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Leo Trotzki 19240421 Lenin und die Regierungsarbeit

Leo Trotzki: Lenin und die Regierungsarbeit

[Nach Arbeiter-Literatur, 1. Jahrgang, Nr. 7/8 (Juli-August 1924), S. 311-324]

Die Macht ist in Petersburg erobert. Man muss die Regierung bilden.

Wie sollen wir sie nennen?" dachte Lenin laut vor sich hin. „Nur keine Minister: das ist eine niederträchtige, verbrauchte Bezeichnung".

Man könnte sie Kommissare nennen," schlug ich vor, „aber es gibt jetzt sehr viele Kommissare … vielleicht – oberste Kommissare? Nein, „oberste" – das klingt schlecht. Könnte man sie nicht „Volks"-Kommissare nennen?"

Volkskommissare? Das wird vielleicht gehen, und die Regierung in ihrer Gesamtheit?"

Rat der Volkskommissare?"

Rat der Volkskommissare", Lenin fing das Wort lebhaft auf, – „das ist ausgezeichnet: das riecht nach Revolution." An diesen letzten Satz erinnere ich mich ganz genau.*

Hinter den Kulissen spielten sich schwerfällige Verhandlungen mit dem „Wikschel" (Allrussischen Vollzugsausschuss der Eisenbahnverbände), mit den linken Sozialrevolutionären usw. ab. Über dieses Kapitel kann ich indes nur wenig sagen. Ich erinnere mich nur an die grenzenlose Empörung von Lenin über die frechen Prätentionen des „Wikschels", und nicht weniger – über jene von unseren Leuten, die sich von diesen Prätentionen imponieren ließen. Aber wir führten diese Verhandlungen fort, da man mit dem „Wikschel" einstweilen rechnen musste

Auf Initiative des Genossen Kamenew wurde das von Kerenski erlassene Gesetz der Todesstrafe für die Soldaten wieder aufgehoben. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, bei welcher Behörde Kamenew diesen Antrag gestellt hatte; vermutlich bei dem Revolutionären Kriegskomitee und offenbar schon am Morgen des 25. Oktober. Ich weiß nur, dass es in meiner Gegenwart war und dass ich keinen Einspruch dagegen erhob. Lenin war nicht dabei. Es spielte sich offenbar am Morgen vor seiner Ankunft im Smolny ab. Als er von diesem ersten gesetzgeberischen Akt erfuhr, kannte seine Empörung keine Grenzen.

Unsinn!" wiederholte er. „Wie kann man eine Revolution ohne Erschießungen durchführen? Glaubt ihr denn wirklich mit allen Feinden fertig werden zu können, nachdem ihr euch entwaffnet habt? Welche Maßregelungen gibt es denn noch? Gefängnis? Wer kümmert sich im Bürgerkrieg um Gefängnis, da doch beide Parteien zu siegen hoffen?"

Kamenew versuchte zu beweisen, dass es sich nur um die Abschaffung jener Todesstrafe handele, die Kerenski speziell für Deserteure eingeführt hatte. Aber Lenin blieb unversöhnlich. Für ihn war es klar, dass dieses Dekret die Folge eines wenig durchdachten Verhaltens gegenüber den unglaublichen Schwierigkeiten war, denen wir entgegengingen.

Ein Fehler," wiederholte er immer wieder, „eine unverzeihliche Schwäche, eine pazifistische Illusion usw." Er drang darauf, dies Dekret sofort wieder aufzuheben. Man erwiderte ihm mit dem Hinweis, dass dies einen äußerst ungünstigen Eindruck erwecken würde. Jemand sagte: Das beste wird sein, wenn man einfach zur Erschießung greift, wenn es klar geworden ist, dass es einen anderen Ausweg nicht gibt. Schließlich blieben wir dabei.

Die bürgerlichen, sozialrevolutionären und menschewistischen Zeitungen bildeten gleich seit den ersten Tagen des Umsturzes ein recht einträchtiges Konzert von Wölfen, Schakalen und toll gewordenen Hunden. Nur die „Nowoje Wremja" versuchte einen „loyalen" Ton anzuschlagen.

Werden wir denn diesem Gesindel nicht endlich das Handwerk legen?" fragte Wladimir Iljitsch bei jeder Gelegenheit. „Was ist denn das, Gott verzeih's mir, für eine Diktatur!"

Die Zeitungen klammerten sich besonders an die Worte „Raube das Geraubte" und besprachen sie in jeder Weise: in Leitartikeln, in Gedichten, in Feuilletons.

Dass sie sich an dieses ,Raube das Geraubte' so festbeißen mussten!" sagte Lenin einmal mit scherzhafter Verzweiflung.

Von wem ist denn dieser Ausspruch?" fragte ich, „oder haben sie ihn vielleicht selbst erfunden?"

Aber nein doch, ich habe es ja wirklich einmal gesagt," antwortete Lenin, „gesagt und vergessen, und sie haben daraus ein ganzes Programm gemacht." Und er winkte humoristisch mit den Händen.

Jeder, der Lenin etwas kennt, weiß, dass eine seiner stärksten Seiten in der Fähigkeit lag, in jedem einzelnen Falle das Wesen von der Form zu trennen. Aber es ist sehr angebracht, zu betonen, dass er auch die Form sehr hoch einschätzte und die Macht des Formalen über die Geister kannte, das eben dadurch aus Formalem zu Materiellem wird. Seit dem Augenblick, wo die Provisorische Regierung als abgesetzt erklärt wurde, ging Lenin im Großen wie im Kleinen als Regierung vor. Wir hatten noch gar keinen Apparat; der Kontakt mit der Provinz fehlte; die Beamten sabotierten; der „Wikschel" verhinderte die telegraphische Verbindung mit Moskau; es war kein Geld da und auch keine Armee. Aber Lenin ging immer und überall mit Verordnungen, Dekreten und Befehlen im Namen der Regierung vor. Es versteht sich von selbst, dass er dabei mehr als jeder andere davon entfernt war, formale Beschwörungsformeln abergläubisch zu verehren. Er war sich zu gut dessen bewusst, dass unsere Kraft in jenem neuen Staatsapparat bestand, der von unten herauf, aus den Petrograder Arbeiterrayons aufgebaut wurde. Aber um die von oben aus den leeren oder sabotierten Kanzleien ausgehende Arbeit mit der von unten ausgehenden schöpferischen zu verbinden, war dieser Ton der formalen Bestimmtheit notwendig, der Ton einer Regierung, die heute noch in einer Leere schwebt, die aber morgen oder übermorgen schon zu einer Kraft wird und daher auch heute schon als Kraft auftritt. Dieser Formalismus war auch zu dem Zwecke notwendig, um unsere eigenen Leute zu disziplinieren. Über das kochende Element, über die revolutionären Improvisationen der fortgeschrittenen proletarischen Gruppen wurden nach und nach die Fäden des Regierungsapparats gespannt.

Lenins Arbeitszimmer und meines lagen an den entgegengesetzten Enden des Smolny. Der uns verbindende oder richtiger trennende Korridor war so lang, dass Wladimir Iljitsch im Scherz den Vorschlag machte, den Verkehr mit Fahrrädern zu unterhalten. Wir waren telefonisch verbunden, Matrosen rannten hin und her, brachten die berühmten Zettel von Lenin: kleine Papierzettel mit zwei, drei kräftigen Sätzen, mit zwei- und dreimal unterstrichenen wichtigen Worten und mit einer Schlussfrage Einige Male am Tage durchschritt ich den endlosen Korridor, in dem es wie in einem Ameisenhaufen aussah, um an einer Sitzung in Lenins Arbeitszimmer teilzunehmen. Die Frage des Kampfes stand im Mittelpunkt. Die Sorgen um das Ministerium des Äußeren überließ ich vollständig den Genossen Markin und Salkind. Ich selbst beschränkte mich auf die Abfassung einiger agitatorischer Noten und auf wenige persönliche Rücksprachen.

Der deutsche Angriff stellte uns vor die schwierigsten Aufgaben, aber es fehlte an Mitteln zu deren Lösung und auch an der elementarsten Fähigkeit, diese Mittel zu finden oder zu schaffen. Wir begannen mit einem Aufruf. Der von mir verfasste Entwurf „Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr" wurde zusammen mit den linken Sozialrevolutionären erörtert. Als neue Rekruten des Internationalismus waren die letzteren durch die Überschrift dieses Aufrufes verwirrt. Lenin dagegen billigte ihn sehr: „Das zeigt sofort die einschneidende Änderung unseres Verhaltens in der Frage der Vaterlandsverteidigung. Gerade so ist es richtig!" In einem der Schlusspunkte des Entwurfs war davon die Rede, dass jeder auf der Stelle vernichtet werden würde, der die Feinde unterstütze. Der linke Sozialrevolutionär Steinberg, den die sonderbare Laune des Schicksals in die Revolution hineingetragen und sogar bis zum Rat der Volkskommissare emporgehoben hatte, protestierte gegen diese harte Drohung, weil sie das „Pathos des Aufrufs" störe. „Im Gegenteil," rief Lenin aus, „gerade darin liegt ja das echt revolutionäre Pathos (er verschob ironisch die Betonung des Wortes). Glauben Sie denn wirklich, dass wir ohne einen erbitterten revolutionären Terror als Sieger aus der Revolution hervorgehen werden?"

Das war eine Periode, wo Lenin bei jeder Gelegenheit den Gedanken an die Unvermeidlichkeit des Terrors mit Nachdruck betonte. Alle schöngeistigen, schwächlichen, charakterlosen Manilowschen Äußerungen – und alles das war in Hülle und Fülle vorhanden – empörten ihn nicht an und für sich so sehr, als vielmehr als ein Anzeichen dafür, dass sogar die Spitzen der Arbeiterklasse sich noch nicht darüber im Klaren sind, welche ungeheuer schwierige Aufgaben ihnen bevorstehen, und dass sie nur mit ebenso ungeheuerlicher eiserner Energie gelöst werden können. „Ihnen," sagte er von den Feinden, „droht die Gefahr, alles zu verlieren. Und doch haben sie Hunderttausende von Menschen zu ihrer Verfügung, satte, mutige, zu allem bereite Offiziere, die die Kriegsschule hinter sich haben, Junker, Söhne von Bourgeois und Gutsbesitzern, Polizisten, Kapitalisten. Und nun bilden sich diese mit Verlaub zu sagen „Revolutionäre" ein, dass wir in aller Freundlichkeit und Güte eine Revolution machen könnten. Wo haben sie denn das gelernt? Was verstehen sie denn unter Diktatur? Wie wird denn ihre Diktatur aussehen, wenn sie selbst Schlafmützen sind?" Solche Äußerungen konnte man Dutzende Male am Tage hören und immer richteten sie sich gegen irgendeinen Anwesenden, der des „Pazifismus" verdächtig war. Lenin ließ keine einzige Gelegenheit vorübergehen, wenn man in seiner Gegenwart von Revolution und Diktatur sprach, besonders, wenn es sich in den Sitzungen des Rats der Volkskommissare oder in Gegenwart der linken Sozialrevolutionäre oder schwankender Kommunisten ereignete, ohne sofort hinzuzufügen: „Ja, wo haben wir denn die Diktatur? So zeigt sie mir doch! Es ist ein Brei und keine Diktatur!" Das Wort „Brei" liebte er sehr. „Wenn wir unfähig sind, einen sabotierenden Weißgardisten zu erschießen, was ist es dann für eine große Revolution? Seht doch, was das bürgerliche Gesindel in den Zeitungen schreibt? Wo steckt denn da die Diktatur? Nichts wie Geschwätz und Brei" … Diese Reden drückten seine wirkliche Stimmung aus, obwohl sie gleichzeitig betont beabsichtigt waren: seiner Methode gemäß hämmerte Lenin in das Bewusstsein der anderen die Notwendigkeit von ausnehmend harten Maßnahmen zur Rettung der Revolution.

Die Schwäche des neuen Staatsapparats zeigte sich am deutlichsten in dem Augenblick, als die Deutschen zum Angriff übergingen. „Gestern noch saß man fest im Sattel," sagte Lenin, als wir allein waren, „und heute klammert man sich an die Mähne. Aber das ist eine gute Lehre! Diese Lehre wird auf unsere verdammte Oblomowerei einen guten Einfluss haben. Schaff' Ordnung, fass' die Sache richtig an, wenn du kein Sklave sein willst! Es wird eine große Lehre sein, wenn … wenn bloß die Deutschen zusammen mit den Weißen uns nicht vorher niederwerfen werden."

Was meinen Sie," fragte mich einst Wladimir Iljitsch ganz unerwartet, „wenn die Weißgardisten Sie und mich totschlagen, – werden dann Bucharin und Swerdlow allein fertig werden?"

Ach wo, werden uns schon nicht totschlagen", antwortete ich scherzhaft.

Weiß der Teufel, das kann man nicht wissen", sagte Lenin und lachte auch. Damit nahm das Gespräch ein Ende.

In einem der Zimmer desselben Smolny hielt der Stab seine Sitzungen ab. In dieser Behörde herrschte die größte Unordnung. Man konnte nie klug werden, wer die Leitung hatte, wer befehligte und was sein würde. Hier tauchte zum ersten mal in allgemeiner Form das Problem der militärischen Fachleute auf. Wir hatten schon einige Erfahrung in dieser Richtung im Kampfe mit Krasnow gemacht, als wir dem Oberst Murawjew den Oberbefehl übergaben, den dieser seinerseits während der Operationen bei Pulkowo dem Oberst Walden übergeben hat. Murawjew wurden vier Matrosen und ein Soldat mit der Weisung beigegeben, scharf auf den Obersten aufzupassen und die Hand nicht vom Revolver zu nehmen. Das war das Keimstadium des Kommissarsystems. Diese Erfahrung wurde in gewissem Grade zur Grundlage des Obersten Kriegsrats gemacht.

Ohne tüchtige, erfahrene Militärs werden wir aus diesem Chaos nicht herauskommen", sagte ich zu Wladimir Iljitsch jedes Mal nach dem Besuch des Generalstabs.

Das wird wohl richtig sein. Wenn sie uns nur nicht verraten …"

Wir geben jedem einen Kommissar bei."

Besser zwei," rief Lenin, „aber Leute, die den rechten Griff haben. Es ist unmöglich, dass wir keine grifffesten Kommunisten haben."

So entstand die Struktur des Obersten Kriegsrats. Die Frage der Überführung der Regierung nach Moskau brachte viele Reibungen. Das sei doch eine Fahnenflucht aus Petrograd, aus dieser Stadt der Oktoberrevolution. Die Arbeiter würden das nicht verstehen. Smolny sei doch ein Symbol der Sowjetmacht geworden, und jetzt wolle man ihn verlassen usw. usw. Lenin geriet förmlich außer sich, wenn er diese Erwägungen hörte. „Wie kann man mit diesem sentimentalen Unsinn das Schicksal der Revolution entscheiden? Wenn die Deutschen Petersburg und uns darin mit einem Sprung besetzen, so ist die Revolution verloren. Wenn aber die Regierung in Moskau ist, so wird der Fall von Petersburg nur ein schwerer Verlust sein. Wie ist es möglich, dass ihr das nicht begreift, dass ihr das nicht versteht? Und mehr als das: wenn wir unter den jetzigen Bedingungen in Petersburg bleiben, so vergrößern wir die Kriegsgefahr für diese Stadt, es ist, als wenn wir die Deutschen zur Einnahme von Petersburg provozierten. Wenn aber die Regierung in Moskau ist, dann wird die Versuchung, Petersburg zu besetzen, sich außerordentlich verringern: welchen Nutzen bringt es ihnen, eine hungrige, revolutionäre Stadt zu besetzen, wenn diese Besetzung über das Schicksal der Revolution und des Friedens in keiner Weise entscheiden kann? Was schwatzt ihr von der symbolischen Bedeutung des Smolny! Smolny ist deshalb Smolny, weil wir im Smolny sind. Und wenn wir im Kreml sein werden, dann wird eure ganze Symbolik zum Kreml übergehen." Die Opposition wurde endlich überwunden. Die Regierung siedelte nach Moskau über. Ich blieb noch einige Zeit in Petersburg, wenn ich nicht irre, in der Eigenschaft des Vorsitzenden des Petersburger Revolutionären Kriegskomitees. In Moskau fand ich Wladimir Iljitsch im Kreml vor, im sogenannten Kavalier-Gebäude. Der „Brei", d. h. der Wirrwarr und das Chaos war hier ebenso schlimm wie im Smolny. Wladimir Iljitsch schimpfte gutmütig die Moskowiter, die von dem Rangstreit besessen waren, und straffte nach und nach die Zügel.

Die Regierung, die sich zum Teil recht häufig erneuerte, entfaltete indessen eine fieberhafte Dekretarbeit. Jede Sitzung des Rats der Volkskommissare bot in dieser ersten Periode ein Bild der größten gesetzgeberischen Improvisation. Alles musste man von Anfang anfangen, auf einem leeren Platz aufbauen. „Präzedenzfälle" gab es keine, die Geschichte hatte keine auf Vorrat.

Sogar einfache Informationen waren aus Mangel an Zeit sehr schwer zu bewerkstelligen. Die Fragen wurden stets in der Form revolutionärer Dringlichkeit, d. h. in der denkbar chaotischsten Weise, aufgeworfen. Das Große vermengte sich auf das bizarrste mit dem Kleinen. Zweitrangige praktische Aufgaben führten zu den kompliziertesten prinzipiellen Fragen. Nicht alle, bei weitem nicht alle Dekrete stimmten miteinander überein. Und Lenin ironisierte häufig und sogar öffentlich über den Mangel an Übereinstimmung in unsern Dekreten. Aber letzten Endes gingen diese, vom Standpunkte der praktischen Aufgaben des Moments vielleicht sogar sehr scharfen Widersprüche in der Arbeit des revolutionären Gedankens auf, die mit gesetzgeberischen Punktierlinien die neuen Wege für die neue Welt der menschlichen Beziehungen vorzeichnete.

Es braucht nicht gesagt zu werden, dass Lenin die Führung dieser ganzen Arbeit gehörte. Als Vorsitzender leitete er unermüdlich, oft fünf und.sechs Stunden, ununterbrochen die Sitzung des Rats der Volkskommissare (und diese Sitzungen fanden anfangs alle Tage statt); von Frage zu Frage übergehend leitete er die Debatten, wobei er streng darauf achtete, dass die Redner ihre Zeit nicht überschritten, anfangs diente ihm seine Taschenuhr dazu, später ein Sekundometer. Die Fragen wurden ohne jede Vorbereitung gestellt, und es waren, wie gesagt, stets Dringlichkeitsfragen. Sehr häufig war das Wesen der Frage sowohl den Mitgliedern des Rats als auch dem Vorsitzenden vor Beginn der Debatten unbekannt. Zudem waren die Debatten immer sehr eingeschränkt, dem einleitenden Bericht wurden nur fünf bis zehn Minuten eingeräumt. Und doch vermochte der Vorsitzende den Grund der Sache aufzuspüren. Wenn es sehr viele Teilnehmer waren und unter ihnen Fachleute und überhaupt unbekannte Personen, pflegte Wladimir Iljitsch in seiner gewohnten Weise da zu sitzen: die rechte Hand einem Schirm gleich an der Stirn haltend, blickte er durch die Finger auf den Berichterstatter und überhaupt auf die Teilnehmer der Versammlung, und sein Blick war, im Gegensatz zu dem Sprichwort „durch die Finger sehen", immer sehr scharf und aufmerksam, er sah, was er brauchte. Auf einem schmalen Papierstreifen wurden mit winzigen Buchstaben (Ökonomie!) die Namen der Redner eingetragen, ein Auge blickte auf die Uhr, die von Zeit zu Zeit über dem Tisch erschien, um den Redner an die Zeit zu mahnen. Und gleichzeitig entwarf der Vorsitzende auf einem Blatt Papier resultierende Folgerungen aus jenen Erwägungen, die er im Verlauf der Debatten als die wichtigsten erkannt hatte. Für gewöhnlich pflegte Lenin gleichzeitig, um Zeit zu sparen, den Teilnehmern der Sitzung kurze Zettel, mit der Bitte um Informationen, zu schicken. Diese Zettel bilden ein sehr umfangreiches und sehr interessantes epistolares Element in der Technik der Sowjetgesetzgebung Die meisten dieser Zettel sind jedoch verloren gegangen, da die Antwort häufig auf der Rückseite geschrieben und der Zettel dann von dem Vorsitzenden sorgfältig vernichtet wurde. Im bestimmten Augenblick verlas Lenin seine resultierenden Punkte, die immer mit betonter Schärfe und pädagogischer Eckigkeit verfasst waren (um zu betonen, hervorzuheben, ein Verwischen unmöglich zu machen), worauf die Debatten entweder ganz aufhörten oder die konkrete Bahn der praktischen Vorschläge und Ergänzungen einschlugen. Lenins „Punkte"' wurden so zur Grundlage der Dekrete.

Für die Leistung dieser Arbeit war, abgesehen von andern notwendigen Eigenschaften, eine ungeheure schöpferische Phantasie erforderlich. Dieses Wort könnte auf den ersten Blick ungeeignet erscheinen, aber es drückt nichtsdestoweniger das Wesen der Sache aus. Menschliche Phantasie kann verschiedener Art sein: der Ingenieur und Konstrukteur hat sie ebenso nötig, wie der zügellose Romantiker. Eine der unschätzbaren Arten der Phantasie besteht in der Fähigkeit, sich Menschen, Dinge und Erscheinungen so vorzustellen, wie sie in Wirklichkeit sind, sogar dann, wenn man sie niemals gesehen hat. Seine ganze Lebenserfahrung und theoretische Vorarbeit verwertend, so die einzelnen flüchtig erhaschten Kenntnisse miteinander zu verbinden, sie zu einer Einheit zu verarbeiten, sie nach noch nicht formulierten Gesetzen der Koordination zu ergänzen, dass ein bestimmtes Gebiet des menschlichen Lebens in seiner ganzen konkreten Realität rekonstruiert wird, – das ist eine Vorstellungskraft, die der Gesetzgeber, der Administrator, der Führer – besonders in der Epoche der Revolution braucht. Lenins Bedeutung war im großen Maße durch die Kraft seiner realistischen Vorstellungsweise bedingt.

Lenins Zielstrebigkeit war immer konkret – sonst hätte sie übrigens keine echte Zielstrebigkeit sein können. Lenin hat, wenn ich nicht irre, zum ersten Mal in der „Iskra" jenen Gedanken ausgesprochen, dass man fähig sein muss, in der komplizierten Kette der politischen Handlungen das für den gegebenen Augenblick wichtige Glied zu ergreifen, um der ganzen Kette die gewünschte Richtung zu geben. Lenin ist später häufig zu diesem Gedanken zurückgekehrt und nicht selten auch zu diesem Bild der Kette und des Gliedes. Diese Methode ist gewissermaßen bei ihm aus der Sphäre des Bewusstseins in die des Unterbewusstseins übergegangen und so schließlich zu seiner zweiten Natur geworden. In besonders kritischen Augenblicken, wenn es sich um eine sehr verantwortliche oder riskante taktische Wendung handelte, schob Lenin alles, was zweitrangig war oder aufgeschoben werden konnte, beiseite. Das darf nicht in dem Sinne verstanden werden, als wenn er die zentrale Aufgabe nur in ihren grundlegenden Zügen anfasste und alle Details ignorierte. Im Gegenteil, jene Aufgabe, die er für dringend wichtig hielt, stellte er ganz konkret hin, betrachtete sie von allen Seiten, durchdachte alle Details, oft ganz nebensächliche Einzelheiten, fortwährend nach einem Anlass zu neuen Antrieben und Impulsen suchend, alles vergleichend, prüfend, betonend. Aber alles dies war jenem „Glied" untergeordnet, das er für den gegebenen Augenblick für das entscheidende hielt. Er schob dabei nicht nur alles beiseite, was der zentralen Aufgabe direkt oder indirekt widersprach, sondern auch das, was die Aufmerksamkeit ablenken, die Spannung herabmindern könnte. In besonders zugespitzten Momenten schien er blind und taub für alles zu werden, was über die Grenzen des ihn erfüllenden Interesses hinausging. Allein schon die Aufwerfung von anderen, sozusagen neutralen Fragen empfand er als eine Gefahr, die er instinktiv mied. Nachdem die kritische Etappe glücklich überwunden war, pflegte Lenin häufig aus diesem oder jenem Anlasse auszurufen: „Aber wir haben ja ganz vergessen, das und das zu tun" … „mit der Hauptfrage beschäftigt, haben wir ja gar nicht berücksichtigt" … Und wenn man ihm dann er widerte: „Aber diese Frage ist doch aufgeworfen worden, der Antrag wurde ja gestellt, aber Sie wollten damals nichts davon hören!" – so antwortete er: „Ist es möglich? Ich kann mich nicht so recht darauf besinnen" – und er lachte dabei sein listiges, etwas „schuldbewusstes" Lachen und machte eine ihm eigentümliche Geste mit der Hand von oben nach unten, die etwa bedeuten sollte: Was ist da zu machen, man wird halt nicht mit allem fertig. Dieser sein „Fehler" war nur die Kehrseite seiner Fähigkeit zu der größten inneren Mobilisation aller Kräfte, und eben diese Fähigkeit machte ihn zum größten Revolutionär der Geschichte.

In Lenins Thesen über den Frieden, die Anfang Januar 1918 geschrieben sind, wird von der Notwendigkeit „eines gewissen Zeitraums nicht unter einigen Monaten für den Erfolg des Sozialismus in Russland" gesprochen. Diese Worte scheinen jetzt vollkommen unverständlich: ist es wirklich kein Schreibfehler, handelt es sich hier nicht um einige Jahre oder gar um einige Jahrzehnte? Aber nein, das ist kein Schreibfehler. Man wird wahrscheinlich eine Reihe von anderen Erklärungen Lenins von derselben Art finden. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie Lenin in der ersten Periode, im Smolny, in der Sitzung des Rats der Volkskommissare oft wiederholt hat, dass wir nach einem halben Jahr den Sozialismus haben und der mächtigste Staat sein würden. Die linken Sozialrevolutionäre, und nicht nur sie allein, hoben erstaunt und ratlos die Köpfe, sahen sich an, schwiegen aber. Es war ein System der Suggestion. Lenin lehrte alle, von jetzt ab alle Fragen im Rahmen des sozialistischen Aufbaus zu behandeln, nicht vom Gesichtspunkte des „endgültigen Zieles", sondern von der Perspektive von heute und morgen. Und er wandte hier bei dieser scharfen Wendung die ihm eigene Methode des zugespitzten Gegensatzes an: gestern sprachen wir davon, dass der Sozialismus das „endgültige Ziel" ist, und heute müssen wir so denken, sprechen und handeln, dass dem Sozialismus nach einigen Monaten die Herrschaft gesichert wird. Also ist es nur eine pädagogische Taktik? Nein, nicht nur. Man muss zu der pädagogischen Hartnäckigkeit noch eins hinzufügen: Lenins gewaltigen Idealismus, seinen straff gespannten Willen, der bei der scharfen Wendung von einer Epoche zur andern die Etappen verkürzte und die Zeitläufe zusammendrängte. Er glaubte an das, was er sagte. Und diese phantastische Zeitdauer von einem halben Jahre, die er der Verwirklichung des Sozialismus gesetzt hat, ist in gleicher Weise eine „Funktion" des Leninschen Geistes, wie seine realistische Behandlung einer jeden Frage des Tages. Sein tiefer und unerschütterlicher Glaube an die gewaltigen Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung, für die jeder Preis an Opfern und Leiden bezahlt werden kann und muss, bildete stets die Haupttriebfeder des Leninschen Geistes.

Unter den schwierigsten Verhältnissen, inmitten der aufreibenden Tagesarbeit, unter Schwierigkeiten auf dem Gebiete der Ernährung und auf allen anderen Gebieten, im eisernen Ring des Bürgerkrieges, arbeitete Lenin mit der größten Sorgfalt an der Sowjetkonstitution, passte die in ihr enthaltenen zweitrangigen und drittrangigen praktischen Bedürfnisse des Staatsapparats in der vorsichtigsten, gewissenhaftesten Weise den prinzipiellen Aufgaben der proletarischen Diktatur in einem Bauernlande an.

Die Konstitutionskommission beschloss aus irgendeinem Grunde Lenins „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" umzuarbeiten, um sie mit dem Text der Konstitution ,;in Einklang zu bringen". Bei meiner Rückkehr von der Front nach Moskau erhielt ich von der Kommission unter anderem Material auch den Entwurf der umgearbeiteten Deklaration oder wenigstens eines Teiles von ihr. Mit dem Material machte ich mich in Lenins Arbeitszimmer bekannt, in seiner und Swerdlows Gegenwart. Die Vorbereitungen zu der V. Sowjet-Konferenz waren gerade im Gange.

Wozu muss denn eigentlich die Deklaration umgeändert werden?" fragte ich Swerdlow, der die Arbeiten der Konstitutionskommission leitete. Wladimir Iljitsch hob lebhaft interessiert den Kopf.

Die Kommission hat gefunden, dass es in der Deklaration Stellen gibt, die mit der Konstitution nicht im Einklang stehen, und ferner Stellen, die besser formuliert werden könnten", antwortete Jakow Michailowitsch.

Meiner Ansicht nach sollte man das nicht tun," meinte ich: „die Deklaration ist schon angenommen, sie ist ein historisches Dokument geworden, welchen Zweck hat es, sie zu ändern?"

Sehr richtig!" sagte auch Wladimir Iljitsch, „auch ich denke, dass man die Sache nicht hätte anfangen müssen. Mag dieses Kindlein leben bleiben, wie es ist, ungekämmt und zottig: mag es sein, wie es will, es ist doch immerhin eine Frucht der Revolution Es wird kaum besser werden, wenn man es zu einem Friseur schickt."

Swerdlow machte wohl einen Anlauf, den Beschluss seiner Kommission „pflichtgemäß" zu vertreten, aber er erklärte sich bald mit uns einverstanden. Ich verstand, dass Wladimir Iljitsch, – der öfters diese oder jene Vorschläge der Konstitutionskommission hat bekämpfen müssen, – die Notwendigkeit der Umarbeitung der Deklaration der Rechte, deren Autor er selbst war, nicht in Frage stellen wollte. Er freute sich aber sehr über die Unterstützung eines „Dritten", der im letzten Augenblick unerwartet aufgetaucht war. Wir kamen zu dritt überein, die Deklaration nicht zu ändern. Dem ausgezeichneten, zottigen Kindlein blieb also der Friseur erspart

Das Studium der Sowjetgesetzgebung und ihrer Entwicklung, der Nachweis ihrer prinzipiellen Momente und Wendepunkte im Zusammenhang mit dem Verlauf der Revolution selbst und ihrer Klassenverhältnisse, ist eine Aufgabe von ungeheurer Wichtigkeit, denn die aus diesem Studium zu ziehenden Schlüsse können und müssen für das Proletariat der andern Länder eine erstklassige praktische Bedeutung gewinnen.

Der Band der Sowjet-Dekrete bildet im gewissen Sinne einen Teil, und zwar keineswegs einen nebensächlichen Teil der Gesamtwerke von Wladimir Iljitsch Lenin.

[Die zwei Beiträge über Lenin entnehmen wir einem in russischer Sprache soeben erschienenen Buche von L. Trotzki: Lenin. Material für Biographen. VII u. 168 Seiten. Staats-Verlag, Moskau. Die deutsche Übersetzung erscheint demnächst im Neuen Deutschen Verlag, Berlin.]

* Genosse Miljutin hat diese Episode etwas abweichend geschildert; aber die hier aufgeführte Fassung scheint mir die richtigere. Jedenfalls beziehen sich Lenins Worte: „Das riecht nach Revolution" auf meinen Vorschlag, die Regierung in ihrer Gesamtheit den „Rat der Volkskommissare" zu nennen.

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