I. Der Niedergang Englands

I. Der Niedergang Englands

Das kapitalistische England verdankt seinen Ursprung der politischen Revolution der Mitte des 17. Jahrhunderts und der sogenannten industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts. Aus dem Zeitalter seines Bürgerkrieges und der Diktatur Cromwells ging England als kleines Volk mit kaum anderthalb Millionen Familien hervor. Zur Zeit des imperialistischen Krieges 1914 war es ein Imperium, dessen Grenzen den fünften Teil der gesamten Menschheit umfassten.

Die Revolution des 17. Jahrhunderts, die Schule des Puritanertums, die Zuchtrute Cromwells haben das englische Volk, im Grunde seine mittleren Klassen, darauf vorbereitet, eine Weltrolle im weiteren Verlaufe der Geschichte zu übernehmen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Weltmachtstellung Englands unbestritten. England herrscht auf den Ozeanen und auf dem Weltmarkt, den es eigentlich bildet.

Im Jahre 1826 hat ein englischer konservativer Publizist mit folgenden Worten das Jahrhundert der Industrie charakterisiert: „Das Zeitalter, das sich vor unseren Augen entfaltet, verspricht das Zeitalter der Industrie zu werden … Durch die Industrie werden nunmehr die internationalen Allianzen diktiert und werden internationale Freundschaften geschlossen werden … Die Aussichten, die sich gegenwärtig den Briten erschließen, übersteigen fast die Grenzen des menschlichen Gedankens. Die Geschichte hat noch keinen Maßstab für sie … Die Fabrikindustrie Englands liefert höchstwahrscheinlich viermal soviel Güter als alle Kontinente zusammengenommen und sechzehn Mal soviel Baumwollwaren als das kontinentale Europa…“A Das ungeheure industrielle Übergewicht Englands über das übrige Europa und die ganze Welt schuf die Grundlage seines Reichtums und seiner unvergleichlichen Weltstellung. Das Jahrhundert der Industrie wurde gleichzeitig das Jahrhundert der Welthegemonie Großbritanniens.

Von 1850 bis 1880 wurde England die industrielle Schule Europas und Amerikas. Aber durch dieselbe Position wird auch seine eigene Monopolstellung untergraben. Seit den achtziger Jahren beginn offensichtlich eine Schwächung Englands. Neue Staaten betreten die Weltarena; an erster Stelle Deutschland. Gleichzeitig offenbart das kapitalistische Prioritätsrecht Englands zum ersten Male seine unvorteilhaften konservativen Seiten. Dem Freihandelsprinzip werden durch die deutsche Konkurrenz schwere Schläge versetzt.

Die Verdrängung Englands aus seinen Positionen der Weltherrschaft hat sich bereits im letzten Viertel des vorigen Jahrhundert deutlich gezeigt und rief zu Beginn unseres Jahrhunderts einen Zustand der inneren Unsicherheit und Gärung in den oberen Schichten und schwere molekulare Prozesse in der Arbeiterklasse hervor, die tatsächlich revolutionären Charakter trugen. In den Vordergrund traten die gewaltigen Konflikte der Arbeit und des Kapitals. Erschüttert schien nicht nur die Vorrangstellung der englischen Industrie in der Welt, sondern auch die privilegierte Lage der Arbeiteraristokratie im Innern Englands. Die Jahre 1911-13 waren von früher nie erlebten Klassenkämpfen der Grubenarbeiter, Eisenbahner und überhaupt der Transportarbeiter erfüllt. Im August 1911 brach ein nationaler, d. h. allgemeiner Eisenbahnerstreik aus. In jenen Tagen ging das Gespenst der Revolution in England um. Die Führer boten alle Kräfte auf, um die Bewegung zu paralysieren. Ihr Beweggrund war der „Patriotismus"; dieser Konflikt spielte sich in den Tagen des Agadir-Zwischenfalles ab, der die Gefahr eines Krieges mit Deutschland in sich barg. Wie erst jetzt bekannt geworden ist hat damals der Premierminister die Arbeiterführer zu einer Geheimkonferenz eingeladen und an ihre „Vaterlandsliebe" appelliert. Und die Führer haben alles getan, was in ihren Kräften stand, haben das Bürgertum gestärkt und so das imperialistische Gemetzel vorbereitet.

Der Krieg 1914-18 hat nur scheinbar diesen Revolutionsprozess unterbrochen. Er hat auch die Entwicklung der Streikbewegung gestoppt. Sein Ausgang – die Zertrümmerung Deutschlands – schien England die Welthegemonie zurückzugeben. Aber sehr bald stellte sich heraus, dass der Krieg nur vorübergehend den Niedergang Englands gehemmt hatte, in Wahrheit aber ihn erst recht provozierte.

In den Jahren 1917-20 erlebte die englische Arbeiterbewegung aufs Neue stürmische Zeiten. Die Streiks nahmen einen grandiosen Charakter an. MacDonald unterschrieb Manifeste, von denen er sich jetzt mit Grauen abwenden wird. Erst Ende 1920 trat die Bewegung in ihre Ufer zurück, nach dem „schwarzen Freitag", an dem der Dreibund der Kohlen-, Eisenbahn- und Transportarbeiterführer den allgemeinen Generalstreik verraten hat. Die Energie der Massen, die auf wirtschaftlichem Gebiet lahmgelegt war, entfaltete sich auf politischem Gebiet. Die Arbeiterpartei schoss gleichsam aus dem Erdboden auf.

Wie äußert sich diese Veränderung der äußeren und inneren Lage Großbritanniens?

In den Kriegsjahren hat sich das gigantische wirtschaftliche Übergewicht der Vereinigten Staaten entwickelt und in seiner ganzen Größe offenbart. Als die Vereinigten Staaten gewissermaßen ihre Position einer transozeanischen Provinzmacht verließen, wurde Großbritannien mit einem Schlage auf den zweiten Platz gedrängt.

Die „gemeinsame Arbeit" Amerikas und Großbritanniens erscheint als jene vorläufig friedliche Form, in der sich das unaufhörliche, immer auffälliger in Erscheinung tretende Zurückweichen Englands hinter Amerika vollzieht.

Diese „Zusammenarbeit" kann sich in diesem oder jenem Augenblick gegen einen Dritten wenden; trotzdem bleibt der zentrale Welt-Antagonismus der anglo-amerikanische Gegensatz, und alle übrigen Gegensätze, die im Augenblick schärfer und unmittelbarer bedrohlich erscheinen, können nur auf Grund des anglo-amerikanischen Antagonismus verstanden und gewertet werden.

Die anglo-amerikanische „Zusammenarbeit" bereitet den Krieg eben so vor, wie die Epoche der Reformen die Epoche der Revolution vorbereitet. Gerade die Tatsache, dass England auf dem Wege der „Reformen", d. h. der erzwungenen Abmachungen mit Amerika eine Position nach der anderen räumen wird, muss es zuletzt zwingen, Widerstand zu leisten.

Die produktiven Kräfte Englands, vor allem seine lebendige produktive Kraft, das Proletariat, entsprechen nicht mehr der Stellung Englands auf dem Weltmarkt. Daraus resultiert die chronische Arbeitslosigkeit.

In der Vergangenheit sicherten die kaufmännische, industrielle und maritime-militärische Hegemonie Englands fast automatisch der Zusammenhang zwischen den Teilen des Imperiums. Der Minister Neuseelands, Reews, schrieb noch am Ende des vorigen Jahrhunderts „Zwei Umstände stützen das jetzige Verhältnis der Kolonien zu England: 1. ihr Glaube, dass die Politik Englands hauptsächlich die Politik des Friedens ist, und 2. ihr Glaube, dass England die Meere beherrscht." Entscheidend war natürlich der Glaube an Englands Hegemonie auf dem Meere. Der Verlust der Hegemonie auf den Meeren läuft parallel zur Entwicklung der zentrifugalen Kräfte innerhalb des Imperiums. Die Aufrechthaltung der Einheit des Imperiums wird durch die auseinandergehenden Interessen der Dominions und durch den Kampf der Kolonien immer mehr erschwert.

Die Entwicklung der Kriegstechnik hat sich als eine ungeheure Gefahr für die Sicherheit Englands herausgestellt. Die Entfaltung der Flugtechnik und der kriegstechnischen Mittel zerstört die großen historischen Vorzüge der insularen Lage. Amerika, diese gigantische Insel, die auf beiden Seiten von Ozeanen behütet wird, ist unverletzlich. Umgekehrt, die lebenswichtigen Zentren Englands, vor allem London, sind im Laufe weniger Stunden einem verheerenden Luftangriff seitens des europäischen Kontinents ausgesetzt.

Durch den Verlust der Vorzüge der unzugänglichen isolierten Lage ist die englische Regierung gezwungen, immer mehr unmittelbar Anteil an rein europäischen Angelegenheiten und europäischen Kriegsabmachungen zu nehmen. Die transozeanischen Besitzungen Englands, seine Dominions, sind an dieser Politik überhaupt nicht interessiert. Für sie haben die Probleme des Stillen, des Indischen, teilweise des Atlantischen Ozeans Interesse, aber keineswegs der Kanal! Diese Kluft zwischen den Interessen wird sich beim ersten Weltkonflikt in einen gähnenden Abgrund verwandeln und alle Verbindungen zwischen den Dominions und dem Mutterland verschlingen. In der Vorahnung dieser kommenden Ereignisse ist die großbritannische Politik durch innere Reibungen gelähmt und tatsächlich zur Passivität verurteilt, natürlich führt eine solche Situation eine Verschlechterung der Weltlage des Imperiums herbei.

Das Militärbudget muss gleichzeitig immer größere Ansprüche an die immer kleiner werdenden Nationaleinnahmen Englands stellen.

Eine der Bedingungen der „Zusammenarbeit" Englands und Amerikas ist die Zahlung der gewaltigen britischen Schulden an Amerika, ohne dass für England die Aussicht besteht, irgendeinmal die Schulden seitens der kontinentalen Staaten eintreiben zu können. Das ökonomische Kräfteverhältnis wird so noch mehr zugunsten Amerikas verschoben.

Am 5. März d. Js. hat die Bank of England den Diskontsatz von 4 auf 5% erhöht, nachdem die New Yorker Federated Bank diesen Satz von 3 auf 3½% erhöhte. In der Londoner City hat man diese brutale Erinnerung an die finanzielle Abhängigkeit vom transozeanischen Vetter sehr schmerzlich empfunden. Aber was tun? Die amerikanische Goldreserve beträgt etwa 18 Milliarden Mark, während die englische Reserve 3 Milliarden Mark nicht übersteigt, also sechsmal kleiner ist. Amerika hat Goldumlauf, während England nur verzweifelte Anstrengungen macht, ihn wieder herzustellen. So erklärt es sich, dass die Erhöhung des Diskontsatzes in Amerika von 3 auf 3½% von England mit einer Erhöhung von 4 auf 5% beantwortet werden musste. Diese Maßnahme trifft Handel und Industrie in England schwer, da sie die notwendigen Mittel verteuert. So weist Amerika bei jedem Schritt England seinen Platz an, in dem einen Falle durch diplomatischen Druck, im anderen Falle durch banktechnische Maßnahmen, immer und überall durch den Druck seines ungeheuren ökonomischen Übergewichts.B

Gleichzeitig vermerkt die englische Presse beunruhigt den „verblüffenden Fortschritt" in verschiedenen Zweigen der deutschen Industrie, besonders im deutschen Schiffbau. Über den Schiffbau schreiben die „Times" am 10. März: „Es ist möglich, dass einer der Faktoren, die die Möglichkeit einer erfolgreichen Konkurrenz der deutschen Schiffswerften erzeugen, die vollständige Vertrustung der Materialien ist, von der Grube bis zur Metallplatte, von der Finanzbank bis zum Detailverkauf. Dies System bleibt nicht ohne Folgen für den Arbeiterlohn und den Lebensstandard. Wenn alle diese Kräfte auf denselben Weg geleitet werden, müssen sie natürlich die Spesen bedeutend verringern." Mit anderen Worten: Die „Times" konstatieren, dass die organischen Vorzüge einer zeitgemäßeren deutschen Industrie wieder mit ganzer Kraft in Erscheinung treten, sobald die Wirtschaft Deutschlands die bloße Möglichkeit erhalten hat, Lebenszeichen von sich zu geben. Gewisse Vorgänge lassen auch vermuten, dass eine Schiffsbestellung den Hamburger Werften in der Absicht erteilt wurde, die Trade Unions zu erschrecken und so einen Druck vorzubereiten, um den Arbeitslohn zu kürzen und den Arbeitstag zu verlängern. Überflüssig zu sagen, dass ein solches Manöver mehr als wahrscheinlich ist. Aber dadurch werden keineswegs die allgemeinen Betrachtungen über die unrationelle Organisation der englischen Industrie und die daraus resultierenden übergroßen Unkosten abgeschwächt.

Schon seit 4 Jahren ist die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen in England nie unter 1.135.000 gesunken, tatsächlich hat sie sich zwischen 1¼ und 1½ Millionen bewegt. Die chronische Arbeitslosigkeit ist die grellste Offenbarung der Unfähigkeit eines Regimes, ist gleichzeitig seine Achillesferse. Die Arbeitslosenversicherung, die 1920 eingeführt wurde, hatte außerordentliche Umstände im Auge, die schnell verschwinden sollten. Inzwischen wurde aber die Arbeitslosigkeit permanent, die Versicherung als solche hat aufgehört, und die Ausgaben für die Arbeitslosen werden nicht mehr durch die Beiträge der Interessenten gedeckt. Die englischen Arbeitslosen sind nicht mehr eine „normale Reservearmee", die einmal kleiner, einmal größer ist, und sich ständig in ihrer Zusammensetzung verändert, sondern sie ist vielmehr eine gewisse permanente gesellschaftliche Schicht, die durch die Industrie in der Epoche des Aufstiegs geschaffen und in der Epoche des Niederganges abgesondert wurde. Eine solche Erscheinung bedeutet eine krankhafte Verhärtung des Gesellschaftsorganismus mit schlechtem Stoffwechsel.

Der Vorsitzende der „Federation der Britischen Industrien" (F. B. I.) Oberst Willey erklärte Anfang April, dass der Profit des Industriekapitals in den letzten 2 Jahren so unbedeutend war, dass er die Unternehmer nicht zu einer Entwicklung der Industrie zu reizen vermochte. Die Aktien der Unternehmungen zahlen nicht höhere Dividende als festverzinsliche Wertpapiere (Staatsanleihen usw.). „Unser nationales Problem ist nicht das Problem der Produktion, sondern das Problem des Absatzes." Wie ist aber dieses Absatzproblem zu lösen? Man muss billiger als die anderen produzieren. Aber um dieses Ziel zu erreichen, muss man endlich die Industrie gründlich reorganisieren oder die Steuern verringern oder den Arbeitslohn verkürzen oder alle drei Methoden kombinieren. Die Verkürzung des Arbeitslohnes, die nur ein nichtiges Resultat in der Richtung der Verringerung der Produktionsunkosten ergibt, wird einen entschiedenen Widerstand hervorrufen, weil die Arbeiter jetzt um Lohnerhöhungen kämpfen. Die Herabsetzung der Steuern ist unmöglich, da man Schulden zahlen, die Goldzirkulation wieder herstellen und den Apparat des Imperiums und obendrein noch anderthalb Millionen Arbeitslose unterhalten muss. Alle diese Ausgaben erhöhen die Produktionskosten. Die Industrie könnte man nur durch die Investierung frischer Kapitalien reorganisieren. Dabei weist der geringe Gewinn die freien Kapitalien auf den Weg der staatlichen und anderen Anleihen.

Der Vorsitzende der Assoziation der Britischen Handelskammern, Stanley Machin, erklärte zur gleichen Zeit, dass es nur einen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit gebe: Auswandern .… Das liebe Vaterland erklärt mehr als einer Million Arbeiter, die mit ihren Familien mehrere Millionen Bürger ausmachen: „Kriecht in das Zwischendeck und schert euch übers Meer." Der völlige Bankrott des kapitalistischen Regimes wird hier ohne Umschweife eingestanden.

Die innere Lage Englands muss man aus jener Perspektive betrachten, die wir oben eröffneten; in immer schnellerem Tempo vollzieht sich der Niedergang der Weltmachtstellung Großbritanniens, das tatsächlich immer mehr in untergeordnete Positionen verdrängt wird, obwohl ihm vorläufig noch alle Besitzungen, der gesamte Apparat und die Traditionen der Weltherrschaft verblieben sind.

Der Zusammenbruch der liberalen Partei krönt die Geschichte des Jahrhunderts der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft und der bürgerlichen Gesellschaft. Der Verlust der Welthegemonie hat ganze Zweige der englischen Industrie auf den toten Punkt geschoben und den selbständigen Industrie- und Handelskapitalien mittleren Kalibers, diesem Mutterboden des Liberalismus, den Todesstoß versetzt. Das Prinzip der Handelsfreiheit ist tot.

Indessen schien doch die innere Stabilität des kapitalistischen Regimes in bedeutendem Maße durch die Teilung von Arbeit und Verantwortung zwischen dem Konservatismus und Liberalismus gesichert. Der Zusammenbruch des Liberalismus hat alle Widersprüche der Weltlage des bürgerlichen England und gleichzeitig die Quelle der inneren Haltlosigkeit des Regimes enthüllt. Gewisse Spitzen der Arbeiterpartei stehen den Liberalen sehr nahe, aber deshalb sind sie keineswegs imstande, dem englischen Parlamentarismus seine alte Stabilität wiederzugeben, weil sie selbst in ihrer jetzigen Form nur eine flüchtige Etappe in der revolutionären Entwicklung der Arbeiterklasse darstellen. MacDonald sitzt noch weniger fest als Lloyd George.

Marx rechnete im Anfang der 50er Jahre mit einem nahen Zusammenbruch der konservativen Partei und glaubte, dass die gesamte politische Entwicklung sich zu einem Kampf zwischen dem Liberalismus und Sozialismus zuspitzen würde. Diese Prognose setzte den raschen Verlauf der revolutionären Entwicklung in England und Europa voraus. Wie bei uns die Kadettenpartei unter dem Druck der Revolution zur einzigen Partei der Gutsbesitzer und des Bürgertums wurde, hätte nach Marx der englische Liberalismus die konservative Partei aufsaugen und zur einzigen Partei des Eigentums werden müssen, wenn im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der revolutionäre Ansturm des Proletariats stärker geworden wäre. Aber Marx stellte seine Prognose gerade am Vorabend der neuen Epoche der stürmischen kapitalistischen Entwicklung (1851-1873). Der Chartismus erlebte einen vollständigen Zusammenbruch. Die Arbeiterbewegung ging den Weg des Trade-Unionismus. Die herrschenden Klassen gewannen die Möglichkeit, ihre Widersprüche in der Form eines Kampfes der liberalen und konservativen Parteien auszutragen. Die Bourgeoisie gab der parlamentarischen Schaukel einen Stoß von rechts nach links, dann wieder von links nach rechts, und schuf so den oppositionellen Stimmungen der Arbeitermasse einen Ausweg.

Die deutsche Konkurrenz war die erste drohende Warnung an die britische Welthegemonie und versetzte ihr die ersten ernsten Schläge. Das Prinzip der Handelsfreiheit prallte mit den Vorzügen der deutschen Technik und Organisation zusammen. Der englische Liberalismus war nur eine politische Verallgemeinerung jenes Prinzips! Die Manchesterschule besaß ihre dominierende Position seit der Zeit der bürgerlich-zensitären Wahlreform im Jahre 1832 und der Aufhebung der Brotzölle im Jahre 1846. Dann erschien ein halbes Jahrhundert lang die Doktrin der Handelsfreiheit als ein unerschütterliches Dogma. Notwendige Folge war, dass die leitende Rolle von den Liberalen gespielt wurde. Die Arbeiter tappten in ihren Spuren. Mitte der 70er Jahre stocken die Geschäfte. Das Prinzip der Handelsfreiheit ist diskreditiert. Die protektionistische Bewegung setzt ein. Das Bürgertum wird mehr und mehr von imperialistischen Tendenzen erfasst. Die Zersetzungssymptome der liberalen Partei treten noch in der Ära Gladstones in Erscheinung, als eine Gruppe der Liberalen und Radikalen mit Chamberlain an der Spitze die Fahne des Protektionismus hisste und sich den Konservativen anschloss. Mitte der 90er Jahre besserte sich die Geschäftslage. Dieser Umschwung hemmte die politische Transformation Englands. Aber zu Anfang des 20. Jahrhunderts erscheint der Liberalismus als Partei des mittleren Bürgertums schwer beschädigt. Sein Führer Rosebery tritt offen unter die Fahne des Imperialismus. Aber der liberalen Partei war vor ihrem Abtreten von der Bühne noch einmal ein Aufstieg beschieden. Unter dem Einfluss des offenbaren Niederganges der Hegemonie des britischen Kapitals und der mächtigen Entwicklung der revolutionären Bewegung in Russland geriet die englische Arbeiterklasse in Bewegung; dies politische Erwachen der Arbeiter, mochte es auch zur Errichtung einer parlamentarischen Arbeiterpartei führen, war doch im ersten Augenblick Wasser auf die Mühle der liberalen Opposition. Der Liberalismus gelangte im Jahre 1906 wieder zur Macht. Aber dieser Aufstieg konnte seinem ganzen Inhalt entsprechend keineswegs von Dauer sein. Die politische Linie des Proletariats führt zum weiteren Wachstum der Arbeiterpartei. Bis 1906 wuchs die Vertretung der Arbeiterpartei mehr oder weniger, gleichzeitig mit der Vertretung der Liberalen. Nach 1906 wuchs die Arbeiterpartei offenbar auf Kosten der Liberalen.

Formell besaß die Liberale Partei in der Person Lloyd Georges die Führung des Krieges. Tatsächlich aber musste der imperialistische Krieg, vor dem England das heilige Prinzip der Handelsfreiheit nicht schützen konnte, notwendig die Konservativen stärken, denn sie stellten eine konsequente Partei des Imperialismus dar. So waren die Bedingungen eines Auftretens auf der Bühne für die Arbeiterpartei endgültig gegeben.

In seiner Ohnmacht gegenüber der Frage der Arbeitslosigkeit folgert das Tagesorgan der Arbeiterpartei „Daily Herald" aus den von uns oben angeführten kapitalistischen Zugeständnissen den allgemeinen Schluss, dass den englischen Arbeitern nichts anderes übrig bleibe, als ohne die Kapitalisten zu produzieren, da die englischen Kapitalisten es vorzögen, ihre Gelder auswärtigen Regierungen zu leihen, statt die Produktion zu heben. Die Schlussfolgerung ist, allgemein gesprochen, richtig. Aber sie wird nicht deshalb ausgesprochen, um die Arbeiter zu veranlassen, die Kapitalisten zu verjagen, sondern um die Kapitalisten zu veranlassen, den Weg der „fortschrittlichen Bemühungen" zu gehen. Darauf gründet sich, wie wir noch sehen werden, die ganze Politik der Arbeiterpartei. Die Webbs schreiben für dies Ziel Bücher, dafür hält MacDonald Reden, dafür liefern die Redakteure des „Herald" täglich ihre Artikel. Wenn diese kümmerlichen Einschüchterungsversuche auf die Kapitalisten überhaupt wirken, so wirken sie gerade in entgegengesetzter Richtung. Jeder ernste englische Bourgeois versteht, dass sich hinter diesen theatralischen Drohungen der Führer der Arbeiterpartei eine ganz reale Gefahr verbirgt: sie droht von den tief erregten Proletariermassen selbst her. Und eben deshalb zieht der kluge Bourgeois die Schlussfolgerung, dass man sich wohl hüten muss, neues Kapital in der Industrie zu investieren.

Die Angst der Bourgeoisie vor der Revolution ist nicht immer und auch nicht unter jeder Bedingung ein „fortschrittlicher" Faktor. So kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die englische Wirtschaft großen Nutzen aus einer Zusammenarbeit Englands und Russlands gezogen hätte. Aber eine solche Verbindung setzt einen großen Plan voraus, erfordert großzügige Kredite, die Anpassung eines bedeutenden Teiles der englischen Industrie an den Bedarf Russlands. Hindernisse aber schaffen die Angst der Bourgeoisie vor der Revolution, die Unsicherheit der Kapitalisten, was der kommende Tag bringen kann.

Die Angst vor der Revolution hat bisher die englischen Kapitalisten Zugeständnissen und Reformen geneigt gemacht, solange die materiellen Möglichkeiten des englischen Kapitalismus unbegrenzt waren oder es wenigstens zu sein schienen. Die Stöße der europäischen Revolutionen hat man immer sehr deutlich in der gesellschaftlichen Entwicklung Englands empfunden; sie brachten Reformen, solange der englischen Bourgeoisie dank ihrer Weltstellung gewaltige Hilfsmittel zur Verfügung standen, um geschickt manövrieren zu können. Sie konnte die Trade Unions legalisieren, die Brotzölle aufheben, den Arbeitslohn erhöhen, das Wahlrecht reformieren, soziale Reformen einführen usw. Bei der jetzigen, bis in die Tiefe veränderten Weltlage Englands ist die Drohung mit der Revolution nicht imstande, die Bourgeoisie vorwärts zu treiben, sondern lähmt vielmehr die letzten Reste ihrer industriellen Initiative. Jetzt sind nicht die Drohungen mit der Revolution, sondern die Revolution selbst notwendig.

Alle angeführten Faktoren und Tatsachen tragen keinen zufälligen oder provisorischen Charakter. Sie entwickeln sich immer in derselben Richtung, verschlechtern systematisch die internationale und innere Lage Großbritanniens und geben dieser Lage den Charakter der historischen Hoffnungslosigkeit.

Die Widersprüche, die den sozialen Organismus Englands untergraben, werden sich unweigerlich verschärfen. Wir wollen keine Prognose stellen, welches Tempo dieser Prozess einschlagen wird, aber in jedem Falle wird dieser Prozess in einigen Jahren, höchstens in einem Jahrfünft, keineswegs aber in Jahrzehnten, vollzogen sein. Die allgemeine Perspektive eröffnet sich so, dass man sich vor allem folgende Frage stellen muss: Wird in England die Bildung einer starken kommunistischen Partei gelingen, die mit den Massen eng genug verbunden ist, um im gegebenen Augenblick alle notwendigen praktischen Folgerungen aus der sich stetig verschärfenden Krise zu ziehen? Diese Frage umschließt jetzt Englands Schicksal.

A M. Beer, Geschichte des Sozialismus in England. Stuttgart 1913. S. 227.

B Seit der Niederschrift dieser Sätze hat das englische Ministerium eine Reihe Maßnahmen gesetzlichen und bankfinanziellen Charakters getroffen, die den Übergang zur Goldwährung sichern sollen. Scheinbar ein „großer Sieg" des englischen Kapitalismus. Tatsächlich aber tritt der Niedergang Englands nirgends so klar zutage, wie in dieser finanziellen Errungenschaft England musste diese kostspielige Operation unter dem Druck des vollwertigen amerikanischen Dollars und der Finanzpolitik seiner eigenen Dominions vollziehen, die sich immer mehr nach dem Dollar hin orientiert haben und dem Pfund den Rücken kehren. England könnte den letzten Sprung zum Golde nicht ohne eine bedeutende finanzielle „Hilfe" der Vereinigten Staaten machen; aber dann würde auch das Pfund in unmittelbare Abhängigkeit von Neuyork geraten. Die Vereinigten Staaten würden so ein äußerst wichtiges Instrument finanzieller Repressalien gewinnen. Diese Abhängigkeit kostet England hohe Zinsen. Der hohe Zinsfuß belastet die ohnehin schon kränkelnde Industrie schwer. Um den Export seines Goldes zu verhindern, muss England den Export seiner Waren untergraben. Gleichzeitig kann es aber auf den Übergang zur Goldwährung nicht verzichten, ohne seinen Niedergang auf dem Weltkapitalmarkt zu beschleunigen. Dies verhängnisvolle Zusammentreffen der Umstände erweckt in den regierenden Kreisen Englands das Gefühl einer akuten Erkrankung und erzeugt böses, aber ohnmächtiges Murren der konservativen Presse. Die „Daily Mail" schreibt; „.. Mit der Annahme der Goldbasis gibt die englische Regierung den Federalbanken (die faktisch unter dem Einfluss der Regierung der Vereinigten Staaten stehen) die Möglichkeit, im beliebigen Augenblick eine Geldkrise in England zu inszenieren… Die englische Regierung unterwirft die ganze Finanzpolitik ihres Landes einer fremden Nation Das britische Imperium wird bei den Vereinigten Staaten lombardiert" „Dank Churchill", schreibt die konservative Zeitung „Daily Express", „gerät England unter die Ferse der amerikanischen Bankiers." Noch entschiedener spricht sich „Daily Chronicle" aus: „England wird tatsächlich zum 49. Staat Amerikas degradiert." Klarer und deutlicher kann man nicht sprechen. Auf alle diese brutalen Selbstbezichtigungen – ohne Schlussfolgerungen und Perspektiven – antwortet der Finanzminister Churchill sinngemäß, dass England nichts anderes übrig bleibe, als sein Finanzsystem mit der Wirklichkeit (with reality) in Einklang zu bringen. Die Worte Churchills bedeuten: Wir sind unermesslich ärmer geworden, die Vereinigten Staaten unermesslich reicher; wir müssen entweder mit Amerika kämpfen oder uns ihm unterwerfen; indem wir das Schicksal des Pfundes in Abhängigkeit von den amerikanischen Banken bringen, übersetzen wir unseren allgemeinen ökonomischen Niedergang in eine Valutasprache; man kann nicht über den eigenen Kopf springen, man muss „in Einklang mit der Wirklichkeit" handeln.

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