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Leo Trotzki 19230508 Wieder einmal die anarcho-syndikalistischen Vorurteile!

Leo Trotzki: Wieder einmal die anarcho-syndikalistischen Vorurteile!

[Nach Marxismus und Gewerkschaft. Essen 1976, S. 31-34]

Genosse Louzons neuer Artikel enthält mehr Irrtümer als seine früheren, obwohl seine Hauptargumentation eine völlig andere Richtung nimmt.

in seinen vorhergehenden Artikeln waren die Ausgangspunkte Genosse Louzons Abstraktionen, die von der Annahme ausgingen, dass die Gewerkschaften die „Arbeiterklasse als Ganzes“ repräsentierten. In meiner Antwort stellte ich die Frage: „Wo schreibt Genosse Louzon seine Artikel – in Frankreich oder auf dem Sirius?“ In seinem neuesten Artikel verlässt nun Genosse Louzon den unsicheren Boden der allgemeinen Gesetze und versucht sich auf den nationalen Boden des französischen Syndikalismus zu stellen. Ja, erklärt er, die französischen Gewerkschaften sind nicht wirklich die Arbeiterklasse als Ganzes, sondern nur die aktive Minderheit der Arbeiterklasse. Das heißt, Genosse Louzon anerkennt, dass die Gewerkschaften eine Art von revolutionärer Partei bilden. Aber diese syndikalistische Partei unterscheidet sich dadurch, dass sie in ihrer Zusammensetzung rein proletarisch ist: hier liegt ihr ungeheurer Vorteil gegenüber der Kommunistischen Partei. Und sie hat noch einen anderen Vorteil: die syndikalistische Partei lehnt die bürgerlichen Staatseinrichtungen kategorisch ab: sie „akzeptiert“ nicht die Demokratie und nimmt von daher nicht an parlamentarischen Kämpfen teil.

Genosse Louzon wird niemals müde zu wiederholen, dass wir uns mit den Besonderheiten der französischen Entwicklung und nur mit diesen beschäftigen. Nachdem er mit einer breiten Verallgemeinerung begann und dabei Marx in einen Syndikalisten verwandelte, verlässt Louzon nun England, Russland und Deutschland. Er beantwortet unsere Frage nicht, warum er selbst zur Kommunistischen Internationale gehört, zusammen mit der kleinen englischen Kommunistischen Partei und nicht zur II. Internationale, zusammen mit den englischen Gewerkschaften und der englischen Labour Party, die von ihnen unterstützt wird.

Louzon beginnt mit einem „überhistorischen Gesetz für alle Länder und endet mit der Behauptung eines besonderen Gesetzes für Frankreich. In dieser neuen Form trägt Louzons Theorie einen rein nationalen Charakter. Noch mehr, ihr wesentlicher Charakter schließt die Möglichkeit einer Internationalen aus; wie kann man über eine gemeinsame Taktik sprechen, wenn es keine gemeinsamen grundlegenden Voraussetzungen gibt? Es ist wirklich sehr schwer zu verstehen, wieso Louzon zur Kommunistischen Internationale gehört. Es ist nicht weniger schwer zu verstehen, wieso Louzon zur französischen Kommunistischen Partei gehört, da es doch eine weitere Partei gibt, die all ihre Vorteile besitzt ohne deren Nachteile.

Aber obwohl Louzon die internationale Gruppe zugunsten der nationalen verlässt, ignoriert er systematisch die „nationale“ Frage, die wir ihm in unserem vorhergehenden Artikel stellten: welche Rolle spielte die CGT während des Krieges? Die Rolle, die Jouhaux spielte, war nicht weniger verräterisch und verachtenswert als die von Renaudel. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die sozialpatriotische Partei ihr Leben und Handeln in ein bestimmtes System presste, in jämmerliche und dumme Improvisationen. Man könnte sagen, dass in Bezug auf den patriotischen Verrat die Sozialistische Partei mit ihrem festgelegten Charakter die halb syndikalistische Partei übertraf. Im Grunde war Jouhaux jedoch mit Renaudel einig.

Und wie ist es heute? Wünscht Louzon die Einheit der beiden Verbände? Wir wünschen sie. Die Internationale hält sie für notwendig. Wir sollten uns nicht darüber aufregen, wenn die Gewerkschaft Jouhaux sogar die Mehrheit gibt. Natürlich sagen wir nicht – wie Genosse Louzon das tut – dass der Syndikalismus, obwohl geführt von Jouhaux, Dumoulin und ähnlichen, die reinste Form der proletarischen Organisation ist, dass er „die Arbeiterklasse als Ganzes“ repräsentiert, usw. usw. – denn eine solche Phrase wäre eine Verzerrung der Realität. Aber wir sollten die Bildung einer größeren Gewerkschaftsorganisation in Erwägung ziehen, d.h. die Konzentration größerer proletarischer Massen, die ein breiteres Kampffeld für den Kampf der Ideen und der Taktik des Kommunismus bilden, was ein großer Gewinn für die Sache der Revolution wäre.

Aber die erste Notwendigkeit dazu ist, dass die Ideen und die Taktik des Kommunismus nicht in der Luft schweben, sondern in der Form einer Partei organisiert werden. Was Genosse Louzon betrifft, so verfolgt er seine Ideen nicht bis zum Ende, denn sein logischer Schluss wäre die Ersetzung der Partei durch eine Gewerkschaftsorganisation der „aktiven Minderheit“. Das unvermeidliche Ergebnis daraus wäre eine Ersatz-Partei und eine Ersatz-Gewerkschaft, denn die Gewerkschaften, die Genosse Louzon verlangt, sind zu unbestimmt für die Rolle einer Partei und zu klein für die Rolle einer Gewerkschaft.

Genosse Louzons Argumente, mit dem Inhalt, dass die Gewerkschaften sich nicht die Finger durch Kontakte mit Organen der bürgerlichen Demokratie schmutzig machen wollten, sind bereits ein schwaches Echo des Anarchismus. Wir können annehmen, dass die Mehrheit der Arbeiter, die in der CGTU organisiert sind, bei den Wahlen für die Kommunistische Partei stimmen werden (wenigstens hoffen wir, dass Genosse Louzon als Mitglied der Kommunistischen Partei sie dazu aufrufen wird), während die Mehrheit der Mitglieder des gelben Verbandes für die BIum-Renaudel-Partei stimmen wird. Die Gewerkschaft als Organisationsform ist nicht geeignet für Parlamentsabgeordnete. Es handelt sich nur um Arbeitsteilung auf derselben Klassengrundlage.

Oder ist es vielleicht für die französischen Arbeiter gleichgültig, was im Parlament geschieht? So denken die Arbeiter nicht. Die Gewerkschaften haben oft auf die gesetzgeberische Arbeit des Parlaments reagiert und werden das auch in Zukunft tun. Und wenn gleichzeitig kommunistische Abgeordnete im Parlament selbst sitzen, die Hand in Hand mit den revolutionären Gewerkschaften gegen die Gewalttaten und Schläge der imperialistischen „Demokratie“ arbeiten, dann ist das natürlich ein Pluspunkt und nicht ein Minus. Die französische „Tradition“ sagt, dass Abgeordnete Verräter sind. Aber die Kommunistische Partei ist ja ausdrücklich deswegen ins Leben gerufen worden, um all diese Traditionen zu beseitigen. Sollte irgendein Abgeordneter daran denken, die Klassenposition zu verlassen, dann wird er aus der Partei geworfen. Unsere französische Partei hat gelernt, dies zu tun, und jedes Misstrauen in sie ist ungerechtfertigt.

Aber Louzon beklagt sich darüber, dass in der Partei viele kleinbürgerliche Intellektuelle sind. Das ist richtig. Aber der 4. Kongress der Kommunistischen Internationale anerkannte und verabschiedete Resolutionen dazu, und diese Resolutionen blieben nicht ohne Auswirkungen. Es ist weitere Arbeit notwendig, um den proletarischen Charakter der Partei zu fördern. Aber wir werden dieses Ziel nicht mit der sich selbst widersprechenden Gewerkschaftsmetaphysik des Genossen Louzon erreichen, sondern nur durch eine systematische Parteiarbeit in den Gewerkschaften, d.h. dem wichtigsten Gebiet, und auf jedem anderen Gebiet des proletarischen Kampfs.

Es gibt bereits eine beträchtliche Anzahl von Arbeitern im Zentralkomitee der französischen Partei. Das spiegelt sich in der gesamten Partei wider. Dies ist in Übereinstimmung mit den Resolutionen, die vom 4. Kongress zur Frage der Parlaments- und Kommunalwahlen verabschiedet wurden. Und das bedeutet, dass es der Partei immer weniger an wirklich fähigen und aktiven Proletariern mangeln wird, die die wichtigsten und verantwortlichsten revolutionären Posten besetzen werden. Ich fürchte sehr, dass Genosse Louzons Ansichten einen verzögernden Einfluss auf diese grundlegende fortschrittliche Entwicklung der Avantgarde der französischen Arbeiterklasse ausüben wird. Aber ich zweifle nicht daran, dass es dem Kommunismus gelingen wird, selbst dieses Hindernis zu überwinden.

Moskau, 8. Mai 1923

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