II. Mr. Baldwin und die Gradation

II. Mr. Baldwin und die Gradation

Am 12. März 1925 hielt der englische Premierminister und Führer der konservativen Partei, Mr. Baldwin, in Leeds vor einem konservativen Auditorium eine große Rede über das Schicksal Englands. Diese Rede verriet, wie so viele andere Reden Mr. Baldwins, die großen Sorgen, die den Premierminister erfüllen. Wir glauben, dass Mr. Baldwin vom Standpunkt seiner Partei zu solchen Sorgen wahrhaft Grund genug hat. Wir selbst betrachten zwar die Fragen von einer etwas anderen Seite. Mr. Baldwin hat Angst vor dem Sozialismus; um die Gefährlichkeit und Schwierigkeit des Weges zum Sozialismus zu beweisen, machte Mr. Baldwin den etwas überraschenden Versuch, sich auf den Schreiber dieser Zeilen zu stützen. Diese Tatsache gibt uns, wie wir hoffen, das Recht, Mr. Baldwin zu antworten, ohne Gefahr zu laufen, der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Großbritanniens beschuldigt zu werden.

Baldwin sieht – allerdings nicht ohne Grund – im Wachsen der Arbeiterpartei die größte Gefahr für das Regime, das er vertritt. Er hofft selbstverständlich, dass er siegen wird, denn „unsere (konservativen) Grundsätze stehen in einem engeren Zusammenhang mit dem Charakter und den Traditionen unseres Volkes, als die Traditionen und Prinzipien gewaltsamer Veränderungen." Trotzdem erinnert der konservative Führer seine Hörer daran, dass der letzte Wahlgang des Landes keineswegs ein endgültiges Resultat gezeitigt hat. Mr. Baldwin selbst weiß natürlich genau, dass der Sozialismus nicht zu verwirklichen ist. Da er sich aber in einer gewissen Verlegenheit befindet und außerdem vor einem Auditorium auftritt, das auch ohne seine Hilfe davon überzeugt ist, dass sich der Sozialismus nicht verwirklichen lässt, verraten die Argumente Mr. Baldwins in dieser Beziehung gerade keine besondere Findigkeit. Er erinnert das konservative Auditorium daran, dass die Menschen weder frei noch gleich noch als Brüder geboren werden. Er wendet sich an jede Mutter in der Versammlung mit der Frage, ob ihre Kinder gleich geboren werden. Als Antwort hört er das selbstzufriedene und anspruchslose Lachen seines Auditoriums. Es ist wahr, dass dieselben Beweise die englischen Volksmassen von den geistigen Ururgroßvätern Mr. Baldwins gehört haben – damals waren die Beweise die Antwort auf die Forderung des Rechtes auf Glaubensfreiheit und auf kirchliche Organisation nach eigenem Willen. Dieselben Beweise wurden später gegen die Forderung der Gleichheit vor Gericht und noch später, vor gar nicht zu langer Zeit, gegen das allgemeine Wahlrecht vorgebracht. Die Menschen werden nicht gleich geboren, Mr. Baldwin, aber warum müssen sie sich alle vor denselben Gerichten verantworten, stehen alle unter denselben Gesetzen? Man könnte Baldwin auch erwidern, dass die Kinder zwar ungleich geboren werden, die Mutter aber stets ihren ungleichen Kindern dieselbe Kost gibt und auch dafür sorgt – wenn sie irgend imstande ist – dass alle ihre Kinder ein Paar Schuhe anzuziehen haben. Anders verfährt doch nur eine böse Stiefmutter. Man könnte auch Mr. Baldwin erklären, dass der Sozialismus sich keineswegs zur Aufgabe macht, die anatomische, physiologische und psychische Gleichheit herzustellen, vielmehr nur die Sicherstellung gleichartiger materieller Existenzbedingungen für alle Menschen schaffen will. Wir werden aber unsere Leser nicht mit der Darlegung solcher allzu elementarer Gedanken belästigen. Mr. Baldwin selbst kann, wenn es ihn interessiert, die einschlägigen Quellen einsehen, und da er seiner Denkungsart gemäß mehr zu den klassischen und rein britischen Autoren neigt, könnten wir ihm die Lektüre des alten Robert Owen empfehlen, der gewiss die Klassendynamik der kapitalistischen Gesellschaft absolut nicht verstand, in dessen Schriften aber Baldwin zahlreiche wertvolle allgemeine Betrachtungen über die Vorzüge des Sozialismus finden wird.

Aber das sozialistische Ziel – etwas sehr verwerfliches an und für sich – jagt natürlich Mr. Baldwin nicht so großen Schrecken ein wie der gewalttätige Weg zu diesem Ziel. In der Arbeiterpartei beobachtet Baldwin zwei Tendenzen: Eine vertritt nach ihm Mr. Sidney Webb, der die „Unvermeidlichkeit der Gradation" anerkannt hat. Aber da gibt es noch andere Führer, wie Cook oder Wheatley, letzterer besonders, seitdem er seinen Ministerposten verlassen hat, – diese Führer glauben an Gewalt, sagt Mr. Baldwin. Im Allgemeinen hat die Regierungsverantwortung nach Baldwins Meinung einen heilsamen Einfluss auf die Führer der Arbeiterpartei ausgeübt und sie gezwungen, gemeinsam mit Webb die Unvorteilhaftigkeit der Revolutionsmethoden und die Vorzüge der Gradation einzusehen. Und nun hat Baldwin in einem gewissen Sinne einen geistigen Interventionsversuch in russische Angelegenheiten unternommen, um sein armseliges Beweismaterial gegen den britischen Sozialismus zu verstärken.

Wir zitieren wortgetreu nach dem Bericht der „Times": „Der Premierminister zitierte Trotzki, der in den letzten Jahren eine Entdeckung gemacht und geschrieben hat, dass zwar das russische Proletariat die Revolutionskrise leicht überwunden habe, um so größere Schwierigkeiten bereite ihm aber der Wiederaufbau. Und weiter erklärte Baldwin, Trotzki habe auch gesagt, und das habe noch keiner der radikalen Führer in England ausgesprochen: ,Wir müssen lernen, produktiver zu arbeiten.' Ich möchte wissen, sagt Mr. Baldwin, wie viel Stimmen sich für eine englische Revolution gefunden hätten, wenn man vor einem Wahlgang der Bevölkerung eröffnet hätte, als einziges (?) Resultat der Revolution werde sich die Notwendigkeit ergeben, produktiver zu arbeiten. (Heiterkeit und Beifall.) Trotzki sagte in seinem Buch: ,In dem Russland vor und nach der Revolution existierte und existiert die unveränderte Natur des russischen Menschen (?!). Trotzki ist ein Mann der Tat, er versteht sich auf Realitäten, er hat schrittweise und widerstrebend dasselbe entdeckt, was Mr. Webb schon vor zwei Jahren entdeckt hat: die Unvermeidlichkeit der Gradation. (Heiterkeit und Beifall.)"

Gewiss, es ist sehr schmeichelhaft, dem konservativen Auditorium empfohlen zu werden: mehr kann kaum ein Sterblicher verlangen. Fast ebenso schmeichelhaft ist es, in die unmittelbare Nachbarschaft von Mr. Sidney Webb, des Gradationspropheten, zu gelangen. Aber bevor wir diesen Ehrenplatz einnehmen, wären wir nicht abgeneigt, von Mr. Baldwin einige authentische Aufschlüsse zu erhalten. Weder unsere Lehrer noch wir selbst haben je daran gedacht, die Gradation der Entwicklung in der Natur wie auch in der menschlichen Gesellschaft, in der Wirtschaftspolitik wie in den Sitten zu leugnen. Es ist weder uns selbst noch unseren Lehrern je eingefallen, eine solche Gradation zu leugnen, auch nicht auf Grund der Erfahrungen „der letzten Jahre". Wir möchten uns aber nur über den Charakter dieser Gradation verständigen. Wir wollen ein Beispiel wählen, das Mr. Baldwin als Protektionist naheliegt, und erinnern daran, dass Deutschland, das graduell in die Arena der Weltkonkurrenz im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts gelangt ist, einer der mächtigsten Rivalen Englands wurde. Wie bekannt, führte dies Auftreten Deutschlands zum Kriege … Sieht Mr. Baldwin im Krieg eine Offenbarung der Gradationsmethoden? In jenem Kriege verlangte die konservative Partei die Vernichtung der Hunnen und die Niederwerfung des deutschen Kaisers durch die Gewalt des britischen Schwertes. Vom Standpunkte der Gradationstheorie wäre es vielleicht richtiger gewesen, auf die Besserung der Sitten in Deutschland und die schrittweise Besserung seiner Beziehungen zu England zu hoffen. Jedoch während der Jahre 1914-1918 hat Mr. Baldwin, soweit wir uns erinnern können, die Anwendung der Gradationsmethoden auf die deutsch-englischen Beziehungen kategorisch verworfen, er war vielmehr bestrebt, diese Aufgabe mit Hilfe möglichst großer Massen Sprengstoffs zu lösen. Wir glauben, dass Dynamit und Lioith kaum als Beweismittel der konservativ-evolutionistischen Theorie aufgeführt werden können.

Das Vorkriegs-Deutschland ist nicht plötzlich eines Tages in Wehr und Waffen dem Meeresschaum entstiegen. Nein, es entwickelte sich graduell aus seiner früheren wirtschaftlichen Nichtigkeit. Aber dieser Gradationsprozess erlebte einige Unterbrechungen: die Kriege, die Preußen 1864 mit Dänemark, 1870 mit Frankreich führte, haben eine gewaltige Rolle im Wachstum seiner Macht gespielt und ihm die Möglichkeit gegeben, siegreich die Konkurrenz mit England im Weltmaßstabe aufzunehmen.

Der Reichtum, als Resultat menschlicher Arbeit, entsteht zweifellos unter der Voraussetzung einer gewissen Gradation. Aber vielleicht wird Mr. Baldwin einräumen, dass der Reichtum der Vereinigten Staaten im Verlauf der Kriegsjahre einen gigantischen Aufschwung genommen hat. Die Gradation der Akkumulation wurde durch die Kriegskatastrophe jäh erschüttert, die eine Verarmung Europas und eine ungeheure Bereicherung Amerikas hervorrief.

Vom Sprung seines eigenen Lebens erzählt Mr. Baldwin in einer Parlamentsrede, die den Trade Unions gewidmet war. In seiner Jugend leitete Baldwin eine Fabrik, die von Geschlecht zu Geschlecht vererbt wurde, in der die Arbeiter geboren wurden und starben, wo also völlig das Prinzip der patriarchalischen Gradation herrschte. Da brach ein Grubenarbeiterstreik aus. Die Fabrik konnte infolge Kohlenmangels nicht arbeiten, und Mr. Baldwin sah sich gezwungen, die Fabrik zu schließen und „seine" Arbeiter in alle vier Himmelsrichtungen zu entlassen. Gewiss, Baldwin kann sich auf den bösen Willen der Grubenarbeiter berufen, die ihn gezwungen haben, das heilige konservative Prinzip zu verletzen. Die Grubenarbeiter würden sich wahrscheinlich auf den bösen Willen ihrer Patrone berufen, die sie gezwungen haben, in den gewaltigen Streik zu treten, der eine Unterbrechung des monotonen Exploitationsprozesses bedeutete. Aber zuletzt sind die subjektiven Beweggründe in diesem Falle gleichgültig: Wir müssen uns damit begnügen, dass die Gradation auf den verschiedensten Gebieten des Lebens von Katastrophen, Unterbrechungen und Sprüngen hinauf und hinab begleitet wird. Der lange Prozess der Konkurrenz beider Staaten bereitete den Krieg graduell vor. Die Unzufriedenheit der exploitierten Arbeiter bereitet den Streik graduell, die schlechte Verwaltung einer Bank bereitet graduell den Bankrott vor.

Der verehrte konservative Führer kann gewiss sagen, dass solche Unterbrechungen der Gradation, wie Krieg und Bankrott, die Verarmung Europas und die Bereicherung Amerikas auf Europas Kosten sehr traurig sind, und dass man solche Vorkommnisse, ganz allgemein gesagt, hätte vermeiden müssen. Wir können darauf gar nichts erwidern, wenn wir nicht sagen wollen, dass die Geschichte der Völker zum größeren Teile die Geschichte der Kriege ist, und die Geschichte der ökonomischen Entwicklung durch die Statistik der Bankrotte verschönert wird. Mr. Baldwin hätte hier vielleicht gesagt: Es ist etwas Eigentümliches um die menschliche Natur, Nehmen wir an, dem wäre so. Aber das hieße auch, dass die „Natur" des Menschen die graduelle Entwicklung mit katastrophalen Sprüngen vereinigt.

Aber die Geschichte der Menschheit ist nicht nur die Geschichte der Kriege, sondern auch die Geschichte der Revolutionen. Die althergebrachten Rechte, die sich im Laufe der Jahrhunderte gebildet hatten und durch die ökonomische Entwicklung folgender Jahrhunderte erschüttert waren, hat man in Frankreich am 4. August 1789 mit einem Schlage beseitigt. Die deutsche Revolution hat am 9. November 1918 den deutschen Absolutismus vernichtet, der durch den Kampf des Proletariats unterminiert und durch die Siege der Alliierten auf dem Schlachtfeld niedergemäht wurde. Wir haben bereits daran erinnert, dass eine der Kriegslosungen der britischen Regierung, deren Mitglied Mr. Baldwin war, lautete: „Krieg bis zur völligen Niederwerfung des deutschen Militarismus!" Denkt Mr. Baldwin nicht daran, dass infolge der Kriegskatastrophe mit einiger Unterstützung Mr. Baldwins selbst sich die Revolutionskatastrophe in Deutschland vorbereitete, und es so zu einer nicht unwesentlichen Verletzung der historischen Gradation kam? Gewiss, man kann erwidern, der deutsche Militarismus war schuld, und außerdem noch der böse Wille des Kaisers. Wir glauben gern, dass Mr. Baldwin die Welt, wenn er sie geschaffen hätte, mit dem gütigsten Kaiser und sanftmütigsten Militaristen bevölkert hätte. Aber diese Möglichkeit hatte der englische Premier nicht. Außerdem haben wir von ihm selbst gehört, dass die Menschen einschließlich des Kaisers weder gleich noch gut noch als Brüder geboren werden. Man ist gezwungen, die Welt zu nehmen, wie sie ist. Mehr noch: Wenn die Niederwerfung des deutschen Imperialismus etwas Gutes war, muss man auch zugeben, dass die deutsche Revolution etwas Gutes war, die das Werk der militärischen Niederwerfung vervollständigte, will sagen: gut war die Katastrophe, die mit einem Schlage alles niederriss, was sich graduell gebildet hatte.

Mr. Baldwin kann gewiss erwidern, dass dies Alles sich keineswegs direkt auf England beziehen kann, und vielmehr nur in diesem auserwählten Lande das Prinzip der Gradation seinen vollendeten Ausdruck gefunden hat. Aber, wenn es sich wirklich so verhielte, hätte Mr. Baldwin sich vergeblich auf meine Worte berufen, die sich auf Russland bezogen, denn er verlieh dem Prinzip der Gradation einen allgemeinen absoluten Charakter. Meine politische Erfahrung bestätigt diese „Wahrheit" nicht. Vor meinen Augen zogen in Russland drei Revolutionen vorüber: 1905, Februar 1917, Oktober 1917. Der Februarrevolution hat der Mr. Baldwin nicht ganz unbekannte Buchanan eine gewisse bescheidene Unterstützung erwiesen, der wahrscheinlich nicht ohne Wissen seiner Regierung in diesem Augenblicke glaubte, eine kleine Revolutionskatastrophe in Petrograd wäre den Interessen Großbritanniens nützlicher als die Rasputinsche Gradation.

Aber ist es denn überhaupt richtig, dass „der Charakter und die Geschichte des englischen Volkes" in einem so absoluten und entschiedenen Maße von den konservativen Traditionen der Gradation durchtränkt sind? Ist es richtig, dass das englische Volk so feindlich den „gewalttätigen Veränderungen" gegenübersteht? Vor allem ist die ganze englische Geschichte die Geschichte der gewalttätigen Veränderungen, die die herrschenden Kreise Englands im Leben – anderer Völker – hervorgerufen haben. So wäre es sehr interessant zu erfahren, ob man die Besitzergreifung Indiens oder Ägyptens mit Hilfe des Prinzips der Gradation erklären kann. Über die Politik der britischen besitzenden Klassen in Indien hat sich am aufrichtigsten Lord Salisbury geäußert: „In Indien muss Blut fließen." („India must be bled.") Man kann nicht umhin, daran zu erinnern, dass Salisbury der Führer derselben Partei war, die jetzt Mr. Baldwin leitet. Und ferner muss man noch bemerken, dass dank einer glänzend organisierten Verschwörung der bürgerlichen Presse das englische Volk tatsächlich nicht weiß, was in Indien vorgeht (wohlgemerkt: d. h. Demokratie). Darf man vielleicht auch an die Geschichte des unglücklichen Irland erinnern, die besonders reich an Erscheinungen friedlicher Evolutionsmethoden der britischen Herrscherklassen ist? Soweit wir uns erinnern, stieß die Niederwerfung Südafrikas auf keine Proteste Mr. Baldwins, während die Buren nach dem Zusammenbruch ihrer Front vor den siegreichen Heeren General Roberts kaum in dieser Niederlage eine besonders überzeugende Offenbarung der Gradation gesehen haben. Gewiss, alle diese Fälle beziehen sich nur auf die äußere Geschichte Englands. Aber ist es denn nicht seltsam, dass das Prinzip der Evolutionsgradation, das man uns als ein allgemeines Postulat empfiehlt, seine Wirkung außerhalb der Grenzen Englands verliert: so in China, das man durch einen Krieg gezwungen hat, Opium zu kaufen, so in der Türkei, der man, sobald es notwendig ist, Mosul nehmen darf, so in Persien und Afghanistan, die man, wenn es notwendig ist, zum Gehorsam gegenüber England zwingt. Kann man daraus nicht die Folgerung ziehen, dass es England selbst in höherem Grade gelungen ist, die Gradation in seinen eigenen Grenzen zu verwirklichen, je größer der Erfolg war, mit dem es die Gewalt gegenüber anderen Völkern anwendet? Es ist so! Im Laufe von drei Jahrhunderten führte England ununterbrochen Krieg, um mit Piratenmethoden andere Nationen zu vergewaltigen, so die Arena der Exploitation zu verbreitern, sich fremde Reichtümer anzueignen, fremde Handelskonkurrenz zu beseitigen, fremde Seekräfte zu vernichten und die führenden britischen Kreise zu bereichern. Eine ernste Untersuchung der Tatsachen und ihrer inneren Zusammenhänge führt unweigerlich zu dem Schluss, dass die regierenden Klassen Englands desto besser revolutionären Erschütterungen im Inlande auswichen, je erfolgreicher sie durch Kriege und andere Erschütterungen in fremden Ländern ihre materielle Gewalt verstärkten; auf diese Weise verschafften sie sich die Möglichkeit, durch rechtzeitige, wenn auch ziemlich geizige Zugeständnisse die revolutionären Gelüste der Massen zu zähmen. Diese Schlussfolgerung, an sich völlig unwiderlegbar, beweist diametral entgegengesetzt das, was Baldwin beweisen wollte, denn in Wahrheit beweist die Geschichte Englands nur, dass man die „friedliche Entwicklung" nur durch Kriege, koloniale Vergewaltigungen und blutige Erschütterungen sichern kann. Nach „Gradation" sieht der Verlauf einer solchen Geschichte nicht aus!

Ein nicht unbekannter vulgärer Darsteller der englischen Geschichte, Gibbins, der für die breiten Schichten schrieb, sagt in seinem Buch über die zeitgenössische Geschichte Englands: „Im allgemeinen – wenn auch diese Regel manche Ausnahmen macht – ist die Unterstützung der politischen Freiheit und des konstitutionellen Regimes das leitende Prinzip der englischen auswärtigen Politik." Dieser Satz ist wirklich köstlich: er bleibt tief offiziös „national", traditionell, aber er tötet die scheinheilige Doktrin von der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Völker. Gleichzeitig aber beweist er, dass England die konstitutionellen Bewegungen in anderen Ländern nur unterstützt, so weit es für seine eigenen Handels- und sonstigen Interessen nützlich ist. In anderen Fällen „macht diese Regel", wie der unübertreffliche Gibbins sagt, „Ausnahmen". Zur Belehrung seines eigenen Volkes wird die ganze frühere Geschichte Englands, der Doktrin der Nichteinmischung zum Trotz, als die Geschichte des glorreichen Kampfes der britischen Regierung für die Freiheit der ganzen Welt dargestellt. Jeder neue Akt der Kabale und Vergewaltigung, der Krieg mit China um das Opium, die Versklavung Ägyptens, der Burenkrieg, die Intervention zugunsten der zaristischen Generäle, alle kriegerischen Expeditionen werden für zufällige Ausnahmen der allgemeinen Regel erklärt. Aber im allgemeinen findet man sonst das Prinzip der „Gradation" nicht wenig durchbrochen, weder nach der „Freiheit" noch nach dem Despotismus hin.

Man kann auch weitergehen und sagen, dass die Gewalt in den internationalen Beziehungen zulässig, ja sogar unausbleiblich, aber zwischen den Klassen verwerflich ist. Aber dann ist es nichtig, über das naturnotwendige Gesetz der Gradation zu reden, das die gesamte Entwicklung der Natur und Gesellschaft beherrschen soll. Dann muss man einfach sagen, die unterdrückte Klasse muss die unterdrückende Klasse ihrer Nation unterstützen, wenn sie zur Erreichung ihrer Ziele Gewalt anwendet. Aber die unterdrückte Klasse hat nicht das Recht, Gewalt anzuwenden, um sich eine bessere Lage in der Gesellschaft, die auf Unterdrückung begründet ist, zu sichern. Das wird zwar kein „Naturgesetz", aber ein Paragraph im bürgerlichen Strafgesetzbuch sein.

Aber auch im Verlauf der inneren Geschichte Großbritanniens dominiert das Prinzip der Gradation und der friedlichen Entwicklung keineswegs so, wie manche konservativen Philosophen es darstellen. Letzten Endes ging das heutige England aus der Revolution des 17. Jahrhunderts hervor. Im gewaltigen Bürgerkrieg jener Zeiten treten die Tories und Whigs in Erscheinung, die abwechselnd der Geschichte Englands im Verlaufe von fast drei Jahrhunderten ihren Parteistempel aufdrückten. Wenn Mr. Baldwin an die konservativen Traditionen der englischen Geschichte appelliert, so werden wir uns erlauben, ihn daran zu erinnern, dass die Tradition der konservativen Partei selbst sich auf die Revolution der Mitte des 17. Jahrhunderts stützt. Gleichzeitig zwingt uns die Berufung auf den „Charakter des englischen Volkes", daran zu erinnern, dass dieser Charakter im Feuer des Bürgerkrieges zwischen den Rundköpfen und Kavalieren gestählt wurde. Der Charakter der Independenten: der Kleinbürger, Händler, Handwerker, freien Landeigentümer, kleinen Gutsbesitzer, Edelleute, geschäftstüchtigen, gläubigen, sparsamen, arbeitsfreudigen und unternehmungslustigen Leute geriet in Feindschaft mit dem Charakter der faulenzenden, liederlichen und anmaßenden regierenden Kreise des alten England: des Hofadels, des hohen Beamtentums und des Episkopats. Aber die einen wie die anderen waren Engländer. Mit dem schweren Kriegshammer, den Oliver Cromwell auf den Amboss des Bürgerkrieges niedersausen ließ, formte er denselben nationalen Charakter, der im Laufe von zweieinhalb Jahrhunderten die gewaltigen Privilegien der englischen Bourgeoisie im Weltkampfe sicherte, um später am Ende des 19. Jahrhunderts sich sogar vom Standpunkte der kapitalistischen Entwicklung aus als zu starr konservativ zu offenbaren. Selbstverständlich waren der Kampf des „Langen Parlaments" mit der Herrschsucht Karls I. und die strenge Diktatur Cromwells durch die vorhergehende Geschichte Englands bedingt. Aber diese Tatsache beweist doch nur, dass Revolutionen nicht nach Gutdünken gemacht werden, sondern organisch aus den Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung hervor wachsen, und mindestens ebensolche unvermeidbaren Stufen der Entwicklung der Beziehungen zwischen den Klassen eines und desselben Volkes, wie die Kriege in der Entwicklung der Beziehungen der organisierten Nationen darstellen. Vielleicht kann Mr. Baldwin in dieser schrittweisen Vorbereitung die Quelle eines theoretischen Trostes entdecken?

Die alten konservativen Ladies, einschließlich Mrs. Snowden, die kürzlich entdeckte, dass die königlichen Familien die arbeitsfreudigsten Klassen der Gesellschaft repräsentieren, erbeben wahrscheinlich nachts, wenn sie der Hinrichtung Karls I. gedenken, obwohl sogar der reichlich reaktionäre Macaulay Verständnis für dies Ereignis zeigte. „Die Männer, die ihn in ihrer Gewalt hatten, waren keine mitternächtlichen Meuchelmörder. Was sie taten, taten sie in der Absicht, dass es ein Schauspiel für Himmel und Erde sein, und dass es in ewiger Erinnerung bleiben möge. Sie erfreuten sich mit ganzem Herzen des Ärgernisses, welches sie gaben. Dass die alte Verfassung und die öffentliche Meinung Englands dem Königsmord direkt widerstritten, umgab denselben mit einem besonderen Zauber in den Augen einer Partei, welche eine vollständige politische und soziale Revolution bewirken wollte. Um ihre Absicht zu erreichen, mussten sie zuerst jeden Teil der Regierungsmaschinerie zerbrechen, und diese Notwendigkeit war für sie eher angenehm als beschwerlich … Ein Revolutionsgericht wurde errichtet. Dieser Gerichtshof erklärte Karl für einen Tyrannen, Verräter, Mörder und öffentlichen Feind, sein Haupt wurde von seinen Schultern getrennt, vor Tausenden von Zuschauern und angesichts des Bankettsaales seines eigenen Palastes."A

Vom Standpunkte der Bestrebungen der Puritaner, alle Teile der alten Regierungsmaschine in Stücke zu schlagen, spielte die Tatsache eine Nebenrolle, dass Karl Stuart ein verrückter, verlogener und feiger Lump war. Die Puritaner haben den Todesstreich nicht nur Karl I., sondern dem königlichen Absolutismus versetzt, und die Früchte dieses Streiches genießen die Prediger der parlamentarischen Gradation bis auf den heutigen Tag.

Die Rolle der Revolution in der politischen und allgemein gesellschaftlichen Entwicklung Englands wird aber durch die Vorgänge des 17. Jahrhunderts noch nicht erschöpft. Man kann sagen – obwohl es anscheinend paradox klingt – dass die gesamte neuste Entwicklung Englands in den Spuren der europäischen Revolutionen verläuft. Wir geben eine gedrängte Übersicht der Hauptetappen, deren Kenntnis vielleicht nicht nur für Mr. Baldwin nützlich sein wird.

Die große französische Revolution hat der Entwicklung der demokratischen Tendenzen in England einen gewaltigen Stoß versetzt: in erster Linie der Arbeiterbewegung, die durch die Ausnahmegesetze des Jahres 1799 in die Illegalität getrieben wurde. Der Krieg gegen das revolutionäre Frankreich war nur bei den regierenden Klassen volkstümlich, die Volksmassen sympathisierten mit der französischen Revolution und waren über die Regierung Pitts empört. Die Entstehung der englischen Trade Unions wurde zum großen Teil durch den Einfluss der französischen Revolution auf die arbeitenden Massen hervorgerufen.

Der Sieg der Reaktion auf dem Kontinent, der den Einfluss der Landlords stärkte, führte 1815 zur Wiederherstellung der Bourbonen in Frankreich und zur Einführung der Getreidezölle in England.

Die Julirevolution 1830 in Frankreich gab 1831 den Anstoß zur ersten Bill der Wahlrechtsreformen in England. Die bürgerliche Revolution auf dem Kontinent hat die bürgerliche Reform auf der Briteninsel hervorgerufen.

Die radikale Reorganisation der Kanadaverwaltung in der Richtung einer ausgedehnten Autonomie wurde nach dem Aufstand in Kanada 1837/38 durchgeführt.

Die revolutionäre Bewegung des Chartismus führte 1844/47 zur Einführung des Zehnstunden-Arbeitstages und 1846 zur Annullierung der Getreidezölle. Die Zerschmetterung der Revolutionsbewegung 1848 auf dem Kontinent bedeutete nicht nur den Niedergang der Chartistenbewegung, sondern stoppte für lange Zeit die Demokratisierung des englischen Parlaments.

Der Wahlrechtsreform im Jahre 1868 ging der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten voraus. Als 1861 in Amerika der Kampf zwischen dem Norden und Süden entbrannte, demonstrierten die englischen Arbeiter für die Nordstaaten, während die Sympathien der herrschenden Klassen ganz auf Seiten der Sklavenhalter waren. Es ist lehrreich, dass der Liberale Palmerston, der sog. Lord „Brandstifter", und viele seiner Kollegen, unter ihnen der bekannte Gladstone, mit dem Süden sympathisierten und schleunigst die Südstaaten nicht als Rebellen, sondern als regelrechte Kriegspartei anerkannten. Auf den englischen Schiffswerften wurden Kriegsschiffe für die Südstaaten gebaut. Trotzdem siegte der Norden, und dieser Revolutionssieg auf dem Territorium Amerikas gab einem Teile der englischen Arbeiterklasse das Wahlrecht (Gesetz 1867). In England selbst wurde die Wahlrechtsreform, nebenbei gesagt, von einer stürmischen Bewegung begleitet, die in den Julitagen 1868 gipfelte und gewaltige zweitägige Unruhen hervorrief.

Die Zerschmetterung der Revolution 1848 hat die englischen Arbeiter geschwächt, die russische Revolution 1905 aber mit einem Schlage gestärkt. Die allgemeinen Wahlen 1906 gaben der Arbeiterpartei die Möglichkeit, zum ersten Mal im Parlament eine bedeutende Fraktion von 42 Mitgliedern zu bilden. Darin offenbarte sich zweifellos der Einfluss der Revolution 1905.

1918, noch vor Kriegsende, wurde in England eine neue Wahlrechtsreform eingeführt, die die Wahlkadres der Arbeiter bedeutend vergrößerte und zum ersten Male die Wahlbeteiligung der Frauen zuließ. Auch Mr. Baldwin wird wahrscheinlich kaum bestreiten, dass vor allem die russische Revolution 1917 den Anlass für diese Reform gab. Die englische Bourgeoisie meinte, auf diese Weise einer Revolution entgehen zu können. Dieser Vorgang beweist, dass zur Durchführung von Reformen nicht das Prinzip der Gradation allein genügt, sondern vielmehr auch eine reale Drohung der Revolution nötig ist.

Also, wenn man auf die Geschichte Englands in den letzten anderthalb Jahrhunderten im Rahmen der allgemeinen europäischen Entwicklung und auf die Entwicklung der ganzen Welt zurückblickt, stellt sich heraus, dass England die anderen Länder nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch ausgenutzt hat, indem es seine politischen „Unkosten" auf Rechnung der Bürgerkriege der Völker Europas und Amerikas verringerte.

Welchen Sinn haben die beiden Sätze, die Mr. Baldwin aus meinem Buche heraus riss, um sie der Politik der revolutionären Vertreter des englischen Proletariats gegenüberzustellen? Es ist nicht schwer, zu beweisen, dass der direkte und klare Sinn meiner Worte gerade der entgegengesetzte von dem war, was Mr. Baldwin braucht. Je leichter dem russischen Proletariat die Eroberung der Macht fiel, umso größere Hindernisse fand es auf dem Wege seines sozialistischen Aufbaus. Ja, ich habe es gesagt, und ich wiederhole es. Unsere alten regierenden Klassen waren ökonomisch und politisch bedeutungslos. Parlamentarische und demokratische Traditionen gab es fast gar nicht bei uns. Uns fiel es leichter, die Massen dem Einfluss der Bourgeoisie zu entreißen und die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen. Aber gerade deshalb, weil unsere Bourgeoisie so spät kam und so wenig leistete, mussten wir eine erbärmliche Erbschaft antreten. Wir müssen jetzt Straßen und Brücken bauen, Schulen errichten, erwachsene Menschen das ABC lehren usw., wir müssen die Hauptmasse der ökonomischen und kulturellen Arbeit leisten, die in älteren kapitalistischen Ländern das bürgerliche Regime verwirklicht hat. In demselben Sinne habe ich gesagt, dass wir es zwar leicht hatten, mit der Bourgeoisie fertig zu werden, der sozialistische Aufbau uns aber desto größere Schwierigkeiten bereitete. Aber dies einfache politische Theorem setzt auch das entgegengesetzte voraus: Je reicher und kultivierter ein Land ist, je älter seine parlamentarisch-demokratischen Traditionen sind, desto schwieriger gestaltet sich für die kommunistische Partei die Eroberung der Macht, aber desto schneller und erfolgreicher wird sich auch der sozialistische Aufbau nach der Eroberung der Macht vollziehen. Noch konkreter ausgedrückt: es ist keine leichte Aufgabe, die Herrschaft der englischen Bourgeoisie niederzuwerfen, sie erfordert die notwendige „Gradation", d. h. eine ernste Vorbereitung. Aber nachdem das englische Proletariat die Macht, den Boden, den Industrie-, Handels- und Bankapparat erobert hat, wird es unter viel geringeren Opfern, mit viel größerem Erfolg und in weit rascherem Tempo die Umwandlung der kapitalistischen Wirtschaft in die sozialistische vollziehen. Das ist das entgegengesetzte Theorem, das ich nicht nur einmal erörterte und begründete, und das in direkter Beziehung zu der Frage steht, die Mr. Baldwin interessiert.

Aber das ist noch nicht alles. Als ich von den Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaues sprach, habe ich nicht nur an die Rückständigkeit unseres Landes, sondern auch an den ungeheuren Widerstand außerhalb des Landes gedacht. Mr. Baldwin wird sicher wissen, dass die Regierung Großbritanniens, deren Mitglied er war, ungefähr 100 Millionen Pfund Sterling für militärische Interventionen und die Blockade Sowjetrusslands ausgegeben hat. Das Ziel dieser kostspieligen Maßnahmen war, nebenbei gesagt, die Niederwerfung der Sowjetmacht: die englischen Konservativen wie die englischen Liberalen haben mindestens in dieser Periode sich entschieden vom Prinzip der „Gradation" gegenüber der Arbeiter- und Bauernrepublik losgesagt und versuchten, eine historische Frage durch eine Katastrophe zu lösen. Es genügt ja im Grunde sachlich, nur diese eine Auskunft zu geben, damit man sieht, dass die ganze Philosophie der Gradation an die Moral der Mönche Heines erinnert, die selbst Wein trinken und ihrer Seelenherde Wasser empfehlen.B

Wie dem auch sei, der russische Arbeiter, der als erster die Macht ergriffen hat, bekam es zuerst mit Deutschland und dann mit allen Ententestaaten zu tun, die von England und Frankreich geführt wurden. Das englische Proletariat wird es nach Ergreifung der Macht weder mit dem russischen Zaren noch mit der russischen Bourgeoisie zu tun haben. Es wird sich vielmehr auf die gewaltigen materiellen und menschlichen Hilfsquellen unserer Sowjetunion stützen können, weil – das wollen wir Mr. Baldwin nicht verhehlen – die Sache des englischen Proletariats mindestens in demselben Maße unsere Sache ist, wie die Sache der russischen Bourgeoisie die Sache der englischen Konservativen war und tatsächlich bleibt.

Meine Worte über die Schwierigkeiten unseres sozialistischen Aufbaues deutet der britische Premier so, als ob ich sagen wollte: „Das Spiel lohnt die Kerzen nicht"1! Dabei hatte ich gerade das Gegenteil im Sinn: Unsere Schwierigkeiten stammen von der für uns sozialistischen Pioniere ungünstigen internationalen Situation. Indem wir diese Schwierigkeiten überwinden, ändern wir die Konstellation zum Vorteil des Proletariats anderer Länder. So geht in der internationalen Kräftebilanz keine unserer Revolutionsbemühungen verloren.

Ohne Zweifel erstreben wir, worauf Baldwin hinwies, eine größere Produktivität der Arbeit. Sonst wäre jeder Aufstieg des Wohlstandes und der Kultur des Volkes undenkbar. Und in diesem Aufstieg ruht das Grundziel des Kommunismus. Der russische Arbeiter arbeitet jetzt für sich. Die Arbeiter Russlands haben eine Wirtschaft als Erbe übernommen, die zuerst durch den imperialistischen Krieg, dann durch den Bürgerkrieg, den die Interventionen und die Blockade nährten, ruiniert wurde. Diese Industrie, die 1921 beinahe ganz still stand, brachten die russischen Arbeiter durchschnittlich bis auf 60% ihrer Vorkriegsproduktion. Diese Errungenschaft, wie bescheiden sie auch im Vergleich zu unseren Zielen ist, bedeutet einen unzweifelhaften und ernsten Erfolg. Wenn die 100 Millionen Pfund Sterling, die England für die katastrophalen Umsturzversuche vergeudete, als Anleihe oder Konzessionskapital in die Sowjetwirtschaft für ihren graduellen Aufbau investiert worden wären, so hätten wir jetzt zweifellos das Vorkriegsniveau überschritten, hätten dem englischen Kapital hohe Zinsen gezahlt, und, was die Hauptsache ist, wären für es eine große Macht geworden, die sich immer weiter ausdehnt. Es ist nicht unsere Schuld, wenn Mr. Baldwin das Gradationsprinzip ausgerechnet dort verletzt hat, wo man es nicht tun sollte. Aber sogar bei dem jetzigen noch sehr niedrigen Niveau unserer Industrie hat sich die Lage der Arbeiter im Vergleich zu den letzten Jahren wesentlich gebessert. Wenn wir das Vorkriegsniveau erreichen werden, und das wird in den nächsten zwei bis drei Jahren der Fall sein, wird die Lage unserer Arbeiter unvergleichlich besser sein als vor dem Kriege. Ebendeshalb, und nur deshalb glauben wir das Recht zu haben, das Proletariat Russlands zur Steigerung der Arbeitsproduktivität aufzurufen. Ein anderes ist es, auf den Fabriken, Werken, Werften und Gruben, die den Kapitalisten gehören, zu arbeiten; ein anderes, in seinen eigenen Betrieben zu arbeiten. Das ist ein großer Unterschied, Mr. Baldwin! Und wenn die englischen Arbeiter die gewaltigen Produktionsmittel erobern werden, die sie selbst und ihre Vorfahren geschaffen haben, werden sie mit allen Kräften versuchen, die Arbeitsleistung zu steigern. Die englische Industrie bedarf solcher Anstrengungen sogar sehr, denn trotz großer Errungenschaften ist sie ganz in den Netzen ihrer eigenen Vergangenheit gefangen. Anscheinend ist Baldwin darüber unterrichtet, denn in derselben Rede sagte er: „Wir verdanken unsere Position, unseren Platz in der Welt in großem Maße der Tatsache, dass wir die erste Nation waren, die die Mühsale erlitten hat, die die industrielle Epoche der Welt gebracht hat. Aber wir zahlen einen hohen Preis für dieses privilegierte Prioritätsrecht, ein Teil dieses Preises sind unsere schlecht gelegenen, ungesunden Städte mit ihren eng zusammengedrängten Häusern, ihren hässlichen Fabriken und ihrer durch Rauch verpesteten Luft." Hierher gehört auch die Zersplitterung der englischen Industrie, ihr technischer Stillstand, ihre ungenügende organisatorische Schmiegsamkeit. Ebendeshalb zieht die englische Industrie jetzt den Kürzeren vor der deutschen und amerikanischen. Die englische Industrie braucht zu ihrer Rettung die breiteste und mutigste Reorganisation. Man muss den Boden und die Bodenschätze Englands als Basis für eine einheitliche Wirtschaft betrachten. Nur auf diesem Wege kann man auf einer gesunden Basis die Kohlenindustrie reorganisieren. Die elektrische Wirtschaft Englands ist äußerst zersplittert und rückständig. Die Versuche einer Rationalisierung stoßen bei jedem Schritt auf den Widerstand der Privatinteressen. Nicht nur die englischen Städte sind infolge ihrer Vergangenheit schlecht gelegen, die ganze englische Industrie, die graduell aufeinander getürmt ist, hat kein System, keinen Plan. Man kann ihr nur neues Leben einflößen, wenn man an sie als einheitliches Ganzes herantritt. Aber das ist undenkbar bei der Erhaltung des Systems des Privateigentums der Produktionsmittel. Das Hauptziel des Sozialismus ist darauf gerichtet, die wirtschaftliche Kraft des Volkes zu stärken. Nur auf dieser Grundlage ist der Aufbau einer kulturelleren, harmonischeren, glücklicheren menschlichen Gesellschaft denkbar. Wenn Mr. Baldwin bei allen seinen Sympathien für die alte englische Industrie gezwungen ist, anzuerkennen, dass neue kapitalistische Formen, die Trusts und Konzerne, einen Schritt vorwärts bedeuten, so glauben wir, dass ein einheitlicher sozialistischer Industriekonzern im Vergleich zu den kapitalistischen Trusts einen gewaltigen Schritt vorwärts darstellt. Aber dieses Programm kann nicht verwirklicht werden ohne die Übergabe aller Produktionsmittel in die Hände der Arbeiterklasse, d. h. ohne Expropriierung der Bourgeoisie. Baldwin selbst erinnert an die „titanischen Kräfte, die durch die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts befreit wurden und das ganze Gesicht des Landes und alle Züge seines nationalen Lebens verändert haben". Warum spricht Baldwin in diesem Falle von einer Revolution und nicht von einer graduellen Entwicklung? Weil gegen Ende des 18. Jahrhunderts in einer kurzen Zeitspanne radikale Veränderungen vor sich gingen, die als Nebenerscheinung die Expropriierung kleiner Industrieller zur Folge hatten. Für alle, die sich über die innere Logik des historischen Prozesses Rechenschaft ablegen, muss es klar sein, dass die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts, die Großbritannien völlig regeneriert hat, ohne die politische Revolution des 17. Jahrhunderts unmöglich gewesen wäre. Ohne die Revolution im Namen der bürgerlichen Rechte und der bürgerlichen Geschäftstüchtigkeit gegen die Privilegien des Adels und den Müßiggang der Aristokratie wäre der gewaltige Geist der technischen Erfindungen nicht erwacht, und es hätte niemand diese Erfindungen für die wirtschaftlichen Ziele ausnützen können. Die politische Revolution des 17. Jahrhunderts, die eine Folge der vorausgegangenen Entwicklung war, hat die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts vorbereitet. Jetzt braucht England wie alle kapitalistischen Länder eine wirtschaftliche Revolution, die in ihrer historischen Bedeutung die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts weit übertreffen würde. Aber diese neue ökonomische Revolution – die Reorganisation der ganzen Wirtschaft nach einem einheitlichen sozialistischen Plan – kann ohne vorhergehende politische Revolution nicht verwirklicht werden. Das Privateigentum an Produktionsmitteln ist jetzt ein viel größeres Hindernis auf dem Wege der wirtschaftlichen Entwicklung, als es früher die Zunftprivilegien waren, die die Form des kleinbürgerlichen Eigentums bildeten. Da die Bourgeoisie keineswegs freiwillig auf ihre Eigentumsrechte verzichten wird, ist es notwendig, tapfer und revolutionär mit Anwendung von Gewalt vorzudringen. Bis jetzt hat die Geschichte keine andere Methode erfunden. Und auch für England wird es keine Ausnahme geben.

Was das andere Zitat betrifft, das Mr. Baldwin mir zuschreibt, so bin ich hier im größten Zweifel. Ich verneine entschieden, dass ich irgendwo und irgendwann hätte sagen können, es existiere eine unveränderliche Natur des russischen Menschen, gegen die die Revolution machtlos gewesen wäre. Woher stammt dies Zitat? Aus langer Erfahrung weiß ich, dass nicht alle Menschen, sogar nicht einmal alle Premierminister, genau zitieren. Ganz zufällig bin ich auf eine Stelle in meinem Buch „Die Fragen der Kulturarbeit" gestoßen, die voll und ganz sich auf die uns interessierende Frage bezieht. Ich zitiere diese ganze Stelle:

Welches sind denn die Gründe für unsere Hoffnungen auf den Sieg? Der erste Grund ist der, dass in den Volksmassen Kritik und Aktivität erwachten. Durch die Revolution hat sich unser Volk das Fenster in Europa geöffnet – wobei unter Europa die Kultur zu verstehen ist –, so wie vor mehr als 200 Jahren das Russland Peters des Großen kein Fenster, sondern ein Fensterchen nach Europa für die Spitzen des Adels und des Beamtentums geöffnet hat. Die passiven Eigenschaften der Demut und Sanftmut, die von den amtlich und freiwillig hysterischen Ideologen für spezifisch unveränderliche und heilige Eigenschaften des russischen Volkes erklärt wurden, und die tatsächlich nur der Ausdruck seiner sklavischen Unterdrückung und seines Fernhaltens von der Kultur waren, diese beschämenden und kläglichen Eigenschaften haben im Oktober 1917 den Todesstoß erhalten. Das soll keineswegs heißen, dass wir keine Erbschaft der Vergangenheit mit uns herumschleppen. Wir schleppen und werden noch sehr lange an ihnen zu schleppen haben. Aber der große Umsturz, nicht nur der materielle, sondern auch der psychische, ist erfolgt. Keiner wird es wagen, dem russischen Volke zu empfehlen, sein Schicksal auf den Prinzipien der Demut, Sanftmut und Duldsamkeit aufzubauen. Nein, von nun ab sind die Tugenden, die immer tiefer in das Volksbewusstsein eindringen, die Kritik, die Aktivität und das kollektive Schaffen. Und auf dieser größten Eroberung des nationalen Charakters basiert vor allem unsere Hoffnung auf den Erfolg unserer ganzen Arbeit."

Diese Sätze ähneln, wie wir sehen, sehr wenig jenen Worten, die mir Mr. Baldwin zuschreibt. Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass die britische Verfassung keineswegs den Premier verpflichtete, richtig zu zitieren. An Präzedenzfällen, die im britischen Leben eine so große Rolle spielen, ist kein Mangel: Was die falschen Zitate betrifft, ist allein William Pitt schon etwas wert!

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Man kann erwidern: Hat es einen Sinn, über die Revolution mit dem Führer der Tories zu streiten? Welche Bedeutung kann für die Arbeiterklasse die Geschichtsphilosophie des konservativen Premiers haben? Aber hier entpuppt sich der Kardinalsatz: Die Philosophie MacDonalds, Snowdens, Webbs und anderer Führer der Arbeiterpartei ist nur eine Wiederholung der geschichtlichen Theorie Baldwins. Das werden wir im Folgenden zeigen – mit aller notwendigen … Gradation.

A B. Macaulay, Geschichte von England. Braunschweig 1864. I. S. 124.

B Wir wollen nicht aufdringlich werden und fragen deshalb nicht, in welchem Maße z. B. gefälschte Dokumente, die auf Konto eines fremden Staates gesetzt und zu Wahlzwecken gebraucht werden, als Hilfsmittel der Gradation in der Entwicklung der sog. christlichen Moral der zivilisierten Gesellschaft betrachtet werden können. Auch ohne diese kitzelige Frage zu stellen, können wir aber keineswegs darauf verzichten, daran zu erinnern, dass nach einer Behauptung Napoleons nirgends so ausgiebig diplomatische Dokumente gefälscht werden, wie von der englischen Diplomatie. Und seit jener Zeit hat doch die Technik große Fortschritte gemacht. [Anspielung auf einen gefälschten angeblichen Brief des Komintern-Vorsitzenden Sinowjew, der im britischen Wahlkampf 1924 eine große Rolle spielte - WK]

1 Russisches Sprichwort.

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