligen Offiziere usw. abtrat, die potentiellen konterrevolutionären Reserven in Bewegung zu setzen. Daher ist der lang andauernde Bürgerkrieg die geschichtliche Revanche für die Leichtigkeit, mit der uns die Macht zufiel.

Aber – Ende gut, alles gut! Wir haben die Macht im Laufe dieser Jahre doch behauptet. Für die Arbeiterbewegung der ganzen Welt kann man jetzt schon mit einer gewissen Bestimmtheit feststellen, dass die kommunistischen Parteien bei Euch es viel schwerer vor der Eroberung und viel leichter nach der Eroberung der Macht haben werden. In Deutschland wird alles, was gegen das Proletariat nur mobil gemacht werden kann, mobil gemacht werden, von Italien gar nicht zu reden, wo man heute schon die vollendete Konterrevolution hat, noch ehe es zu einer auch nur vorübergehend siegreichen Revolution gekommen ist. Mussolini und seine Faschisten konnten – da sie dank dem Fiasko der Revolution von 1920, der nur eine revolutionäre Partei fehlte, schon im ganzen Lande Einfluss gewonnen hatten – jetzt die Macht ergreifen, und das Bürgertum hat ihnen diese Macht übergeben. Mussolini aber repräsentiert die Organisierung und Zusammenfassung aller Kräfte, die gegen die Revolution, plus mancher Kräfte, die noch für die Revolution zu gewinnen sind. Doch in dieses Thema will ich mich nicht weiter vertiefen, da es die Aufgabe eines anderen Vortrags ist.

In Frankreich, in England, überall sehen wir, dass die Bourgeoisie, gewitzigt durch das russische Beispiel und gewappnet mit der gesamten geschichtlichen Erfahrung der demokratisch-kapitalistischen Länder, alles organisiert und mobilisiert, was nur in Bewegung zu setzen ist. Das beweist, dass alle diese Kräfte schon jetzt dem Proletariat im Wege stehen und dass das Proletariat, um die Macht zu ergreifen, alle diese Kräfte mit seinen revolutionären Mitteln neutralisieren, paralysieren, bekämpfen und besiegen muss. In dem Moment aber, wo sich das Proletariat der Macht bemächtigt haben wird, werden fast keine neuen Reserven der Konterrevolution dastehen, und das Proletariat wird nach Eroberung der Macht in Westeuropa und der übrigen Welt eine viel größere Ellbogenfreiheit für seine schöpferische Arbeit haben, als wir sie in Russland hatten. Der Bürgerkrieg war bei uns in Russland nicht nur eine militärische Erscheinung – selbstverständlich war er mit Verlaub der geehrten Pazifisten militärisch, aber nicht nur militärisch – sondern im Grunde eine politische Erscheinung. Es war der Kampf um die politischen Reserven, in erster Linie um das Bauerntum, und dank der Tatsache dass das Proletariat durch seine schonungslose Taktik im Bürgerkriege dem Bauerntum bewiesen hat, dass es nur zwischen dem Adel und dem Proletariat zu wählen habe, dank dieser konsequenten und schonungslosen revolutionären Strategie hat das Proletariat das Spiel gewonnen.

Denn dauernd schwankend zwischen dem Bürgertum, der Demokratie und dem Proletariat hat die Bauernschaft in letzter Stunde, als es wirklich keinen dritten Ausweg mehr gab, sich für das Proletariat entschieden und es nicht nur mit dem demokratischen Stimmzettel, sondern mit den Waffen unterstützt.

Die demokratischen Parteien, und das glaube ich, wird auch in Westeuropa nicht viel anders sein, die sozialistischen Parteien inbegriffen, waren stets die Zutreiber der feudalen Konterrevolution. Sie wissen, Genossen, dass wir vor wenigen Tagen durch die Rote Armee Wladiwostok besetzt haben. Damit schließt die lange Kette aller Fronten des Bürgerkrieges. Zu diesem Abschluss schreibt der allbekannte Führer der liberalen Partei, Miljukow, in seinem Pariser Blatte ein paar Zeilen, die ich klassisch nennen möchte. Er skizziert hier die Rolle der demokratischen Parteien. „Diese traurige Geschichte”– sie war immer eine traurige Geschichte (Heiterkeit) – „beginnt mit der Verkündung (der Artikel datiert vom 7. September) einer allgemeinen Einmütigkeit der antibolschewistischen Front. Merkulow (der Chef der Konterrevolution im Osten) hat anerkannt, dass die Nichtsozialisten, d. h. die rechten Elemente, ihren Sieg in hohem Maße den demokratischen Elementen zu verdanken hatten. Aber die Unterstützung der Demokratie – sagt Miljukow – ist von Merkulow nur dazu benutzt worden, um die Macht der Bolschewiki zu stürzen. Darauf übernahmen die Macht diejenigen Elemente, die die Demokraten eigentlich als versteckte Bolschewiki betrachteten.”

Diese Zeilen können banal erscheinen, weil wir an derartiges bereits genügend gewöhnt sind. Aber man erinnere sich, dass diese Geschichte sich immer wiederholt. So war es zuerst mit Koltschak, dann mit Denikin, dann mit Judenitsch und dann mit der englischen und französischen Okkupation, früher auch bei Petljura, in der Ukraine; an allen unseren Grenzen wiederholte sich mit langweiliger Monotonie derselbe Vorgang: die Bauernschaft wird von der Sozialdemokratie der Reaktion zugetrieben, wird von der letzteren betrogen und missbraucht, dann kommt der Moment der Reue, dann der Sieg der Bolschewiki. Und dann beginnt dieselbe Geschichte an irgendeiner anderen Stelle der Arena des Bürgerkrieges. Und trotzdem diese Mechanik so simpel und allbekannt ist, kann man schon jetzt sagen, dass sie nichtsdestoweniger von den sozialistischen Elementen in der Zeit schärfster Zuspitzung des Bürgerkrieges in allen Ländern wiederholt werden wird.

Wir haben viele Fehler begangen. Das hat Genosse Lenin gestern bereits erwähnt. Doch, ich glaube, im Bürgerkriege haben wir ziemlich gut, d. h. konsequent und schonungslos gehandelt, Und ich glaube, dass ein Buch über unsere revolutionäre Politik während dieser Jahre, vom Standpunkte des Bürgerkrieges für das internationale Proletariat geschrieben, ein ziemlich lehrreiches Buch sein würde.

Nach der Eroberung der politischen Macht beginnt nicht nur die Verteidigung mit den Mitteln des Bürgerkrieges, sondern auch der Aufbau des Staates und – was besonders schwierig ist – „der neuen Wirtschaft”. Ich kann auf sehr viele Ausführungen, die ich machen wollte, verzichten, da wir gestern Abend und heute den wirklich prachtvollen Vortrag der Genossin Zetkin angehört haben. Ich werde mich im Rahmen der notwendigsten Ergänzungen halten. Nachdem die politische Macht gesichert ist, was die erste Vorbedingung ist, hängt der Aufbau der sozialistischen Wirtschaft von verschiedenen Faktoren ab: der Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte, dem allgemeinen Kulturniveau des Proletariats und der politischen Situation im nationalen wie im internationalen Rahmen.

Ich habe diese drei Faktoren der Reihenfolge ihrer grundlegenden Bedeutung nach aufgezählt. Aber die Sowjetregierung als subjektiver geschichtlicher Faktor fand sie in der entgegengesetzten Reihenfolge vor: zuerst die politische Situation, dann das kulturelle Niveau des Proletariats und erst in letzter Linie die Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte. Das ist ganz klar. Wir mussten unsere wirtschaftliche Tätigkeit in dem Rahmen und dem Tempo führen, wie sie in erster Linie der Bürgerkrieg erheischte, und nicht immer läuft die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit der politischen Notwendigkeit parallel. Das Wichtigste ist, dass man versteht (wenn man überhaupt in der Geschichte unseres sogenannten Zickzackkurses etwas verstehen will), dass das politisch Notwendige und Unausbleibliche nicht immer parallel dem ökonomisch Zweckmäßigen läuft.

Wir haben in der Elementarschule des Marxismus gelernt, dass man von der kapitalistischen Gesellschaft zur sozialistischen nicht mit einem Sprung kommen kann, und niemand von uns hat den berühmten Engelsschen „Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit” in dieser mechanischen Art interpretiert; niemand hat geglaubt, dass man von heute auf morgen die Gesellschaft ummodeln kann. Engels meinte damit eine große Epoche, die vom großen geschichtlichen Standpunkt aus einen wirklichen „Sprung” bedeutet. Nun, wir haben es doch ziemlich sprunghaft (im engeren Sinne des Wortes) gemacht mit der Nationalisierung, mit den Versuchen der Sozialisierung. Es ist hier schon erwähnt worden, dass wir es in erster Linie unter dem Druck des Bürgerkrieges machen mussten, weil, wie gesagt, der Adel, die Bourgeoisie, das Kleinbürgertum vor der Eroberung der politischen Macht keine Möglichkeit gehabt haben, sich zu überzeugen, dass wir, die Arbeiterklasse, die unwiderrufliche geschichtliche Macht darstellen, und dass man sich unter das Joch des Proletariats beugen muss. Sie hatten bis zum 7. November keine Möglichkeit, diese wichtige Lehre zu ziehen. Wir mussten sie ihnen erst nach der Machteroberung beibringen. Worin äußerte sich das? Darin, dass jede Fabrik, jede Bankfiliale, jedes Sprechzimmer eines Advokaten und Arztes natürlich derjenigen, die eine Praxis hatten, d. h. der reicheren, sich unmittelbar nach der Eroberung der Macht in Stützpunkte der Konterrevolution verwandelten.

Um nach, der Eroberung der politischen Macht die kleinen und mittleren Fabriken den Besitzern noch eine Zeitlang zu überlassen, musste man mit ihnen zu einem Abkommen gelangen, musste man von ihnen verlangen, dass sie sich den Gesetzen der neuen Macht unterwerfen. Das war absolut ausgeschlossen. Niemand von diesen Leuten wollte uns ernst nehmen. Das war die böse Geschichte, niemand wollte uns ernst nehmen. Und da hatten wir die ziemlich schwere Aufgabe. sie darüber zu belehren, dass wir ernst zu nehmen seien, und das konnte man nicht anders machen, als ihnen das, was ihre Macht begründete, zu konfiszieren, in die Hände des Staates zu nehmen, Wie anders? Die einen von ihnen trieben die Arbeiter aus den Fabriken, sperrten die Betriebe oder verwandelten ihre Wohnungen in Asyle für Konterrevolutionäre usw.

Es ist ganz natürlich, dass die Gebote des Bürgerkrieges in diesem Falle höher standen, als die Rücksicht auf die ökonomische Zweckmäßigkeit. Also das Bürgertum wurde nicht systematisch expropriiert, nicht allmählich, in dem Maße, in dem wir das Eigentum des Bürgertums zu organisieren und zu verwerten imstande gewesen wären, sondern in dem Maße, in dem man den unmittelbar uns mit dem Tode bedrohenden Feind niederwerfen musste. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Selbstverständlich: wenn und inwieweit die westeuropäischen Parteien es nach der Eroberung der Macht leichter haben werden, werden sie auch die Möglichkeit haben, viel systematischer, viel vorsichtiger auf dem Gebiete der Expropriation vorzugehen. Man wird in dem Maße expropriieren, in dem man das Expropriierte auch ökonomisch, organisatorisch wird ausnützen können, Selbstverständlich wird aber die politisch militärische Rücksicht immer der ökonomischen Systematik vorangehen. Nun zurück zu unserer Frage.

Nachdem wir viel mehr expropriiert hatten, als wir imstande waren zu verwerten, nachdem alle die Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft als feindliche Zitadellen zerstört waren, befand man sich in der Situation der Notwendigkeit, diese große und ziemlich desorganisierte Erbschaft irgendwie zu organisieren. Der Bürgerkrieg dauerte fort, und auch die Organisation der Wirtschaft ging unter dem Drucke der militärisch-ökonomischen Bedürfnisse des Bürgerkrieges vor sich. Auf diese Weise entstand unser Kriegskommunismus, Er bedeutete in erster Linie das Erfordernis, dem Staat und der Armee Brot zu verschaffen, und zwar unter der Anwendung aller Mittel, in erster Linie durch das Mittel der bewaffneten Macht. Er bedeutete ferner die Notwendigkeit, aus dieser desorganisierten, von dem Bürgertum und seinen technischen Lakaien sabotierten Industrie das für die Armee und den Bürgerkrieg Erforderliche herauszupressen und herauszuziehen. Nun, da der gesamte Apparat, der das früher leitete, in Scherben lag, hatten wir keine andere Möglichkeit, als den Versuch zu machen, diesen Apparat durch einen zentralisierten Apparat des Staates zu ersetzen. Das war aber tatsächlich nur ein Ersatzapparat für die Erfordernisse des Krieges.

Sie werden fragen, ob wir keine Hoffnung hatten, aus diesem Stadium ohne große Rückzüge, also auf einem mehr oder weniger direkten Wege zum Kommunismus überzugehen? Wir müssen gestehen, dass wir tatsächlich in dieser Zeit die Hoffnung auf ein rascheres Tempo der revolutionären Entwicklung in Westeuropa hatten. Das stimmt! Und auch jetzt können wir mit voller Bestimmtheit sagen, dass, wenn das Proletariat in Deutschland, in Frankreich und überhaupt in Europa sich im Jahre 1919 der Macht bemächtigt hätte, dann die ganze Entwicklung bei uns eine ganz andere Gestalt angenommen hätte.

Marx hat im Jahre 1883 an einen Theoretiker der russischen Volkstümler, der Narodniki, geschrieben, dass, wenn in Europa das Proletariat die Macht ergreift, bevor die russische Obschtschina, die russische Dorfgemeinde, das Gemeindeeigentum an Grund und Boden im Dorfe, von der Geschichte vollständig abgetragen ist, auch die Dorfgemeinde in Russland zum Ausgangspunkt der kommunistischen Entwicklung werden könnte. Und er hatte vollständig recht, Mit desto größerem Rechte konnten wir annehmen, dass, wenn das Proletariat in Europa im Jahre 1919 die Macht ergriffen hätte, es damals unser zurückgebliebenes Land mit seinen Ersatzorganisationen und mit seinem wirtschaftlichen Ersatzapparat ins Schlepptau genommen und uns technisch und organisatorisch geholfen hätte, und dass wir schließlich dadurch, wenn auch mit vielen Korrekturen an unserem primitiven Kriegskommunismus, doch allmählich ohne große Rückzüge immer vorwärts schreitend, die Entwicklung zum Kommunismus durchgemacht haben würden. Das hatten wir gehofft, und es war kein Verbrechen, denn selbstverständlich konnte niemand voraussagen, ob diese Entwicklung in langsamerem oder rascherem Tempo vor sich gehen würde. Sogar die 2½ Internationale hat ja im Jahre 1919 die Diktatur anerkannt. Es war wirklich nicht so utopistisch, auch vom Standpunkt des Tempos und nicht nur vom Standpunkt der Entwicklungstendenz aus betrachtet. Vergessen wir einmal für einen Moment, dass wir Sprünge nach vorwärts und dann nach rückwärts gemacht haben, und geben wir einem internationalen Kongress wie diesem darüber Rechenschaft, was im Großen und Ganzen geschehen ist, so können wir sagen: im März 1917 wurde der Zarismus gestürzt, im Oktober 1917 hat sich das Proletariat der Macht bemächtigt, dann hat es begonnen, seine Macht zu verteidigen und zur selben Zeit seinen Staat und seine Wirtschaft zu organisieren; im Laufe dieser fünf Jahre machte es den Grund und Boden, die wichtigsten Industrieunternehmungen, alle Eisenbahnen und die wichtigsten Wassertransportbetriebe zu Staatseigentum und ließ nur die ganz unbedeutenden Unternehmungen, von denen ich noch ausführlicher sprechen werde, in den Händen der Bourgeoisie als Pächter. Der Arbeiterstaat kontrolliert den Handel und spricht das entscheidende Wort auf dem Markt. Der Staat bekommt vom Bauer, der den dem Staate gehörenden Boden bebaut, eine Naturalsteuer und verwertet sie, um die Industrie auf staatliche Kosten und für staatliche Zwecke zu entwickeln, Jeder wird sagen: Ja, für ein ziemlich zurückgebliebenes Land ist der sozialistische Fortschritt sehr bedeutend: Nun aber besteht das Unglück darin, dass dieser Fortschritt nicht auf dem Wege einer allgemeinen, in derselben Richtung fortlaufenden Entwicklung, sondern sprunghaft oder im „Zickzackkurs” erreicht worden ist. Da sagen uns unsere Feinde, das sei der Anfang der Kapitulation, Und hierin liegt der springende Punkt

Warum mussten wir den Rückzug antreten? Diese Frage muss ausführlicher behandelt werden. Die wichtigste Aufgabe der Organisation der Wirtschaft besteht in der Verteilung der Produktivkräfte und der Arbeitskräfte unter die verschiedenen Zweige der nationalen Wirtschaft, in erster Linie unter die Landwirtschaft und Industrie. Für die sozialistische Verteilung und Organisierung dieser Kräfte sind Methoden nötig, die das siegreiche Proletariat selbst in den entwickeltsten Ländern erst im Laufe von Jahren und vielleicht Jahrzehnten zu entwickeln fähig sein wird, Unsere Surrogate konnten nur für die Zwecke der Kriegsindustrie ausreichen. Warum? Ganz klar. Stellen sie sich die gesamte Situation vor. Unter dem Kapitalismus vollzieht sich die Verteilung der Produktivkräfte entsprechend den Gesetzen des freien Marktes, der Konkurrenz, des Angebots und der Nachfrage, Durch Krisen und Prosperitätsperioden wird immer ein gewisses Gleichgewicht einmal hergestellt, dann wieder gestört. So ging es bis zum Jahre 1914. Dann kam der Krieg. Er bedeutete in ökonomischer Hinsicht eine große Deformation der Wirtschaft, ihre größte Desorganisation. Dann kamen die beiden Revolutionen, die die Wirtschaft im Inventar ihres Produktionsapparate, auch schrecklich geschädigt hatten. Wir standen vor diesem Chaos, mit den Nachklängen der kapitalistischen „Harmonie”, die wir stets als Anarchie bezeichneten, und die doch eine gewisse „Harmonie” in dem Sinne darstellte, als sie ein gewisses sozial notwendiges Verhältnis zwischen verschiedenen Produktionszweigen hergestellt hatte. Diese Nachklänge also, durch vom Kriege hervorgerufene Deformation verzerrt und durch die Sabotage des technischen Personals kompliziert, hatten wir vor uns, während wir gleichzeitig vor der Frage standen, die Armee zu ernähren und den Arbeitern ein Stück Brot zu verschaffen.

Für diese letzteren Zwecke reichte, wie gesagt, unsere primitive zentralistische Methode aus. Aber es ist absolut ausgeschlossen dass man für die sozialistische Wirtschaft auf einmal eine aprioristische Statistik aufstellt, das heißt dass man einen großen Strich durch die kapitalistischen Organisationsmethoden macht und dann auf Grund einer allgemeinen Berechnung der Bedürfnisse, der Arbeitsfähigkeit und der materiellen Elemente der Wirtschaft den Sozialismus zur Welt bringt. Das ist ausgeschlossen. Man bemächtigt sich also der kapitalistischen Methoden und des materiellen Produktionsapparates, der Organisation der Wirtschaft, der Verteilung der Produktion und der Arbeitskräfte, nachdem man sich natürlich vorerst der Macht bemächtigt hat. Man trägt an Hand der Erfahrung immer und immer neue Korrekturen ein, die von zweierlei Gesichtspunkten geleitet sind: von den vorhandenen Materialmöglichkeiten einerseits und den durch die Revolution geänderten Bedürfnissen andererseits. Durch diese Korrekturen nähert man sich immer mehr dem Zustande, bei dem man wirklich durch einen zentralistischen Plan die Wirtschaft leiten kann, bei dem ein zentralistischer Plan besteht, der auf vorausgegangener Erfahrung und dem akkumulierten Reichtum basiert und elastisch genug ist, um die notwendige Anpassungsfähigkeit an die lokalen und sogar individuellen Bedürfnisse zu entwickeln.

Zwischen der kapitalistischen Anarchie und diesem Zustande liegt also die Entwicklung der im Entstehen begriffenen sozialistischen Wirtschaft mit kapitalistischen Mitteln. Das ist eben unsere Situation. Ich möchte nicht gern den Terminus „Staatskapitalismus” gebrauchen. Auch Lenin hat gesagt, man dürfte diesen Terminus nur mit einer gewissen Einschränkung und Reserve gebrauchen, denn selbstverständlich besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was man jetzt bei uns öfter „Staatskapitalismus” nennt, und zwischen dem wirklichen Staatskapitalismus. Die Reformisten meinten immer, der Sozialismus würde auf dem Wege progressiver Nationalisierung zustande kommen. In Frankreich lautete das Programm Jaurès’ so: die progressive Sozialisierung der demokratischen Republik. Wir dagegen betonen immer, dass man dadurch im besten Falle nur zum Staatskapitalismus gelange, denn solange das Bürgertum herrsche, würde auch der Staatskapitalismus das kollektive Instrument des Bürgertums, immer nur der Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiterklasse dienen.

Nun haben wir aber jetzt in Russland eine andere Situation. Wir haben eine Situation, in der der Arbeiterstaat sich der Industrie bemächtigt hat und diese Industrie nach den Methoden des kapitalistischen Marktes, der kapitalistischen Kalkulation, leitet, Wir hatten eine Epoche in der russischen Entwicklung – ich glaube, man kann in der Entwicklung anderer Länder und Völker viele Parallelen finden – der das russische Bürgertum zur Zeit der Leibeigenschaft Fabriken besaß – man nannte sie damals Possessionsfabriken – die die Arbeit der leibeigenen Bauern verwendeten, Das war eine Entwicklung moderner Produktion unter der Form alter Rechtsverhältnisse. Das geschah aber unter der Herrschaft des Zarismus und des Adels, Wir haben jetzt ein großes geschichtliches Experiment vor uns, das von der geschichtlichen Notwendigkeit diktiert ist, bei dem eine neue Klasse eine neue Wirtschaft aufbaut, und dabei die alten Methoden anwendet, die noch nicht zu ersetzen sind, weil keine neuen da sind, denn die neuen können sich nur aus den alten entwickeln.

Wir haben mit dieser Wendung zur neuen Politik bei der Bauernschaft angefangen. Die politischen Ursachen dafür sind auch schon von Lenin genannt und erklärt worden. Das ist aber erst ein Teil der allgemeinen Aufgabe der Einteilung der Produktivkräfte und der Arbeitskräfte im Rahmen einer nationalen Wirtschaft. Da es bei der Bauernschaft am schwierigsten war, wegen ihrer wirtschaftlichen Zersplitterung und kulturellen Rückständigkeit, kamen wir dazu, die neue ökonomische Politik gerade von diesem weiten Gebiete aus zu beginnen.

Ich werde ein Beispiel anführen, das uns beweist, dass die NEP nicht nur ein Zugeständnis an die Bauernschaft, sondern eine notwendige Etappe in der sozialistischen Entwicklung des Proletariats war. Es betrifft die Eisenbahnen. Gerade die Eisenbahnen, der Eisenbahntransport, das Eisenbahnnetz ist dasjenige Unternehmen, das bei uns schon unter dem Kapitalismus zu einem großen Teile nationalisiert und durch die Technik selbst bis zu einem gewissen Grade normalisiert und zentralisiert war. Wir haben also die eine Hälfte vom Staate übernommen, die andere, kleinere Hälfte den Privatgesellschaften abgenommen. Wir sind jetzt im Besitze des ganzen Eisenbahnnetzes. Die wirklich sozialistische Verwaltung hat das natürlich als Ganzes zu betrachten, nicht vom Standpunkte des Eigentums der einen oder der anderen Eisenbahnlinie, sondern vom Standpunkte der Transportinteressen des gesamten Landes. Sie hat die Lokomotiven und Waggons unter die Eisenbahnlinien zu verteilen, wie es die Interessen des wirtschaftlichen Lebens des Landes erfordern. Denn die Lokomotiven haben verschiedene Typen, weil sie zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Gesellschaften in verschiedenen Fabriken hergestellt worden sind; verschiedene Werkstätten remontieren und reparieren gleichzeitig verschiedene Lokomotiven. Es gilt, die Lokomotiven nach Typen zu gliedern, die Eisenbahnen auf verschiedene Werkstätten zu verteilen. Es ist eine Typisierung, d, h. eine technische Vereinheitlichung der Lokomotiven und ihrer Bestandteile zu fordern und rücksichtslos durchzuführen. Die kapitalistische Gesellschaft vergeudet ja ungeheure Lebenskraft durch die Mannigfaltigkeit, die Buntscheckigkeit der Bestandteile ihres sachlichen Produktionsapparates. Da ist es notwendig, mit der Typisierung des Transportwesens, des Eisenbahnwesens zu beginnen, weil sie hier am leichtesten ist.

Die. Typisierung ist, wie bei uns mit Recht gesagt worden ist, der Sozialismus der Technik. Es ist ebenso wichtig, die Wirtschaft zu typisieren, wie sie zu elektrifizieren. Die Technik wird ohne Typisierung nicht zu höchstem Triumphe gelangen. Nun, wir haben es versucht, sind aber sogleich auf große Hindernisse gestoßen. Die Tatsache, dass die Eisenbahn einer Gesellschaft gehörte, brachte es mit sich, dass jede Eisenbahnlinie, als Ganzes genommen, ihre Rechnung mit der ganzen Wirtschaft über den Markt vollzog und ihre Bilanz immer auf dem Tisch hatte. Diese Tatsache war ökonomisch notwendig, aber technisch, wie gesagt, sehr schädlich. Ökonomisch war sie unter den gegebenen Verhältnissen unausbleiblich, denn ob man eine Linie unterhalten oder fallen lassen darf, das hängt ganz davon ab, inwieweit sie ökonomisch notwendig ist. Ob man mit Hilfe dieser Linie etwas befördert –. das kann man entweder durch die Gesetze des Marktes kontrollieren oder durch die allgemeine statistische sozialistische Rechnungslegung der Wirtschaft. Diese letzteren Methoden haben wir noch nicht, Es sind das die feinsten Methoden der sozialistischen Berechnung, die sich erst entwickeln müssen. Man hat also die alten Methoden durch den Krieg und die Revolution verloren. Sie sind beseitigt worden, während neue noch nicht da waren. Man konnte zwar, soviel man wollte, diese Typisierung, diesen technisch-sozialistischen Neubau des Eisenbahnnetzes durchführen, aber man verlor dabei den Kontakt zwischen der einzelnen Eisenbahnlinie und der gesamten Wirtschaft. Wie man die Waggons und die Arbeitskraft zu verteilen hat, kann man einstweilen nur mit Hilfe kapitalistischer Kalkulation feststellen. Dadurch, dass man jede Reise, jede Beförderung von Waren bezahlen lässt und die Bilanz aufstellt, wird man in den Stand gesetzt, jede einzelne Eisenbahnlinie und das gesamte Transportwesen als Ganzes abzuschätzen und in späterer Zeit auch zentralistisch zu leiten. Somit mussten wir auch in dieser Beziehung einen Rückzug vornehmen und einzelne Eisenbahnlinien oder auch ganze Gruppen derselben als etwas mehr oder weniger Selbständiges bis zu einem gewissen Moment bestehen lassen. Das beweist, dass man mit abstrakten technischen Zielen und Bedürfnissen. die an und für sich vollständig gerechtfertigt sind, mit formal sozialistischen Zielen allein nicht über gewisse wirtschaftliche Etappen in der Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus hinwegkommt.

Dasselbe bezieht sich natürlich in noch weit höherem Maße auf industrielle Unternehmungen. Man hat z. B. Maschinenfabriken im Ural, im Süden, im Gouvernement Brjansk usw., und man hat Kohlen, Rohmaterialien und andere Materialien auf Grund der Einschreibungen in den Büchern des zentralen Apparats in Moskau unter ihnen zu verteilen. Dadurch verlor man vollständig die Fühlung mit der Wirklichkeit, d. h. man wusste nicht, ob die Fabrik gut arbeitet oder schlecht, ob sie die Kohlen gut verwendet oder nicht, denn man hatte eine ziemlich zweifelhafte zentrale Statistik und keine wirtschaftliche, kommerzielle Kalkulation für jedes Unternehmen als solches, das gewissermaßen als Zelle des sozialistischen Organismus, nicht aber als auf eigene Verantwortung wirtschaftendes Unternehmen funktionieren muss und seine Nützlichkeit dem Arbeiterstaate zu beweisen hat. Die Möglichkeit dazu gibt die neue ökonomische Politik, die nichts anderes ist als der langsamere Aufbau der sozialistischen Wirtschaft durch den Arbeiterstaat, mit Hilfe der Methoden der Kalkulation, der Rechnungslegung und Einschätzung der Zweckmäßigkeit des Unternehmens, die durch die kapitalistische Entwicklung geschaffen worden sind. Wir sind auf diese Weise dazu gekommen, den Markt wiederherzustellen.

Der Markt braucht aber ein allgemeines Äquivalent. Dieses Äquivalent sieht bei uns ziemlich miserabel aus. Genosse Lenin hat ja schon ausführlicher darüber gesprochen, dass die Stabilität des Rubels erreicht werden müsse und dass unsere Versuche in dieser Richtung nicht ganz erfolglos geblieben sind. Unsere Industrie klagt jetzt dauernd über Mangel an Betriebskapital, und in diesen Klagen hört man öfters die Töne des kapitalistischen Fetischismus, ohne dass wir den Kapitalismus hätten – den haben wir im wirklichen Sinne keinesfalls, denn wenn wir unseren Zustand auch Staatskapitalismus nennen, so geschieht das doch nur, wie gesagt, in sehr konventionellem Sinne und ich vermeide lieber diese Benennung – aber der Fetischismus ist uns von der alten Zeit her geblieben und steckt noch bei manchen Genossen im Hirn. Diesen Teufel haben wir sofort auf die Beine gebracht.

Man klagt, unser Finanzkommissariat gäbe nicht genügend Geld. Hätten wir für unsere Fabrik nur ein paar miserable Rubel mehr gehabt, so hätten wir weiter produzieren können. Als Ersatz für diese miserablen Rubel hätte man sogleich Leinwand, Schuhe oder andere notwendige Dinge bekommen. Wir leiden also an einer Krise des Betriebskapitals. Was bedeutet das? Da wir die Verteilung der Produktivkräfte durch kapitalistische Methoden jetzt durchführen, nehmen selbstverständlich alle unsere Schwierigkeiten ein Gesicht an, das wir von der kapitalistischen Gesellschaft zu sehen gewohnt sind. Die metallurgischen Betriebe z.B. verfügen über kein genügendes Quantum Betriebskapital. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir vor allem sehr arm sind und zur Belebung der Industrie beginnen müssen, unsere technischen und finanziellen Kräfte dort anzuwenden, wo es am dringendsten ist. Am dringendsten aber ist es da, wo der Konsum beginnt, – bei den Arbeitern, Bauern und roten Soldaten. Es ist also klar, dass finanzielle Mittel in erster Linie dorthin wandern. Erst wenn die Fertigfabrikatindustrie sich entwickelt, wird die Möglichkeit für eine gesunde Entwicklung der Schwerindustrie entstehen. Die Fertigindustrie arbeitet jetzt für den Markt, das heißt, dass sie in die Arena der Konkurrenz zwischen den verschiedenen staatlichen und privaten Unternehmungen getreten ist, und erst dadurch wird man sich gewöhnen, gut zu arbeiten. Dies Ziel kann man weder durch moralische Erziehung und Predigten noch durch eine zentralistische Wirtschaft ganz erreichen, sondern nur dadurch, dass jeder Verwalter einer Fabrik nicht nur vom Staate, von oben, sondern auch von unten, vom Konsumenten daraufhin kontrolliert wird, ob seine Produkte Absatz finden und bezahlt werden, d. h. gut sind. Das gibt die beste Kontrolle über das Gebaren des Unternehmers und seine Verwaltung. In dem Maße, wie die Fertigfabrikatindustrie uns die Möglichkeit gibt, dem Lande reale Reichtümer zu entnehmen, und dabei Profit abwirft, bekommen wir auch eine Grundlage für die Schwerindustrie.

Also, die Finanzkrisen der Industrie erklären sich aus der ganzen Entwicklung der Ökonomie, Selbstverständlich kann unser Finanzkommissariat nicht sofort ein jedes Unternehmen, das vorgibt, mit Betriebskapital arbeiten zu können, durch Ausgabe von Emissionen unterstützen. Was würde das bedeuten? Erstens natürlich, dass der Markt diese überflüssigen Emissionen ausgegeben hätte, und zwar derart, dass der Sturz des Rubels so katastrophal würde, dass die summarische Kaufkraft aller Emissionen geringer wäre, als die der heutigen Rubelquantität. Und zweitens würde das bedeuten, dass wir aus der Emission einen Faktor der Desorganisation der Wirtschaft machen, denn wenden wir schon kapitalistische Methoden an, so müssen wir sie nur sehr sorgfältig korrigieren und uns nicht barbarisch einmischen, indem wir Emissionen hinaus schleudern und ein vollständiges Chaos in die Wirtschaft hineinbringen.

Gewiss kann man mit vollem Recht über die NEP sagen, dass hier eine große Gefahr vorliegt, denn reicht man dem Teufel den Finger, wird man ihm auch die Hand, den Arm und schließlich den ganzen Körper geben müssen. Der Markt, die Konkurrenz, der freie Getreidehandel, – was zieht all das nach sich? Eine Zunahme der Bedeutung des Handelskapitals in erster Linie, eine steigende Akkumulation desselben. Das Handelskapital, einmal vorhanden, dringt auch in das produktive Leben, in die Industrie ein. Es erhält vom Staate Industrieunternehmungen in Pacht. Darauf haben wir die Akkumulation auch in der Industrie und nicht mehr im Handel allein. So sehen wir, wie der wirkliche Kapitalismus – denn die Spekulanten, die Vermittler, die Pächter sind die wirklichen Kapitalisten, die sich im Arbeiterstaat breit machen – immer und immer stärker wird, sich eines immer größeren Teiles der nationalen Ökonomie bemächtigt und dadurch den Sozialismus, der im Entstehen begriffen ist, zunichte macht und letzten Endes sich auch der Staatsmacht bemächtigt. Denn das wissen wir so gut wie Otto Bauer. dass die Ökonomie die Basis und die Politik der Überbau ist. Indem die neue ökonomische Politik den kapitalistischen Kräften, die immer die verfluchte Tendenz haben, durch die Akkumulation des Kapitals zu wachsen, freien Spielraum lässt, laufen wir dauernd Gefahr – Bauer bezeichnet es jedenfalls immer als einzige rettende Perspektive, um nicht ganz kaputt zu gehen – vom Kapitalismus ganz überwunden zu werden. Abstrakt, theoretisch gesprochen, war es nicht ausgeschlossen, dass Koltschak und Denikin sich Moskaus bemächtigten. Wir standen im Kampfe. Es war ein militärischer Kampf, und als man uns fragte, ob nicht wirklich die Gefahr bestünde, dass Koltschak nach Moskau käme oder noch früher die Regimenter der Hohenzollern nach Moskau gelangten, antworteten wir: Selbstverständlich ist das eine Möglichkeit, die im Verlaufe des Kampfes durch eine Niederlage unserer Truppen zur Wirklichkeit werden kann. Wir wollen aber den Sieg, nicht die Niederlage. Und wie liegen die Dinge heute? Wir stehen heute ebenfalls in einem Kampf. Die bäuerliche Landwirtschaft ist die Basis. Wenn im Bürgerkriege eigentlich um die Seele des Bauern gerungen wurde; wenn von der Roten Armee einerseits, von den Adligen und Bürgerlichen andererseits darum gekämpft wurde, die Bauern auf ihre Seite zu ziehen, so geht heute der Kampf zwischen dem Arbeiterstaat und dem Kapitalismus in erster Linie nicht um die Seele, sondern um den Markt des Bauern. Im Kampfe muss man immer die Mittel des Feindes und die eigenen Mittel richtig einschätzen. Welches sind unsere Mittel? Unser Hauptmittel ist vor allem die Staatsmacht, ein ausgezeichnetes Mittel im ökonomischen Kampfe. Das beweist die ganze Geschichte des Bürgertums und unsere kurze Geschichte bestätigt das. Weitere Mittel sind: der Besitz der wichtigsten Produktivkräfte, einschließlich der Transportmittel des Landes, der Grund- und Bodenbesitz, der die Möglichkeit gibt, vom Bauern die Naturalsteuer einzutreiben. Dazu kommt die Armee und alles übrige. Das sind unsere Aktivposten.

Wenn der sich entwickelnde Kapitalismus, der sogenannte Staatskapitalismus, sich weiter entwickelt, steigert er sich nicht zu einem wahren Kapitalismus, sondern zu einem wirklichen Sozialismus. Je besser der sogenannte Staatskapitalismus gedeiht, desto mehr nähert er sich dem Sozialismus. Das ist keine Gefahr für uns, sondern die Gefahr besteht in der Entwicklung des wirklichen Privatkapitalismus, der freien Spielraum erhält. Dieser wirkliche Kapitalismus macht unserer Staatswirtschaft und Staatsindustrie Konkurrenz. Und nun frage ich: über welche Mittel verfügt er? Er hat keine Staatsmacht und genießt keine große Sympathie bei der Staatsmacht. Im Gegenteil, die Staatsmacht bemüht sich, ihn im Zaum zu halten, was notwendig ist, damit der junge Bursche sich nicht zu sehr aufbläst, und seine Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Schere zum Wegschneiden des Überflüssigen befindet sich immer in der Hand des Arbeiterstaates.

Hierzu gehören in erster Linie die Steuern. Ferner verfügt der Staat auch über die verpachteten Industrieunternehmen, Ich muss hier ein paar Zahlen anführen, da man gerade in diesem Punkt von einer Kapitulation spricht. Lassen wir das Transportwesen außer Betracht (die Zahl der gesamten Transportarbeiter beträgt 956.952), da es vollständig in den Händen des Staates bleibt, und berücksichtigen wir nur die reinen als Trusts geleiteten Industrieunternehmen, so beschäftigen wir gegenwärtig bei der sehr misslichen Lage unserer Wirtschaft eine Million Arbeiter. In den Fabriken, die wir verpachtet haben, sind dagegen 80.000 Arbeiter beschäftigt. Aber nicht nur das ist das Ausschlaggebende, sondern auch die Höhe der Technik der Unternehmen, Von der Technik gibt Ihnen die Tatsache ein Bild, dass im Durchschnitt die Zahl der Arbeiter in den verpachteten Unternehmen 18 ist, in den Staatsbetrieben dagegen 250.

Also die wichtigsten, technisch am besten eingerichteten Unternehmen sind vollständig im Besitze und Betriebe des Staates. Ich sagte, eine Million Arbeiter sind in den staatlichen Unternehmen beschäftigt, 80.000 Arbeiter in den verpachteten, konzessionierten Unternehmen. Doch selbst diese 80.000 Arbeiter sind nicht alle in Privatunternehmen, da die Hälfte dieser Unternehmen nicht von Privatkapitalisten betrieben werden, sondern von Konsumgenossenschaften oder von einzelnen Kommissariaten, die die Unternehmen vom Staate gepachtet haben und auf eigenes Konto wirtschaften, so dass also in den vom Staate verpachteten rein privatkapitalistischen Unternehmen nicht mehr als ca. 40-45.000 Arbeiter arbeiten, gegenüber der Million Arbeiter in den Staatsunternehmen. Die ganze Geschichte ist ja neueren Datums. Bis nun dieses Privatkapital wirklich das Staatskapital überholt haben wird, haben wir noch reichlich Zeit, alles zu berechnen und, wenn notwendig, zu ändern. Ich glaube aber, wenn die Revolution im Westen in den nächsten Jahren nicht eintritt, wird sich unser Privatkapital längere Zeit entwickeln können, ohne die Stufe des Staatskapitals auch nur im entferntesten zu erreichen.

Auf dem Gebiete des Handels spielt das Privatkapital jetzt schon eine größere Rolle. Es ist ziemlich schwer, es ziffernmäßig einzuschätzen. Unsere Sachverständigen, die nicht immer das sind, was sie zu sein vorgeben – nicht nur aus Mangel an gutem Willen, sondern auch infolge objektiver Gründe – meinen, das private Handelskapital bilde jetzt ungefähr 30 % des im Umlaufe befindlichen Handelskapitals, wahrend die übrigen 70 % von den Staatsinstitutionen und den Konsumgenossenschaften, die vom Staate subventioniert und eigentlich vom Staate geleitet sind, bestritten werden.

Diese beiden Prozesse laufen also nebeneinander her und sind auch gleichzeitig einander entgegengesetzt. Trotz alledem unterstützen sie einander in derselben Zeit. Das Privatkapital gruppiert sich um unsere Staatstrusts, macht ihnen Konkurrenz und wird doch auch wieder von ihnen genährt. Andererseits wären unsere staatlichen Unternehmen nicht imstande, zu wirtschaften, wenn sie auf die Lieferungen gewisser kleinerer Privatunternehmen verzichten müssten. Unsere Staatsunternehmen machen jetzt die Periode der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation durch. Wenn wir keine Kredite bekommen, so werden wir als isolierter Nationalstaat, wenn auch nicht ganz im Sinne von [Friedrich] List, unsere Wirtschaft weiter entwickeln müssen, indem wir nicht im kapitalistischen, sondern im sozialistischen Sinne akkumulieren, Auf der anderen Seite vollzieht sich von neuem der Prozess der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation, und welcher dieser beiden Prozesse schneller verlaufen wird, wird die Wirklichkeit lehren. Die größeren Vorteile, die Trümpfe befinden sich in den Händen des Arbeiterstaates. Man kann sie natürlich auch verlieren. Aber die gegebene Situation analysierend, sehen wir alle Vorteile auf unserer Seite, einen jedoch ausgenommen, nämlich: hinter dem Rücken des Privatkapitals, das bei uns jetzt zum zweiten Male die Epoche der ursprünglichen Akkumulation durchmacht, steht das Weltkapital. Wir sind noch immer vom Kapitalismus eingekreist. Daher kann und soll man auch die Frage aufwerfen, ob unser beginnender Sozialismus, der noch mit kapitalistischen Mitteln wirtschaftet, nicht von dem wirklichen Kapital aufgekauft wird.

Nun, zum Aufkaufen gehören immer zwei Parteien, eine, die kauft, und eine, die verkauft. Die Macht ist bei uns in den Händen des Arbeiterstaates. Die wichtigsten Industrien und der Außenhandel sind monopolisiert. Daher hat das Monopol für uns eine prinzipielle Bedeutung. Das ist der Schutz gegen den Kapitalismus, der den beginnenden Sozialismus aufkaufen will! Wie es aber mit den Konzessionen steht, hat Gen. Lenin Ihnen schon gesagt: Große Diskussionen, kleine Konzessionen, (Heiterkeit.) Man hat ja öfters hervorgehoben, der Weltkapitalismus befände sich in einer schrecklichen Krise und man brauche Sowjetrussland, England brauche den russischen Markt, Deutschland brauche Getreide, usw. Abstrakt genommen, scheint das ganz richtig zu sein, wenn man die Welt pazifistisch, vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes, der ja immer pazifistisch ist (Heiterkeit), betrachtet. Es scheint also, als würde das englische Kapital mit allen Kräften auf Russland lossteuern, um Russland ökonomisch zu belegen, während Deutschland nachhinken würde. Das ist aber nicht der Fall. Warum? Weil wir uns in einer kritischen Epoche des gestörten ökonomischen Gleichgewichts befinden und weil das Kapital nicht die Möglichkeit hat, große ökonomische Pläne zu entwerfen und zu verwirklichen. Russland bedeutet für England gewiss ein großes Reservoir, aber nicht des morgigen Tages. In einem Tage wird der russische Markt die noch immer eine Million zählende Arbeitslosenarmee Englands nicht beseitigen können. Vielleicht würde er das im Verlaufe von drei, fünf oder zehn Jahren erreichen, aber dann muss man auch seine Rechnung für zehn Jahre aufstellen. Und dies ist unmöglich. Alles ist jetzt so unsicher in dieser zerrütteten Welt!

Darum ist die ganze ökonomische Politik der kapitalistischen Regierungen nur von heute auf morgen berechnet. Das bedingt die gesamte Weltsituation. Und weil man sich bewusst ist, dass Russland für morgen keine Rettung bedeutet, vertagt man immer und immer wieder den Beginn der angekündigten Konzessionen, Kredite usw., usw. Es ist völlig grundlos, zu befürchten, wir könnten von diesen Konzessionen überhäuft und erdrückt werden. Sie sehen ja, dass wir im Zentralorgan unserer Partei jetzt eine Reihe langer Artikel einer sehr großen Konzession – der Konzession an Urquhart – widmen, in denen wir kühl berechnen, vielleicht mit manchem Rechenfehler, was ich zugebe, ob diese Konzession uns nützlich oder schädlich ist. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass das Heft sich in den Händen des Arbeiterstaates befindet. Der Arbeiterstaat erwägt, ob er diese oder jene Konzessionen vergeben will oder nicht.

Mit einem Wort: die Gefahr, dass der wirkliche Kapitalismus, dessen Entwicklung unvermeidlich ist, wenn man ihm den freien Markt gegeben hat, dem Arbeiterstaat über den Kopf wächst, ist viel geringer als die Möglichkeit der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse Europas. Das bedeutet für uns eine Politik des Durchhaltens, bis die Arbeiterklasse Europas und der übrigen Welt sich der Staatsmacht bemächtigt hat.

So ungefähr müsste, glaube ich, die Antwort an die Neunmalweisen der seligen oder wenigstens auf dem Sterbebette sich befindenden 2½ Internationale lauten. Zu unserem vierten Jubiläum hat Otto Bauer unserer Wirtschaft eine Broschüre gewidmet, in der er über die neue ökonomische Politik in säuberlich logischer Form all das sagt, was unsere Feinde aus dem sozialdemokratischen Lager zu sagen pflegen. Erstens sei natürlich die neue ökonomische Politik eine Kapitulation, aber eine gute Kapitulation. Denn dass das endgültige Ergebnis der russischen Revolution eben nichts anderes sein könne als eine bürgerlich-demokratische Republik, habe er schon im Jahre 1917 vorausgesagt. Doch erinnere ich mich, dass im Jahre 1919 die Prophezeiungen bei diesen Herren, bei Otto Bauer und der 2½ Internationale etwas anders klangen. Denn damals gaben sie den Beginn der sozialrevolutionären Epoche zu. Niemand wird glauben, dass, wenn der Kapitalismus in der gesamten Welt seinem Untergange zustrebt, im revolutionären Russland, das von der Arbeiterklasse beherrscht wird, seine Blütezeit einsetzen wird.

Also im Jahre 1917, als Otto Bauer noch den jungfräulichen Glauben an die Felsenfestigkeit des Kapitalismus hatte, schrieb er, die russische Revolution könne nur mit dem bürgerlichen Staate ein Ende nehmen. Der sozialistische Opportunist ist in der Politik immer impressionistisch. Von den Wellen der Revolution überschwemmt und überrumpelt, hat er im Jahre 1919 erkannt: das ist der Anfang der sozialrevolutionären Epoche, Da nun jetzt, Gott sei Dank, die Wellen der Revolution nicht so hoch gehen, kehrt er schleunigst zu seiner Prophezeiung vom Jahre 1917 zurück, denn er hat immer zwei Prophezeiungen auf Lager, die er nach Wunsch verwenden kann. (Heiterkeit.) Weiter führt er dann aus: „Es ist eine kapitalistische Wirtschaft, die wir so wiedererstehen sehen, eine kapitalistische Wirtschaft, in Russland, die von der neuen Bourgeoisie beherrscht wird, die sich auf die Millionen Bauernwirtschaften stützt und der sich die Gesetzgebung und das Verhalten des Staates notgedrungen anpassen müssen.” Also schon vor einem Jahre hat er proklamiert. dass die Wirtschaft und der Staat bei uns von der neuen Bourgeoisie beherrscht werden. Es ist weiter selbstverständlich auch die Verpachtung der Unternehmen, von denen ich Ihnen erzählt habe, also ungefähr 40.000 Arbeiter in den schlechteren. kleineren Unternehmen gegenüber der Million Arbeiter in den besten Unternehmen des Staates, ebenfalls eine „Kapitulation der Sowjetmacht vor dem industriellen Kapital”. Um dem allen einen guten Rahmen zu geben, erzählt er folgendes: „Nach langem Zögern hat sich die Sowjetregierung jetzt endlich (!!!) entschlossen, die zaristischen Auslandsschulden anzuerkennen.”

Da manche Genossen natürlich unsere Geschichte nicht immer genau im Gedächtnis haben, muss ich Sie daran erinnern, dass wir durch ein Radio vom 4. Februar 1919 allen kapitalistischen Regierungen folgendes vorgeschlagen hatten:

a) Anerkennung der Schuldenverpflichtungen der früheren Regierungen Russlands,

b) Verpfändung unserer Rohmaterialien als Sicherstellung für die Zahlung der Anleihen und der Prozente,

c) Verleihung von Konzessionen – nach ihrem Belieben,

d) territoriale Zugeständnisse in Gestalt von militärischen Okkupationen gewisser Distrikte durch Streitkräfte der Entente

Das alles haben wir durch ein Radio vom 4. Februar 1919 der kapitalistischen Welt vorgeschlagen, und im April desselben Jahres haben wir das noch ausführlicher und genauer dem nichtoffiziellen amerikanischen Bevollmächtigten Bullit wiederholt. Nun, Genossen, wenn man diese Vorschläge mit denjenigen, die unsere Vertreter auch in Genua und in Den Haag gemacht oder richtiger zurückgewiesen haben, vergleicht, so sieht man, dass wir auf dieser Bahn uns nicht in der Richtung einer Erweiterung der Zugeständnisse, sondern im Gegenteil in der Richtung einer festeren Haltung unserer Ansprüche den anderen gegenüber entwickelt haben.

Freilich, diese Entwicklung führt zur „Demokratie”, das ist ganz klar und zwischen Otto Bauer und Martow längst abgemacht. Es bestätigt sich abermals Marx Lehre – belehrt uns Bauer –. dass der Umwälzung der ökonomischen Basis die Umwälzung des ganzer politischen Überbaues folgen muss. Es ist ganz richtig, dass mit der Veränderung der ökonomischen Basis sich auch der Überbau ändert, aber erstens ändert sich die ökonomische Basis nicht ganz nach dem Diktat von Otto Bauer und auch nicht ganz nach dem Diktat des Herrn Urquhart, der in dieser Frage ein gewichtigeres Wort zu sagen hat. Andererseits, insoweit sich die ökonomische Basis wirklich verändert, geschieht es in solchem Tempo und Umfang, dass wir weit davon entfernt sind, über diesen Prozess die politische Kontrolle zu verlieren. Das Bürgertum hat auch den Arbeitern manche Reformen gegeben, mancherlei Konzessionen an die Arbeiterklasse gemacht. Das sollte man nicht vergessen; manche Experimente waren von Anfang an ziemlich gewagt, z.B. das des allgemeinen Wahlrechts. Marx hat die gesetzliche Verkürzung des Arbeitstages in England den Sieg eines neuen Prinzips genannt. Welches Prinzips? Des Prinzips der Arbeiterklasse. Aber zwischen dem partiellen Siege dieses Prinzips der Zukunft bis zur Eroberung der politischen Macht durch die englische Arbeiterklasse liegt eine ganze große geschichtliche Periode. Wir brauchen aber kein so langes Moratorium, Wir müssen und können ruhig sagen, dass wir selbstverständlich, wenn die Konzessionen an die kapitalistischen Methoden einerseits und an die kapitalistische Welt andererseits sich weiter entwickeln, akkumulieren, vertiefen, multiplizieren, potenzieren, schließlich zu einem Moment kommen können, wo die Basis solche Veränderungen erlitten haben wird, dass der Überbau des Arbeiterstaates notwendigerweise zusammenbrechen muss. Aber das ist ja eben die Dialektik in der Sache, dass erstens der Überbau, einmal geschaffen, selbst wieder ein Faktor der Beeinflussung der Basis wird; und dass diese Basis ihrerseits festesten Halt in diesem Überbau gewinnt; zweitens, dass wir nicht mit der Ewigkeit rechnen, sondern mit einer gewissen geschichtlichen Periode, bis die großen westlichen Reserven, die zur Avantgarde werden müssen, auf die Bühne kommen, Wenn man die geschichtlichen Ereignisse nicht quantitativ, sondern nur qualitativ abmisst – und die Quantität schlägt ja in Qualität um, was Sie als Dialektiker wissen – wenn man weiter die geschichtliche Entwicklung von dem Faktor Zeit, selbst in der relativen Interpretation Einsteins, befreit, wenn man die Geschichte zeitlos nimmt, in die Ewigkeit hinein spekuliert, dann ist selbstverständlich die neue ökonomische Politik für uns absolut tödlich: Denn wenn sie ewig dauert, wird der Sozialismus nie zu seinem Triumph gelangen. Das ist ungefähr die ganze Weisheit des Herrn Otto Bauer. Nur meint er zum Schlusse noch, dass wir die Veränderung des Überbaues beschleunigen müssten. Er sagt: „Der Wiederaufbau einer kapitalistischen Wirtschaft kann nicht unter der Diktatur einer kommunistischen Partei erfolgen. Der neue Kurs in der Volkswirtschaft erheischt einen neuen Kurs in der Politik.“

Der Mann also, der es in Österreich so weit gebracht hat (Heiterkeit), erklärt uns: Wissen Sie, der Kapitalismus kann doch unter der Diktatur Eurer Partei nicht zum Aufblühen kommen. Nun, eben deshalb behalten wir ja die Diktatur unserer Partei! (Große Heiterkeit, Beifall.)

Es gibt jedoch noch eine wichtige Frage, Genossen, die ich nicht beantwortet habe. Ich meine die Frage der Produktivität der Arbeitsleistung

Der Sozialismus ist ein Wirtschaftssystem, der Kapitalismus ein anderes. Die Vorzüge des Sozialismus können nicht durch Vorträge bewiesen werden, sondern nur durch eine erhöhte Arbeitsleistung. Denn ebenso, wie die kapitalistische Wirtschaftsweise vor der feudalen den Vorzug hatte, die menschliche Arbeit leistungsfähiger gemacht zu haben, besitzt auch der Sozialismus den gleichen Vorzug vor dem Kapitalismus. Wir sind nun sehr arm, das ist die entscheidende Tatsache, und wenn man uns von dieser Seite ansieht, können unsere Feinde viel ernstere Argumente ins Feld führen. Die landwirtschaftliche wie die industrielle Produktion sind im Vergleich zur Vorkriegszeit wesentlich zurückgegangen. Nun aber macht der Ernteertrag des letzten Jahres ungefähr ¾ eines durchschnittlichen Ernteertrages vor dem Kriege aus, und die Erzeugnisse der Industrie betragen in diesem Jahre ungefähr ¼ der Industrieerzeugnisse vor dem Kriege. Auf den ersten Blick scheint hierin eine große Gefahr verborgen zu sein. Wir stützen uns auf die Industrie, während die Landwirtschaft den Boden für die Akkumulation des Privatkapitals abgibt. Nun soll man nicht vergessen, dass der Bauer den größten Teil seiner Produktion für sich selbst, für den Selbstbedarf produziert. Wenn er in diesem Jahre ¾ der Ernte der Vorkriegszeit erreicht hat, ist er imstande, bestenfalls nur 100 Millionen Pud auf den Markt zu werfen, nachdem er seine Naturalsteuer (314 Millionen Pud) an den Staat abgeliefert hat. Für das Privatkapital wie für das Handelskapital, das sich in den Händen des Staates befindet, kommt nur dasjenige Quantum der landwirtschaftlichen Produktion in Betracht, das auf den Markt kommt. Und dieses Quantum ist ziemlich klein und wird kaum schneller wachsen als die industrielle Entwicklung.

Jedenfalls haben wir durch Tatsachen noch nicht bewiesen, dass der Sozialismus im Vergleich zum Kapitalismus eine vorteilhaftere Methode der Wirtschaft ist, denn wir sind ärmer als das Land vor dem Kriege und auch vor der Revolution war. Das ist eine Tatsache. Sie erklärt sich aus einer anderen Tatsache, nämlich daraus, dass die Revolution als System einer wirtschaftlichen Umwälzung ein sehr kostspieliges Unternehmen ist. Das haben alle Revolutionen der Welt bewiesen, Nehmen wir die Große Französische Revolution. In Genua hat der französische Sachverständige, jetzt Justizminister Frankreichs, Collerat, zu dem Genossen Litwinow (oder Tschitscherin) gesagt: „Ihr habt überhaupt kein Recht, in ökonomischen Dingen mitzusprechen, denn vergleichen Sie den Zustand Ihres Landes mit dem unsrigen.” Nun ist der Zustand des heutigen Frankreich auf kapitalistischer Basis aus der Großen Französischen Revolution hervorgegangen, und Frankreich, wie es heute vor uns steht, mit seinen Reichtümern, seiner Zivilisation und Korruption, wäre ohne seine Große Französische Revolution undenkbar. Und derselbe Collerat spricht selbstverständlich am 14. Juli von der Großen Französischen Revolution als der Mutter der modernen Demokratie. Ich habe auf seine Rede hin ein paar geschichtliche Werke nachgeschlagen, so die des französischen Historikers Taine und die Geschichte des Sozialismus von Jaurès und habe folgende Tatsachen festgestellt: Erstens, nach dem 9. Thermidor, also nach dem Beginn der konterrevolutionären Ära, setzt die Verarmung Frankreichs erst recht ein. Zehn Jahre nach Beginn der Revolution, d. h. unter dem ersten Konsul Bonaparte, bekam Paris täglich nur 300 bis 500 Sack Mehl, während es als Minimum 1500 Säcke benötigte. Also Paris, das damals eine Stadt von 500.000 Einwohnern darstellte, bekam am zehnten Jahre der bürgerlichen Revolution lediglich bis ¼ seiner notwendigsten Nahrungsmittel.

Ein weiteres Beispiel. In derselben Zeit, im 9. und 10. Jahre der französischen Revolution, ist in 37 von 58 Departements die Bevölkerungszahl zurückgegangen, und zwar durch Hunger, Epidemien usw. Bitte, im 10. Jahre! Wir aber stehen erst am Anfang des 6. Jahres, Das Bild, das wir jetzt darstellen, ist nicht beneidenswert, aber es ist viel günstiger als das Bild, das Frankreich nach zehn Jahren seiner bürgerlich demokratischen Revolution laut statistischen Aufstellungen bot. Jedenfalls sehen wir, dass die Geschichte durch zeitweilige Verwüstungen ihr Ziel verwirklicht, indem sie die Potenzierung der menschlichen Arbeit verfolgt. Das ist nun einmal die disharmonische Manier der Geschichte, für die wir nicht verantwortlich sind. Gerade in den letzten Tagen fiel mir eine Rede in die Hand, die ich ganz besonders den französischen Genossen empfehlen möchte. Es ist die Rede des französischen Chemikers Berthollet, des Sohnes des berühmten Berthollet, der als Delegierter der Academie des Sciences folgendes gesagt hat (ich übersetze aus den, „Temps"):

In allen Epochen der Geschichte war es auf dem Gebiete der Wissenschaften wie auf dem Gebiete der Politik und der sozialen Erscheinungen immer das grandiose und schreckliche Privilegium der bewaffneten Konflikte, die Geburt neuer Zeiten durch Blut und Eisen zu beschleunigen.”

Natürlich meint er in erster Linie die Kriege, und er hat auch recht, dass die Kriege, insbesondere die Kriege, die ein neues geschichtliches Prinzip verteidigen, eine große Stoßkraft ausgeübt haben. Aber er spricht im allgemeinen von bewaffneten Konflikten. Diejenigen revolutionären Konflikte, die Verwüstungen bedeuten, bedeuten zu gleicher Zeit auch die Geburt neuer Epochen, Somit kann man feststellen, dass die Ausgaben, die Unkosten der Revolution keine „faux frais”, keine unnützen Ausgaben sind, und wir fordern von unseren Freunden – und sie werden uns das gewähren – noch eine Frist von 5 Jahren, um im zehnten Jahre der Revolution auf wirtschaftlichem Gebiet nicht nur durch Spekulationen, sondern durch materielle Tatsachen die Kraft des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus zu beweisen.

Wenn die kapitalistische Welt aber noch mehrere Jahrzehnte existiert, nun ja, – dann würde dies für das sozialistische Russland das Todesurteil bedeuten. Wir haben jedoch in dieser Beziehung kein Bedürfnis, die Ansichten, Feststellungen und Thesen, die wir auf dem 3. Kommunistischen Kongress formuliert haben, zu bezweifeln oder zu ändern, Der englische Minister des Auswärtigen, Lord Curzon, hat in einer Rede, die er am 9. November, genau am Geburtstage der deutschen Republik, gehalten hat, die Weltlage vortrefflich charakterisiert. Ich weiß nicht, ob die Genossen das gelesen haben. Ich will deshalb ein paar Sätze dieser Rede vorlesen. Er sagte am 9. dieses Monats:

Alle Mächte gehen aus dem Kriege mit geschwächten und gebrochenen Kräften hervor. Wir tragen eine schwere Steuerlast, unter der die Industrie des Landes leidet. Wir haben eine Menge Arbeitsloser in allen Arbeitszweigen. Was die Lage Frankreichs anbelangt, so ist dieses Land mit einer ungeheuren Verschuldung belastet und ist nicht imstande, die Reparationen zu erhalten. Deutschland befindet sich im Zustande politischer Labilität und sein wirtschaftliches Leben ist durch eine furchtbare Währungskrise gelähmt. Russland bleibt immer noch außerhalb der Familie der europäischen Völker. Es steht noch immer unter dem Banner des Kommunismus“ (er ist also nicht ganz mit Otto Bauer einverstanden) (Heiterkeit) „und führt seine kommunistische Propaganda in allen Weltteilen fort.“ (Was gar nicht wahr ist!) (Heiterkeit.)

Italien ist durch eine Reihe innerer Erschütterungen und Regierungskrisen durchgegangen.“ (Bei weitem noch nicht durchgegangen, sondern geht erst durch.) (Heiterkeit)

Der Nahe Osten befindet sich im Zustande eines völligen Chaos. Eine solche Lage ist schrecklich.”

Eine bessere Propaganda im Weltmaßstabe können auch die russischen Kommunisten nicht machen. „Eine solche Lage ist schrecklich”, konstatiert zum fünften Jubiläum der Sowjetrepublik der berufenste Vertreter des stärksten Reiches Europas. Und er hat recht. Nur muss man die schreckliche Lage ändern.

Ich habe einmal auf die Frage eines italienischen Korrespondenten, wie wir jetzt die Weltlage einschätzen, in ziemlich banaler Form geantwortet: „Der Kapitalismus ist schon unfähig zu herrschen“ – was Herr Curzon ja eben vollständig bestätigt hat – „die Arbeiterklasse ist noch nicht fähig dazu. Das ist das Merkmal unserer Epoche.” Und vor drei oder vier Tagen bekomme ich aus Berlin von einem Freunde einen Ausschnitt aus einer der letzten Nummern der „Freiheit”, worin es heißt: „Kautskys Sieg über Trotzki” (Heiterkeit) und in dem steht, die „Rote Fahne” habe keinen Mut, sich gegen meine Kapitulation vor Kautsky zu wenden, – obwohl die „Rote Fahne” immer den Mut hatte, sich gegen mich zu wenden, auch wenn ich manchmal recht hatte. Doch das gehört zum dritten Kongress und nicht zum vierten. (Beifall und Heiterkeit.) Ich hatte also gesagt: „Der Kapitalismus ist wohl unfähig, die Arbeiterklasse ist noch nicht fähig das ist das Merkmal unserer Epoche.” Dazu bemerkte nun die selige „Freiheit”: „Was Trotzki hier als seine Ansicht erklärt, war bisher Kautskys Meinung.” Also ein Plagiat! Sie wissen ja, das Interviewgeben ist kein angenehmer Beruf und es geschieht niemals aus freiem Willen, sondern immer auf Befehl unseres Freundes Tschitscherin. Bei uns bleibt doch manches zentralisiert und die Erteilung eines Interviews erfolgt aus dem Kommissariat des Auswärtigen heraus. (Heiterkeit.) Wenn man sich einem Interview unterwerfen muss, so sagt man natürlich immer die plattesten Dinge. die man gerade auf Lager hat. (Lebhafte Heiterkeit.) Ich habe nicht daran gedacht, dass diese Feststellung, dass der Kapitalismus schon unfähig, der Sozialismus dagegen noch nicht fähig sei, die Macht auszunützen, eine Erfindung von mir sei. Jetzt findet man dazu als geistigen Vater den Kautsky. Ich habe mir ganz ehrlich Mühe gegeben, zu verstehen, worin meine Kapitulation besteht, Die Tatsache, dass das Proletariat dazu noch nicht fähig ist, besteht eben darin, dass bei der Arbeiterklasse noch sehr starke Traditionen und Einflüsse des Kautskyanismus vorhanden sind. (Heiterkeit.) Darin liegt gerade seine Unreife, die Macht zu ergreifen, und diesen Gedanken habe ich, ohne Kautsky zu nennen, denn jedermann weiß, was damit gemeint ist, dem italienischen Korrespondenten gegenüber geäußert.

Der Kapitalismus befindet sich in einer geschichtlichen Krise. Die Arbeiterklasse ist heute noch nicht fähig, dieser Krise durch Ergreifung der politischen Macht ein Ende zu machen.

Wir haben uns auf dem dritten Weltkongress – dass muss hier erwähnt werden – bemüht, in unseren Reden sowohl, als auch in unseren Thesen mit aller Schärfe den Unterschied zwischen der geschichtlichen Krise des Kapitalismus und einer Konjunkturkrise festzulegen. Sie erinnern sich auch der Diskussionen, die aus diesem Grunde damals stattgefunden haben, teils in der Kommission, teils im Plenum. Nun diktiert uns ein eminent praktisches Interesse, diese Thesen gerade in diesem Punkte zu bestätigen, denn manche Genossen haben sich damals, von der Voraussetzung der geschichtlichen Krise ausgehend, die Sache so vorgestellt, als oh die Krise, sich automatisch verschärfend, ökonomisch das Proletariat revolutioniere, indem es in gerader Linie seine Angriffsmethoden verschärfe und es bis zum Aufstand treibe. Wir haben betont, dass im Rahmen der geschichtlichen Krise des Kapitalismus die Wellen der Zyklen, des Konjunkturwechsels unvermeidlich seien, und dass der akuten Konjunkturkrise, die im Jahre 1920 begann, unvermeidlich in der gesamten kapitalistischen Welt eine gewisse Besserung, d. h. zunächst eine Einstellung der Verschlechterung, später aber auch eine größere oder geringere Besserung folgen müsse. Mancher Genosse meinte nun damals, das sei ein Hinneigen zum Opportunismus in der Absicht, ein Mittel zu finden, die Revolution überhaupt. zu vertagen.

Stellen wir uns einmal vor, wie wir heute daständen, wenn wir diese mechanische Theorie einer sich dauernd verschärfenden Krise akzeptiert hätten, und uns heute der Tatsache gegenübergestellt sähen, dass in den wichtigsten Ländern des Kapitalismus die Krise einer Besserung oder einer Stagnation, die nach der Krise schon eine Besserung bedeutet, Platz gemacht hat. In den Vereinigten Staaten, dem mächtigsten Lande, haben wir eine Prosperität. Wie lange sie dauern wird, und ob sie tiefe Wurzeln, die eine längere weitere Entwicklung garantieren, besitzt, ist eine Frage für sich. Der Zustand Europas ist gegeben. Ebenso die Zersetzung der ganzen Welt. Diese Tatsachen bestehen und sie bestimmen die große geschichtliche Krise. Aber auch die Konjunkturbesserung besteht. Wir müssten heute unsere Auffassung über den revolutionären Charakter unserer Epoche ändern, revidieren, einer neuen theoretischen Prüfung unterwerfen, wären wir damals jenen Genossen gefolgt, die von uns forderten, dass wir das Prinzip anerkennen, wonach die Krise immer und unter allen Umständen ein revolutionärerer Faktor sei als die Prosperität, und anerkennen, dass wir keinen Grund hätten, die Möglichkeit einer Verbesserung der ökonomischen Situation unseren Thesen einzuverleiben.

Dies wäre ein großer Fehler gewesen! Nein. wir hatten vollständig recht, und jetzt stehen wir bewaffnet vor unseren Gegnern der 2. und 2½ Internationale. Nicht deshalb haben wir diese Epoche als revolutionär aufgefasst, weil 1920 eine akute Konjunkturkrise die Scheinprosperität des Jahres 1919 abgelöst hat, sondern wegen unserer Einschätzung der gesamten Weltsituation und ihrer Zusammenhänge. Ich meine, das ist eine Lehre, die manchem Genossen nützlich sein wird, so dass wir das größte Interesse haben, unsere Thesen vom dritten Kongress zu bestätigen.

Auch soweit wir damals in unseren Thesen und Reden den Anfang einer neuen Etappe proklamierten, und soweit manche Genossen uns beschuldigten, dass wir sie etwas zu weit ausdehnten, dass wir das Visier zu weit nähmen, glaube ich, waren wir in unseren Thesen Im Recht. Ich erinnere mich, wie Genosse Lenin in einer seiner Reden auf dem dritten Kongress oder vielleicht in einer Kommission des Kongresses gesagt hat: „Genossen, ja, selbstverständlich haben wir das größte Interesse daran, das Tempo der Revolution zu beschleunigen, aber wenn die Revolution in einem Jahre noch nicht kommt, auch nicht in zwei Jahren, so werden wir in Russland doch durchhalten und warten. Wir drängen Sie keinesfalls zu voreiligen Taten.” Manche Genossen sahen sich an und dachten: Zwei Jahre! Das erschien manchem Genossen als etwas Schreckliches. Nun sind schon fünfviertel Jahre verflossen. Wir sind der Revolution näher gekommen, aber noch nicht ganz nah. Russland ist jetzt viel eher und mit größter Sicherheit imstande zu sagen: Wenn die Weltrevolution noch ein oder zwei Jahre braucht, so wird sie Sowjetrussland noch viel fester vorfinden als heute.

Diese Perspektive ist der Tatsache entwachsen, dass wir im Jahre 1919 im internationalen Maßstabe die Bourgeoisie nicht niedergeworfen haben. Aus dieser Situation heraus entstand unser Kampf um die Eroberung der großen Massen des Proletariats, und die Entwicklung unserer Organisation und unserer Methoden. Wir waren gezwungen, Teilforderungen der Arbeiterklasse auf unsere Fahne zu schreiben, der Arbeiterklasse auch darin voranzugehen. Worin besteht der Unterschied zwischen uns und der alten Sozialdemokratie, wenn auch wir für partielle Forderungen eintreten? Er besteht zunächst in der Einschätzung des Charakters der Epoche. Das ist das Wichtigste. Das Bürgertum, als herrschende Klasse vor dem Kriege, war imstande, Konzessionen zu machen. Das 19. Jahrhundert als Ganzes kann als eine Epoche betrachtet werden, in der das Bürgertum der Arbeiterklasse und speziellen Schichten der Arbeiterklasse Konzessionen machte, Es waren Konzessionen, die stets nach der Bilanz des Bürgertums berechnet waren, auf dass seine Macht, seine Herrschaft nicht erschüttert würde. Die neue Epoche – das kann man heute mit Bestimmtheit sagen – hat nicht erst nach dem Kriege, sondern schon im Jahre 1913-1914 begonnen, Die Krise des Jahres 1913 war nicht nur eine Konjunkturkrise nach einer Prosperitätsphase, sondern der Beginn einer neuen Epoche des Kapitalismus, dessen Rahmen den Produktivkräften zu eng geworden war, Das Bürgertum wurde der Möglichkeit beraubt, weitere Konzessionen zu machen. Der Krieg hat die Lage noch verschärft. Doch das gibt uns keinesfalls das Recht, unsere Aufgabe automatisch oder fatalistisch aufzufassen, denn auch in der neuen revolutionären Epoche kann sehr wohl die eine oder andere Partei in Versumpfung geraten, und als den Weg zur Versumpfung kann man sich auch den Kampf um Teilforderungen vorstellen.

Auf dem dritten Kongress hat die überwiegende Mehrheit desselben diejenigen Elemente der Internationale zur Ordnung gerufen, von deren Seite die Gefahr drohte, dass die Avantgarde durch übereiltes Vordrängen an der Passivität oder Unreife der großen Masse der Arbeiterklasse und an der noch bestehenden Festigkeit des kapitalistischen Staates zerschelle. Darin lag die größte Gefahr, und die Mahnung des dritten Kongresses bestand darin, die Aufmerksamkeit auf diese Gefahr zu lenken. Soweit hierin ein Rückzug vorlag, ging dieser Rückzug mit dem wirtschaftlichen Rückzug Russlands parallel. Der eine oder andere Genosse konnte das in dem Sinne auffassen, dass die ganze Richtung der Internationale gegen die Linksgefahr eingestellt sei

Selbstverständlich ist das ganz verkehrt. Was damals in der konventionellen Sprache die „linke Gefahr” genannt wurde, ist lediglich eine Gefahr der Fehler, die wir selber machen können. Was die Gefahr von rechts dagegen ist und bleibt, ist die Versumpfung der kommunistischen Parteien durch den Einfluss der gesamten bürgerlichen Gesellschaft, der sich aus der gegebenen Charakteristik der Vorbereitungsepoche ergibt; denn im Jahre 1919, als mächtige Wogen der Unzufriedenheit alle Länder überschwemmten und die ganze Politik den Abglanz dieser revolutionären Bewegung darstellte, da war das Bürgertum auch politisch desorientiert. Heute in relativ ruhigeren Zeiten, da man auch partieller Forderungen wegen um die Seele der Arbeiter ringen muss, entsteht eine Lage, in der die kapitalistische Welt wieder über größere Möglichkeiten, ihre Agentur im Rahmen unserer revolutionären Weltpartei einzurichten, verfügt. Wir haben daher nicht nur das Recht, uns auf den revolutionären Charakter der Epoche zu berufen, sondern die Pflicht, den Ablauf dieser Epoche zu beschleunigen. Das geschieht durch eine sorgfältige Sanierung der Internationale, damit im Moment des Großkampfes die Internationale vollständig gerüstet und kampfbereit dastehe. Denn die Schwierigkeiten, die die westeuropäischen Parteien zu überwinden haben, sind unvergleichlich größer als diejenigen, die wir in der Revolution zu überwinden hatten. Die pazifistischen und reformistischen Illusionen sind z.B. bei weitem noch nicht verflogen. In Frankreich ist eine Blüteperiode des Pazifismus und Reformismus unvermeidlich, wenn nicht die Revolution infolge einer nicht vorauszusehenden neuen Konstellation früher eintritt. Nach den Illusionen des Krieges und Siegesrausches werden in Frankreich die kleinbürgerlichen Illusionen des Pazifismus und Reformismus in Gestalt eines Blocks der Linken zur Macht gelangen. In dieser Epoche kann eine starke Woge dieser Illusionen auch die Arbeiterklasse erfassen. Unsere französische Partei hat das eminenteste Interesse daran, ihre Reihen rechtzeitig von denjenigen zu befreien, die als Vermittler pazifistischer und reformistischer Illusionen in unseren Reihen dienen können.

Für England gilt dasselbe, Ich weiß nicht, welches das Resultat der jetzt stattfindenden Wahlen sein wird. Wenn aber die Konservativen mit den Nationalliberalen wieder ans Ruder kommen, wird diese Herrlichkeit nicht allzu lange dauern. Die Ablösung der konservativen Richtung durch eine pazifistisch-demokratische ist in England unvermeidlich. Nun stellen Sie sich einmal das Bild vor: In Frankreich „le bloc des gauches”, also eine demokratisch-pazifistische Regierung, und in England eine Arbeiterregierung im Bunde mit den unabhängigen Liberalen! Was wird da in Deutschland entstehen! In Deutschland erhalten die Lungen der Sozialdemokraten frische Luft, Wir werden eine Neuauflage des Wilsonismus auf einer breiteren Basis erhalten. Wir sind absolut nicht gegen eine neue, in ihrer Art großartige Verdummungs- und Betäubungsperiode der Arbeiterklasse durch pazifistisch-reformistische Tendenzen gesichert. Da die Epoche revolutionär ist, die Widersprüche unlösbar und die Gegensätze innerhalb des Kapitalismus selbst außerordentliche sind, kann diese Epoche nur dem letzten Aufflackern einer abbrennenden Kerze gleichen. Dadurch kann freilich, wenn nicht vorher die Revolution ausbricht – was noch keineswegs sicher ist – im Laufe einer solchen pazifistischen Hochflut, nach deren Abebben die französische und englische Arbeiterklasse die Notwendigkeit einsehen, sich nach derjenigen Partei umzuschauen, die sie noch nicht betrogen hat, selbstverständlich die größte psychologische Krise entstehen. Es muss eine Partei da sein, die die Arbeiterklasse der Welt in dieser Periode wahrscheinlicher, ja wohl unausbleiblicher pazifistischer Lügen nicht betrügt, eine Partei der Wahrheit, der schroffen, brutalen Wahrheit. Diese Partei muss die Kommunistische Partei sein.

Deshalb sind wir heute mehr denn je verpflichtet, unsere Reihen streng zu überprüfen und sie dauernd zu kontrollieren. Ein französischer Genosse – es war Genosse Frossard – hat einmal gesagt: „Le parti c’est la grande amitié” (Die Partei ist die große Freundschaft.) Das wurde später oft wiederholt. Es ist eine sehr hübsche Formel, die ich in beschränktem Sinne bereit bin, auf mein Konto zu setzen, Nur darf man nicht aus dem Auge verlieren, dass die Partei erst durch tiefgehende Auslese zu einer großen Freundschaft heranwächst. Diese Auslese muss aber sorgfältig und, wenn nötig, schonungslos sein. Mit anderen Worten: Die Partei muss erst als die große Auslese dastehen, bevor sie zur großen Freundschaft wird! (Lebhafter, langanhaltender Beifall.)

Kommentare