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Leo Trotzki 19250600 Erklärung zum Buch Eastmans: „Seit Lenins Tod"

Leo Trotzki: Erklärung zum Buch Eastmans: „Seit Lenins Tod"

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 5. Jahrgang Nr. 111 (21. Juli 1925), S. 1536 f.

[Wir bringen nachstehend die Erklärung des Genossen Trotzki zum Pamphlet Eastmans „Seit Lenins Tod" […] 

{Die Red. der „Inprekorr“}

Zum wirklichen Hintergrund schrieb Trotzki gut drei Jahre später, am 11. September 1928, in einem Brief an N. I. Muralow:

Eastman war der Meinung, dass der von der Opposition geführte Kampf nicht energisch genug sei und begann eine Kampagne im Ausland auf eigenen Wunsch und eigenes Risiko. (…) Zu der Zeit, als die Opposition noch ins Auge fasste, durch strikt interne Mittel die Parteilinie zu korrigieren, ohne den Streit öffentlich zu machen, lehnten alle von uns, mich eingeschlossen, die Schritte ab, die Max Eastman zur Verteidigung der Opposition unternommen hatte. Im Herbst 1925 drängte mir die Mehrheit im Politbüro eine von ihr selbst zusammengebraute Erklärung auf, die eine scharfe Verurteilung von Max Eastman enthielt. Da die gesamte Führungsgruppe der Opposition es damals für nicht ratsam hielt, einen offenen politischen Kampf zu initiieren, und Kurs auf eine Reihe von Zugeständnissen machte, konnte sie natürlich nicht den Kampf um die private Frage von Eastman initiieren und entwickeln, der, wie gesagt, auf eigenen Wunsch und auf eigene Gefahr gehandelt hatte. Aus diesem Grund unterzeichnete ich gemäß der Entscheidung der Führungsgruppe der Opposition die Erklärung über Max Eastman, die mir die Mehrheit im Politbüro mit dem Ultimatum aufgedrängt hatte: entweder Unterzeichnen der Erklärung in der vorliegenden Fassung oder Beginn eines offenen Kampfes um diese Frage.

Es gibt keinen Grund, hier in eine Diskussion einzutreten, ob die allgemeine Politik der Opposition im Jahr 1925 richtig war oder nicht. Es ist auch jetzt meine Meinung, dass es in dieser Zeit keinen anderen Wege gab. Auf jeden Fall kann meine damalige Aussage über Eastman nur als integraler Bestandteil unserer damaligen Linie in Richtung Versöhnung und Frieden verstanden werden. So wurde sie von allen Mitgliedern der Partei, die auch nur etwas informiert waren oder nachdachten, interpretiert. Diese Aussage wirft keinen Schatten, weder persönlich noch politisch, auf Genossen Eastman.“]

Während meines Aufenthaltes in Suchum habe ich aus Moskau von einem meiner Freunde, der sich mit der Herausgabe meiner Bücher befasst, das Manuskript eines amerikanischen Journalisten, M. Eastman, erhalten: „Leo Trotzki, ein Jugendbildnis". In seinem Begleitbrief teilte mir mein Freund mit, dass das Manuskript, das vom Verfasser an den Staatsverlag adressiert worden war, um in russischer Sprache herausgegeben zu werden, einen seltsamen und bei uns ungewohnten Eindruck gemacht habe, infolge der Sentimentalität, die davon ausging.

Ich antwortete in meinem Brief vom 3. April 1925 darauf folgendes:

Selbst ohne von dem Manuskript Eastmans Kenntnis zu haben, stimme ich mit Euch vollständig überein, dass die Herausgabe des Buches nicht opportun ist. Trotz Eurer liebenswürdigen Übersendung kann ich dieses Manuskript nicht lesen, da ich absolut keine Lust dazu habe. Ich glaube gern, dass es unserem Geschmack, besonders unserem russischen und kommunistischen Geschmack, nicht zugesagt.

Eastman hat mich lange davon zu überzeugen versucht, dass es sehr schwer sei, die Amerikaner für den Kommunismus zu interessieren, aber dass es möglich sei, sie für die Kommunisten zu interessieren. Seine Argumente waren ziemlich überzeugend. Aus diesem Grunde lieh ich ihm eine gewisse, ziemlich beschränkte Hilfe; der Brief, den ich an ihn richtete, zeigt ihre Grenzen*. Ich wusste nicht, dass er die Absicht hatte, dieses Buch in Russland herauszugeben, sonst hätte ich ihm wahrscheinlich seinerzeit von der Veröffentlichung abgeraten. Ich kann Eastman nicht daran hindern, dieses Werk im Ausland herauszugeben: er ist ein „freier Schriftsteller"; er hat in Russland gelebt, hat Materialien gesammelt, er befindet sich augenblicklich in Frankreich, wenn nicht in Amerika. Soll ich ihn gewissermaßen aus privater Gefälligkeit bitten, dieses Buch nicht zu veröffentlichen? Aber dazu bin ich mit ihm nicht genug befreundet. Und das wäre auch deplatziert." In diesem Briefe handelt es sich, ich wiederhole es, um eine biographische Skizze, die Darstellung meiner Jugend ungefähr bis zum Jahre 1902. Es war damals noch nicht die Rede von dem zweiten Werke Eastmans: „Seit dem Tode Lenins". Jedenfalls hatte ich davon nicht sprechen gehört. Ich erfuhr von seiner Existenz bei meiner Rückkehr nach Moskau durch eine telegraphische Anfrage des Genossen Jackson, Redakteur des „Sunday Worker" in London. Obwohl meine Antwort an Jackson damals in der Presse veröffentlicht worden ist, halte ich es für zweckmäßig, den ersten Teil hier wiederzugeben:

Das Buch von Eastman, das Sie erwähnen, ist mir unbekannt. Jene bürgerlichen Zeitungen die das Buch zitieren, haben mich nicht erreicht. Natürlich lehne ich im Voraus jeden gegen die Kommunistische Partei Russlands gerichteten Kommentar auf die kategorischste Weise ab." Später habe ich die in Frage stehende Broschüre („Seit Lenins Tod") vom Genossen Inkpin, Sekretär der Kommunistischen Partei Großbritanniens, erhalten. Nachdem ich eine halbe Stunde in diesem kleinen Buch herumgeblättert hatte, kam ich zu der Ansicht, dass dieses Werk weder theoretische noch politische Bedeutung habe. Ich hatte weder die Absicht, es zu lesen, noch weniger, darauf zu reagieren, da ich annahm, dass mein Telegramm an den Genossen Jackson vollkommen genügend sei. Indessen äußerten Genossen aus der Partei, die von dem Buch Kenntnis genommen hatten, den Gedanken, dass mein Stillschweigen ihm eine indirekte Hilfe leihen könnte. Das zwang mich, es zu lesen. Im Prinzip wurde ich in meinem ersten Eindruck bestärkt.

Das Buch Eastmans ist jeden politischen Wertes bar. Der Autor geht an die Ereignisse des inneren Lebens unserer Partei ohne ernstes politisches Kriterium, in rein psychologischer Art und Weise heran und bewirkt so eine subjektive Willkür in den Einschätzungen, Beweisführungen und Schlussfolgerungen.

Wir werden uns zuerst bei einer Frage aufhalten, die gewiss von historischer Wichtigkeit, aber auch von lebendigster Aktualität ist: Ich will von der Roten Armee sprechen. Eastman behauptet, dass sich die Rote Armee, seit in ihrer Führung eine Veränderung eingetreten ist, gespalten, dass sie ihre kriegerischen Fähigkeiten usw. verloren habe. Ich weiß nicht, woher Eastman diese Belehrungen genommen hat. Aber ihre Absurdität liegt klar zutage. Er merkt nicht, dass er durch diese Charakteristik der Roten Armee die menschewistische Legende über den bonapartistischen Charakter, den Charakter einer Prätorianergarde unserer Armee usw. nährt. Denn es ist klar, dass eine Armee, die imstande ist, sich infolge einer Veränderung in der Führung „zu spalten", weder kommunistisch noch proletarisch ist.

Der Verfasser zitiert im Verlaufe seines ganzen Werkes eine große Zahl von Dokumenten und eine gewisse Zahl von Episoden, die weit zurückliegen. Dieses kleine Buch enthält so eine stattliche Zahl irrtümlicher und lügenhafter allgemeiner Behauptungen.

An mehreren Stellen spricht Eastman davon, dass das Zentralkomitee der Partei eine ganze Reihe von Dokumenten von außerordentlicher Wichtigkeit „verheimlicht" habe, die von Lenin in der letzten Periode seines Lebens geschrieben wurden. (Es handelt sich um Briefe über die nationale Frage, um das berühmte „Testament" usw.) Man könnte daraus folgern, dass Lenin seine Briefe, die auf die innere Organisation des Sowjets Bezug haben, für den Druck bestimmt habe. In Wahrheit ist das nicht richtig.

Die Briefe waren für die Kongresse der Partei bestimmt, und sie wurden den Mitgliedern des 12. und 13. Kongresses durch die von der Vertretung dieser Kongresse 'bestimmte Art und Weise zur Kenntnis gebracht, das heißt, es wurde jeder Delegation Einsicht in die Briefe gewährt.

Ebenso falsch ist die Behauptung Eastmans, dass das Zentralkomitee den Artikel Lenins über die Arbeiter- und Bauerninspektion verheimlichen (das heißt nicht veröffentlichen) wollte. Die Verschiedenheiten der Gesichtspunkte, die über diesen Gegenstand im Innern des Zentralkomitees auftauchten, wenn man hier überhaupt von „Verschiedenheiten der Gesichtspunkte" sprechen kann, haben nur eine ganz sekundäre Bedeutung gehabt, denn es handelte sich nur darum, das Datum und den Modus der Veröffentlichung zu präzisieren. Aber diese rein technische Frage wurde in derselben Sitzung einstimmig gelöst. Wie falsch Eastman die Verschiedenheit der Anschauungen charakterisiert hat, die nach seiner Darstellung bezüglich des Inhalts des Artikels Lenins über die die Arbeiter- und Bauerninspektion zutage getreten sei, kann man an der Tatsache ermessen, dass alle Mitglieder des Politischen Büros und des Organisationsbüros des Zentralkomitees in der gleichen Sitzung einstimmig ein Schreiben an die Organisationen der Partei beschlossen haben, in dem unter anderem gesagt wird: „Ohne in diesem rein informativen Briefe auf die Kritik der historisch möglichen Gefahren einzugehen, die Genosse Lenin sehr an der Zeit in seinem Artikel aufrollt, halten es die Mitglieder des Politischen Büros und des Organisationsbüros, in der Absicht, mögliche Missverständnisse zu vermeiden für notwendig, in voller Einstimmigkeit zu erklären, dass in der inneren Aktivität des Zentralkomitees Nichts zur Furcht vor Gefahren der ,Spaltung' Anlass gibt" Unter diesem Dokument figuriert nicht nur meine Unterschrift inmitten von zehn anderen Unterschriften, sondern der Text selbst ist von mir redigiert worden. (27 Januar 1923.)

Angesichts der Tatsache, dass dieser Brief, der die einstimmige Meinung des Zentralkomitees über den Vorschlag Lenins zur Einführung der Arbeiter- und Bauerninspektion ausdrückte, gleichfalls die Unterschrift des Genossen Kuibyschew trägt, ist auch die Behauptung Eastmans widerlegt, wonach Genosse Kuibyschew an die Spitze der Arbeiter- und Bauerninspektion als „Gegner" des Organisationsplanes von Lenin gestellt worden sei.

Falsch ist auch Eastmans Zitierung des Wortlautes des „Testaments", das im „Sozialistischen Boten" veröffentlicht und sozusagen aus den Parteiarchiven durch Konterrevolutionäre geraubt worden ist. In Wirklichkeit ist der Text, der im „Sozialistischen Boten" erschienen ist, durch gar viele Hände gegangen, bevor er zu dieser Zeitung gelangt ist. Er wurde wieder und wieder „aufgefrischt" und bis zu einem solchen Grade entstellt, dass es absolut unmöglich ist, seinen ursprünglichen Sinn wiederherzustellen. Es ist übrigens möglich, dass diese Änderungen von der Redaktion selbst herrühren.

Die Behauptungen Eastmans, der erklärt, dass das Zentralkomitee meine Broschüren oder meine Artikel im Jahre 1923 oder 1924 oder in irgendeiner anderen Epoche konfisziert hat, sind irrig und beruhen auf phantastischen Gerüchten.

Falsch ist gleichfalls die Erklärung Eastmans, wonach Lenin mir den Posten des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare angeboten habe.

Eine aufmerksame Lektüre der Broschüre Eastmans gäbe mir zweifellos Gelegenheit, eine Reihe anderer Irrtümer und Veränderungen aufzuzeigen.

Jedennoch scheint es mir, dass der aufmerksame und denkende Leser eine Anhäufung von Dokumenten gar nicht nötig hat – was übrigens nicht jedermanns Verständnis anspricht –, um den Schluss zu ziehen, dass die literarische Konstruktion Eastmans auf unzureichenden und schwankenden Grundlagen aufgebaut ist. Es genügt daher, die Schlussfolgerungen des Autors zu prüfen, die Schlussfolgerungen, die unsere Partei und ihre Leitung in ein solches Licht setzen, dass der gleiche aufmerksame und denkende Leser unvermeidlich soweit kommt, sich zu fragen: Welche Bande gibt es denn eigentlich zwischen Eastman und dieser Partei und der von dieser Partei geleiteten Revolution? Was hat denn Eastman dieser Partei entgegenzustellen?

Wenn man alles in allem nur einen Augenblick die von Eastman formulierten Ansichten über die Zusammensetzung der führenden Personen unserer Partei als wahr annimmt, so fragt man sich: Wie konnte diese Partei durch lange Jahre heimlichen Kampfes durchkommen? Wie konnte sie die größte der Revolutionen vollbringen? Wie konnte sie Millionen von Menschen mitreißen und zur Bildung von revolutionären Parteien in den anderen Ländern beitragen? Eastman zerbricht und zertritt die elementaren, politischen Verhältnisse, weil er sich eines willkürlichen und psychologischen Kriteriums bedient und nicht eines politischen, marxistischen.

Ein Revolutionär hätte in dem Falle politisch nur das Recht, so zu schreiben, wie es Eastman tut, wenn er unserer Partei eine andere entgegenstellen würde. Eastman denkt keinen Augenblick an diese Seite der politischen Frage. Das Buch lehrt nichts. Es kann durch die Feinde des Kommunismus ausgenützt werden – was wahrlich nicht schrecklich ist – und es kann im Geiste seiner noch jungen und unbewussten Freunde den Skeptizismus entstehen lassen, was viel schwerwiegender ist. Und daher verdient es, mit Energie verurteilt zu werden.

* Am 22. Mai 1925 gab ich folgende Antwort auf das wiederholte Ersuchen Eastmans:

Ich werde mein möglichstes tun, um Ihnen auf dem Wege einer gewissenhaften Information zu helfen. Aber ich kamt nicht einwilligen, Ihr Manuskript zu lesen, denn dies würde mich nicht nur für die Tatsachen mitverantwortlich machen, sondern auch für die Charakteristiken und Einschätzungen. Das ist eben nicht möglich. Ich bin bereit die Verantwortung – übrigens eine abgeschwächte – für die Auskünfte über die Tatsachen, die ich Ihnen, auf Ihre Bitte mitteilen werde, zu übernehmen. Für alles übrige tragen Sie allein die Verantwortung."

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