III. Gewisse „Eigenarten" englischer Arbeiterführer

III. Gewisse „Eigenarten" englischer Arbeiterführer

Nach dem Tode Curzons hielten Parteiführer und Freiwillige Lobesreden. Der Sozialist MacDonald endete seine Rede im Unterhause mit folgenden Worten: „Er war ein großer Diener der Gesellschaft, ein ausgezeichneter Kollege mit erhabenen Idealen, er gab jenen ein Beispiel, die nach ihm kommen sollen. " So MacDonald über Curzon! Als die Arbeiter gegen diese Rede protestierten, brachte die Zeitung der Arbeiterpartei „Daily Herald" diese Proteste unter dem bescheidenen Titel: „Ein anderer Standpunkt". Die weise Redaktion wollte offenbar sagen, dass es außer dem höfischen, byzantinischen, speichelleckerischen und dienernden Standpunkt noch einen Arbeiterstandpunkt gäbe.

Anfangs April nahm der nicht unbekannte Arbeiterführer Thomas, der Sekretär des Eisenbahnerverbandes, früherer Kolonialminister, gemeinsam mit dem Premierminister Baldwin an einem Bankett teil, das von der Direktion der Gesellschaft der Westeisenbahnen gegeben wurde. Baldwin war früher Direktor dieser Gesellschaft und Thomas ehemals einer ihrer Heizer gewesen. Mr. Baldwin sprach mit fabelhafter Gönnerschaft von seinem„Freund" Jim Thomas, und Thomas brachte einen Toast auf die Direktoren der großen Westgesellschaft und ihren Vorsitzenden, Lord Churchill, aus. Thomas sprach mit großer Rührung von Mr. Baldwin, der – denken Sie mal an! – sein ganzes Leben in den Spuren seines hochverehrten Vaters wandelte. Ihn, Thomas, sprach dieser einzigartige Lakai, würde man wahrscheinlich beschuldigen, seine Klasse verraten zu haben, weil er am Bankett teilgenommen habe und mit Baldwin in Berührung gekommen sei. Aber er, Thomas, gehöre keiner Klasse an, weil die Wahrheit kein Klasseneigentum sei.

Als die „linken" Arbeiterführer Debatten wegen der Bewilligung der Gelder für die Auslandsreise des Prinzen von Wales entfesselt hatten, ließ sich derselbe „Daily Herald" in einem prinzipiellen Artikel über das Verhältnis zur königlichen Macht aus. Wer etwa aus den Debatten den Schluss gezogen hätte, die Arbeiterpartei erstrebe die Vernichtung der königlichen Macht, hätte einen Fehler begangen. Aber andererseits könne man nicht umhin, zu bemerken, dass die königliche Familie durch ihr Auftreten der öffentlichen Meinung der Vernünftigen nicht gerade schmeichle: man mache zu viel Pomp und Zeremonien, die vielleicht durch „unvernünftige Ratgeber" veranlasst würden; man schenke den Rennen mit dem unausbleiblichen Totalisator zu große Aufmerksamkeit; außerdem jagten der Herzog und die Herzogin von York in Ostafrika Nashörner und andere Tiere, die ein besseres Schicksal verdienten. Selbstverständlich, so räsoniert die Zeitung, könne man nicht nur der königlichen Familie Schuld geben: die Tradition wurzele eben zu tief im Leben und in den Gewohnheiten einer Klasse. Aber man müsse sich anstrengen, um diese Tradition zu zerstören. Dies ist nach unserer Meinung nicht nur wünschenswert, sondern geradezu notwendig. Für den Thronfolger müsse man eine Beschäftigung innerhalb des Regierungsapparates finden usw. usw. immer in demselben ungewöhnlich spießigen, ungewöhnlich dummen und ungewöhnlich lakaienhaften Ton. So könnte bei uns früher, ungefähr in den Jahren 1905-1906, ein Provinzblatt der Fortschrittler geschrieben haben.

In den Streit, der sich über die Lebensgewohnheiten der königlichen Familie entspann, mischte sich auch die unvermeidliche Mrs. Snowden und erklärte in einem kurzen Briefe, dass nur die heiseren Redner an den Straßenecken nicht zu wissen und zu verstehen brauchten, dass die königlichen Familien zu den Schwerarbeitern Europas gehören. Schon in der Bibel steht: „Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden!" Mrs. Snowden stimmte natürlich für die Bewilligung der Reisegelder des Prinzen von Wales.

Ich bin Sozialistin, Demokratin und Christin", hat einmal dieselbe Person geschrieben, als sie erklärte, weshalb sie eine Gegnerin des Bolschewismus wäre. Aber wir zählen die Vorzüge der Mrs. Snowden noch nicht voll auf, wir wollen höflich sein.

Der hochverehrte Mr. Sheals, der Arbeiterdeputierte von Ost-Edinburgh suchte in der Zeitung klarzumachen, dass die Reise des Prinzen von Wales für den Handel und also auch für die Arbeiterklasse sehr nützlich wäre, deshalb stimme er für die Bewilligung der Gelder.

Jetzt wollen wir uns einige der „linken" oder haiblinken Arbeiterabgeordneten vornehmen. Im Parlament wird die Frage verschiedener Eigentumsrechte der schottischen Kirche beraten. Der schottische Arbeiterdeputierte Johnstone beruft sich auf den „Ungefährlichkeitsakt" des Jahres 1907 und verneint das Recht des britischen Parlaments, sich in die feierlichst anerkannten Rechte der schottischen Kirche einzumischen. Der Speaker weigert sich, die Frage von der Tagesordnung abzusetzen. Darauf erklärt der zweite schottische Deputierte MacLean, dass im Falle einer Verabschiedung dieser Bill er und seine Freunde nach Schottland zurückkehren und verbreiten würden, dass der Unionvertrag zwischen England und Schottland widerrufen und das schottische Parlament wiederhergestellt wäre. (Heiterkeit bei den Konservativen und Beifall bei den Vertretern der schottischen Arbeiterpartei.) Dieser Fall ist in jedem Punkte lehrreich. Die schottische Gruppe, die auf dem linken Flügel der Parlamentsfraktion der Arbeiterpartei steht, protestiert gegen eine Kirchengesetzgebung und geht dabei nicht vom Prinzip der Trennung der Kirche vom Staat oder irgendwelchen sachlichen Voraussetzungen aus, sondern beruft sich auf die heiligen Rechte der schottischen Kirche, die ihr durch einen Vertrag verbürgt wurden, der mehr als 200 Jahre alt ist. Als Repressalie für die Verletzung der Rechte der schottischen Kirche drohen dieselben Arbeiterdeputierten, dass sie die Wiederherstellung eines an und für sich schon für sie überflüssigen schottischen Parlaments fordern werden.

Der linksstehende Pazifist George Lansbury erzählt in einem Leitartikel des Organs der Arbeiterpartei, in einer Versammlung in Mountmuchir hätten Arbeiter und Arbeiterinnen mit größter Begeisterung eine religiöse Hymne gesungen, diese Hymne habe „geholfen". Einzelne Personen, sagte er, können die Religion verneinen, aber die Arbeiterbewegung als solche kann sich nicht darauf einlassen. „Unser Kampf heischt Begeisterung, Pietät und Treue, und dergleichen kann man durch einen Appell an Privatinteressen nicht erreichen."

Also, wenn unsere Bewegung Begeisterung braucht, vermag sie selbst, nach der Meinung von Lansbury, sie nicht hervorzurufen, sie muss sich die Begeisterung vielmehr bei einem Pfaffen leihen.

John Wheatley, der frühere Minister für Wohlfahrt im Kabinett MacDonald, gilt als „beinahe extremer Linker". Aber Wheatley ist nicht nur Sozialist, sondern auch Katholik. Richtiger gesagt: Er ist zuerst Katholik und dann auch Sozialist. Da der römische Papst zum Kampfe gegen Kommunismus und Sozialismus aufgerufen hat, wandte sich die Redaktion des „Daily Herald", die aus Höflichkeit den Heiligen Vater nicht beim Namen genannt hat, an Wheatley mit der Bitte um Aufklärung, wie es um die gegenseitigen Beziehungen zwischen Katholizismus und Sozialismus bestellt sei. Man darf nicht glauben, dass die Zeitung die Frage gestellt hat, ob ein Sozialist Katholik oder überhaupt Gläubiger sein kann; nein, die Frage wurde vielmehr so gestellt, ob ein Katholik Sozialist sein dürfe. Die Pflicht des Menschen, gläubig zu sein, bleibt außer Zweifel; bezweifelt wird nur das Recht eines Gläubigen, Sozialist zu sein, und ob er gleichzeitig ein guter Katholik bleiben kann. Diesen Standpunkt nimmt in seiner Antwort auch der „Linke" Wheatley ein. Er glaubt, dass der Katholizismus, soweit er politische Fragen nicht direkt berühre, „nur" moralische Verhaltungsmaßregeln gebe und den Sozialisten verpflichte, seine politischen Prinzipien „mit der gehörigen Achtung für die moralischen Rechte der anderen" anzuwenden. Wheatley glaubt, dass die einzig richtige Politik in dieser Frage die Politik der britischen Partei sei, die in Gegensatz zum kontinentalen Sozialismus nicht die „antichristliche" Richtung eingeschlagen habe. Für diesen „Linken" wird die sozialistische Politik durch die persönliche Moral dirigiert, und die persönliche Moral – durch die Religion. So unterscheidet er sich in keinem Punkt von der Philosophie Lloyd Georges, der die Kirche als eine zentrale elektrische Station aller Parteien betrachtet. Die Kompromisslerei erfährt hier eine religiöse Beleuchtung.

Über den Abgeordneten Kirkwood, der etwas an den Reisegeldern des Prinzen von Wales mäkelte, schrieb ein Sozialist im „Daily Herald", in Kirkwoods Adern fließe ein Tropfen Blut des alten Cromwell; offenbar soll diese Phrase im Sinne der revolutionären Entschlossenheit verstanden werden. Ob es sich so verhält, wissen wir vorläufig nicht. Jedenfalls erbte Kirkwood von Cromwell den Sinn für Pietät. In seiner Parlamentsrede erklärte Kirkwood, dass er mit dem Prinzen privatim nichts zu begleichen habe und ihn keineswegs beneide. „Der Prinz kann mir nichts geben, ich bin im Besitz einer guten Gesundheit, ich bin unabhängig in meinen Gefühlen, und es gibt nur ein Wesen, dem ich für meine Taten verantwortlich bin, nämlich meinem Schöpfer" (creator). Also aus dieser Rede erfahren wir nicht nur etwas über die gute Gesundheit des schottischen Abgeordneten, sondern auch, dass er seine gute Gesundheit nicht den Gesetzen der Biologie und Physiologie verdankt, sondern den Absichten eines Schöpfers, zu dem Mr. Kirkwood in ganz bestimmten Beziehungen steht, die sowohl auf persönlicher Gefälligkeit als auf dankbarer Verpflichtung beruhen.

Die Zahl solcher Beispiele könnte man auf Wunsch um ein Vielfaches vermehren. Richtiger gesagt: man könnte fast die ganze politische Tätigkeit der Führer der Arbeiterpartei in solchen Episoden schildern, die beim ersten Blick nur lächerliche oder unanständige Kuriositäten sind, in denen sich aber tatsächlich alle Absurditäten einer Vergangenheit ablagerten wie Steine in der Blase, die komplizierten Prozessen des Organismus ihren Ursprung verdanken. Hier möchten wir daran erinnern, dass der „organische Charakter" dieser oder anderer „Eigenarten" keineswegs die Möglichkeit eines chirurgischen Eingriffs ausschließt, um sie zu beseitigen.

Die Doktrin der Führer der englischen Arbeiterpartei ist eine gewisse Legierung aus Konservativismus und Liberalismus, die teilweise den Bedürfnissen der Trade Unions, richtiger gesagt, ihren Spitzen angepasst ist. Sie sind alle Anhänger der „Gradationslehre". Außerdem erkennen sie die Wahrheiten des Alten und Neuen Testamentes an. Alle rechnen sich zu den hochzivilisierten Menschen und glauben gleichzeitig, dass der himmlische Vater die Menschheit deshalb erschaffen habe, um sie liebevoll zu verfluchen, und später durch die Kreuzigung seines eigenen Sohnes versuche, eine höchst verworrene Angelegenheit etwas zu verbessern. Aus dem Geiste des Christentums sind solche nationalen Institutionen entstanden, wie die Bürokratie der Trade Unions, das erste Ministerium MacDonalds und Mrs. Snowden.

Mit der Religion der Gradation und mit der kalvinistischen Prädestinationslehre ist die Religion des nationalen Hochmuts eng verbunden. MacDonald ist überzeugt, dass seine Bourgeoisie früher die erste Bourgeoisie der Welt war, und so wenig, wie sie, kann er, MacDonald, irgendetwas von den Barbaren oder Halbbarbaren des europäischen Kontinents lernen. In dieser Beziehung – und nicht nur in dieser Beziehung – äfft MacDonald nur jene bürgerlichen Führer nach, die wie Canning – allerdings mit weit mehr Berechtigung – proklamierten, dass es sich für das parlamentarische England nicht gezieme, Politik von den Völkern Europas zu lernen. Baldwin appelliert monoton an die konservativen Traditionen der politischen Entwicklung Englands, aber damit appelliert er zweifellos an die mächtigste Stütze der bürgerlichen Herrschaft in der Vergangenheit. Das Bürgertum hat es verstanden, die Spitzen der Arbeiterklasse mit konservativen Ideen zu verseuchen. Es ist kein Zufall, dass die entschlossensten Kämpfer des Chartismus aus den gewerbetreibenden Schichten hervorgegangen sind, die nach ein bis zwei Generationen bereits unter dem Druck des Kapitalismus proletarisiert waren. Ebenso charakteristisch ist es, dass die radikalsten Elemente der zeitgenössischen englischen Arbeiterbewegung am häufigsten aus Irland oder Schottland stammen (natürlich keine Regel ohne Ausnahme: MacDonald ist ein Schotte). Das Zusammentreffen der sozialen und nationalen Unterdrückung Irlands, der erbitterte Kampf zwischen einem Agrarlande und einem kapitalistischen Lande mussten natürlich scharfe Frakturen des politischen Bewusstseins hervorrufen. Schottland betrat später als England den kapitalistischen Weg: Eine schärfere Fraktur im Leben der Volksmassen erzeugt eine schärfere politische Reaktion. Wenn die britischen Herren „Sozialisten" fähig wären, ihre eigene Geschichte zu durchdenken, besonders die Rolle Irlands und Schottlands, wäre ihnen vielleicht das Verständnis aufgegangen, weshalb das zurückgebliebene Russland mit seinem scharfen Übergang zum Kapitalismus die entschlossenste Revolutionspartei hervorgebracht hat und als erstes Land den Weg des sozialistischen Umsturzes betrat.

Die Pfeiler des Konservativismus des englischen Lebens sind heute jedoch unwiderruflich untergraben. Ganze Jahrzehnte haben die „Führer" der britischen Arbeiterklasse geglaubt, eine selbständige Arbeiterpartei wäre ein trauriges Privileg des kontinentalen Europas. Von dieser naiven und analphabetischen Selbstüberhebung ist jetzt keine Spur mehr zu finden. Das Proletariat hat die Trade Unions gezwungen, eine selbständige Partei zu bilden. Aber dabei wird es nicht bleiben. Die liberalen und halbliberalen Führer der Arbeiterpartei glauben noch immer, die soziale Revolution wäre ein trauriges Privileg des europäischen Kontinents. Auch in diesem Punkte werden die Ereignisse die Rückständigkeit einer solchen Anschauung offenbaren. Es wird viel weniger Zeit in Anspruch nehmen, die Arbeiterpartei in eine Revolutionspartei umzuwandeln, als ihre Gründung beanspruchte.

Das wichtigste Element des Konservativismus der politischen Entwicklung war und bleibt bis zu einem gewissen Grade die Frömmigkeit des englischen Volkes auf protestantischer Grundlage. Der Puritanismus war die Schule der strengen Erziehung der sozialen Dressur der Mittelklasse. Die Volksmassen haben ihm aber immer Widerstand geleistet. Der Proletarier fühlt sich nie als „auserwählt", für die kalvinistische Prädestinationslehre hatte er nie ein Verständnis. Auf der Basis des Independententums bildete sich der englische Liberalismus, dessen Hauptmission die Erziehung war, d. h. die Arbeitermassen der bürgerlichen Gesellschaft zu unterwerfen. In gegebenen Grenzen und bis zu einem gewissen Zeitpunkt hat der Liberalismus diese Mission erfüllt, aber letzten Endes gelang es ihm ebenso wenig wie dem Puritanismus, die Arbeiterklasse zu verdauen. Als Ablösung der Liberalen erschien die Arbeiterpartei mit denselben Traditionen, den puritanischen wie den liberalen. Wenn man einen Querschnitt durch die Arbeiterpartei zieht und MacDonald, Henderson und Co. ins Auge fasst, muss man sagen, dass sie erschienen, um die unvollendete Arbeit einer vollständigen Versklavung der Arbeiterklasse im Interesse der bürgerlichen Gesellschaft zu vollziehen. Aber in Wahrheit vollzieht sich wider ihren Willen in den Massen ein ganz anderer Prozess, der endgültig die puritanisch-liberalen Traditionen liquidieren muss, gleichzeitig aber auch MacDonald liquidieren wird.

Für die englischen Mittelklassen war der Katholizismus wie der Anglikanismus eine fertige Tradition, die mit den Privilegien des Adels und der Geistlichkeit verbunden war. Dem Katholizismus und Anglikanismus gegenüber prägte die junge englische Bourgeoisie den Protestantismus als ihre Glaubensform und als Begründung ihres Platzes in der Gesellschaft.

Der Kalvinismus mit seiner eisernen Prädestinationslehre war die mystische Form, in der man die Gesetzmäßigkeit des historischen Prozesses zu verstehen suchte. Die aufsteigende Bourgeoisie fühlte, dass die Gesetze der Geschichte für sie sprachen, dies Bewusstsein kleidete sie in die Form der Prädestinationslehre. Die kalvinistische Verneinung des freien Willens lähmte keineswegs die revolutionäre Energie der Independenten, umgekehrt: sie hat eine mächtige Stütze gebildet. Die Independenten fühlten sich berufen, eine große geschichtliche Tat zu vollbringen. Man kann mit einer gewissen Berechtigung eine Parallele zwischen der Rolle der Prädestinationslehre, die sie in der Revolution der Puritaner gespielt hat, und der Rolle des Marxismus in der Revolution des Proletariats ziehen. Hier wie dort stützt sich die größte Aktivität nicht nach Gutdünken auf subjektive Empfindungen, sondern auf die Erkenntnis eiserner Gesetzmäßigkeit, die in einem Falle mystisch verunstaltet, im anderen Falle wissenschaftlich erkannt ist.

Das englische Proletariat hat den Protestantismus als abgeschlossene Tradition übernommen, d. h. so, wie das Bürgertum vor dem 17. Jahrhundert den Katholizismus und den Anglikanismus übernommen hat. Wie die erwachte Bourgeoisie den Protestantismus dem Katholizismus entgegensetzte, setzte das revolutionäre Proletariat dem Protestantismus den Materialismus und den Atheismus entgegen. Wenn für Cromwell und seine Streiter der Kalvinismus ein geistiges Instrument für die revolutionäre Reorganisation der Gesellschaft war, so zwingt er MacDonald und seine Leute vor Allem, was graduell entstanden ist, auf die Knie. Vom Puritanismus erbten die MacDonald-Leute nicht seine revolutionäre Stoßkraft, sondern seinen religiösen Aberglauben, von den Owenisten nicht ihren kommunistischen Enthusiasmus, sondern ihre utopisch-reaktionäre Feindschaft gegen den Klassenkampf. Aus der politischen Vergangenheit Englands entlehnten die Fabier nur die geistige Abhängigkeit des Proletariats von der Bourgeoisie. Die Geschichte wandte diesen Gentleman ihre Rückseite zu, und die Zeichen, die sie dort lasen, wurden ihr Programm.

Die insulare Lage, der Reichtum, die Erfolge der Weltpolitik, alles durch den Puritanismus, die Religion „des auserwählten Volkes" zementiert, verwandelte sich in eine hochmütige Verachtung alles Kontinentalen, überhaupt alles Nicht-Englischen. Die Mittelklassen Britanniens waren lange überzeugt, dass die Sprache, die Wissenschaft, Technik und Kultur anderer Völker ein Studium nicht verdienen. Alle diese Gedankengänge haben jene Philister in ihrer Totalität übernommen, die jetzt die Spitzen der Arbeiterpartei bilden. Es ist sonderbar, dass sogar Hyndman, der zu Lebzeiten Marx' das Buch „England für alle" herausgegeben hat, sich in diesem Buche auf den Verfasser des „Kapitals" stützt, ohne weder ihn noch seine Werke zu nennen: Weshalb dies seltsame Verschweigen? Hyndman wollte die Engländer nicht schockieren, denn es ist doch tatsächlich undenkbar, dass ein Brite irgendetwas von einem Deutschen lernen könnte.

Mit England hat sich die geschichtliche Dialektik in dieser Beziehung einen bösen Witz geleistet, indem sie die Vorzüge seiner fortschrittlichen Entwicklung in die Ursachen einer Rückständigkeit verwandelt hat. Wir machen eine solche Beobachtung auf dem Gebiete der Industrie, der Wissenschaft, der Staatsform, der politischen Ideologie. England entwickelte sich ohne Vorbilder. Es konnte nicht in führenden Ländern Vorbilder seiner Zukunft suchen und finden. Es tastete sich vorwärts, war nur auf eigene Erfahrung angewiesen, beschränkte sich und heftete doch stets den Blick in die Zukunft. Der traditionelle Gedankengang des Engländers ist durch den Empirismus gestempelt, das heißt vor allem des englischen Bourgeois, und dieselbe geistige Tradition vererbte sich auf die Spitzen der Arbeiterklasse. Der Empirismus wurde Tradition und Fahne, d. h., er vereinigte sich mit der verächtlichen Auffassung des „abstrakten" Denkens des Kontinents. Deutschland hat lange über die wahre Natur des Staates philosophiert, während die britische Bourgeoisie in derselben Zeit den in seiner Art vollendeten Staat für die Bedürfnisse ihrer Herrschaft aufbaute. Aber im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass die praktisch rückständige und deshalb für theoretische Spekulationen empfängliche deutsche Bourgeoisie aus ihrer Rückständigkeit einen Vorzug machte und eine Industrie schuf, die wissenschaftlich viel besser organisiert und weit eher dem Kampf auf dem Weltmarkt gewachsen ist. Die englischen sozialistischen Philister haben von ihrer Bourgeoisie die hochmütige Auffassung über den Kontinent in der Periode übernommen, als die alten Vorzüge Englands sich gegen England selbst kehrten. In einer Begründung der „angeborenen Eigenarten" des britischen Sozialismus erklärte MacDonald, dass wir auf der Suche nach seinen ideellen Wurzeln „Marx umgehen und zu Godwin gehen" müssen.

Godwin war für seine Zeit ein hervorragender Mann. Aber eine Rückkehr zu ihm bedeutet für den Engländer dasselbe, als ob ein Deutscher zu Weitling oder ein Russe zu Tschernyschewski zurückkehren wollte. Damit wollen wir nicht etwa sagen, dass der englische Imperialismus und die englische Arbeiterbewegung keine „Eigenarten" aufzuweisen haben. Gerade die marxistische Schule hat der Eigentümlichkeit der englischen Entwicklung immer große Aufmerksamkeit gewidmet. Aber diese Eigentümlichkeit erklären wir aus den objektiven Bedingungen, aus der Gesellschaftsstruktur und ihren Veränderungen. Deshalb verstehen wir Marxisten den Entwicklungsgang der britischen Arbeiterbewegung viel besser und sehen viel deutlicher ihre Zukunft als die heutigen „Theoretiker" der Arbeiterpartei. Der Ruf der alten Philosophie „Erkenne dich selbst!" wurde von ihnen überhört. Sie glauben, dass sie durch die Vorbestimmung berufen sind, das veraltete gesellschaftliche Regime von Grund aus umzubauen, und gleichzeitig verharren sie ganz konsterniert vor einem auf dem Boden gezogenen Kreidestrich. Wie können sie dem bürgerlichen Eigentum zu nahe treten, wenn sie es nicht wagen, einem Prinzen von Wales das Taschengeld zu verweigern?

Die königliche Macht, erklären sie, „hemmt" keineswegs den Fortschritt des Landes und kostet weniger als ein Präsident, wenn man alle Wahlkosten usw. einrechnet. Solche Reden der Arbeiterführer charakterisieren jene Seite der „Eigenarten", die man nicht anders bezeichnen kann als konservativen Stumpfsinn. Die königliche Macht ist schwach, solange das bürgerliche Parlament das Instrument der bürgerlichen Herrschaft ist, und solange die Bourgeoisie zu außerparlamentarischen Kampfmitteln nicht zu greifen braucht. Aber im Falle der Not wird die Bourgeoisie mit großem Erfolg die königliche Macht als Sammelpunkt aller außerparlamentarischen, d. h. realen Kräfte, ausnutzen können, die sich gegen die Arbeiterklasse richten. Die englische Bourgeoisie hat sehr gut in solchen Fällen die Gefahr einer rein fiktiven Monarchie verstanden. So hat 1837 die englische Regierung in Indien den Titel des „Großen Mogul" abgeschafft und seinen Träger aus der heiligen Stadt Delhi entfernt, obwohl dieser Titel zu jener Zeit schon gar nichts mehr bedeutete: die englische Bourgeoisie begriff, dass unter den gegebenen Voraussetzungen die indischen Spitzen sich um den „Groß-Mogul" gegen die englische Herrschaft scharen konnten.

Das sozialistische Programm proklamieren und gleichzeitig erklären, dass die königliche Macht „nicht hemmend wirke" und billiger sei, ist ganz dasselbe, als ob man die materialistische Wissenschaft anerkennen und gleichzeitig die Dienste einer Hexe gegen Zahnschmerzen in Anspruch nehmen würde, unter dem Vorwand, die Hexe mache es billiger. In einer solchen „Kleinigkeit" offenbart sich das Wesen eines Menschen, entlarvt sich die ganze Fiktion seiner Anerkennung der materialistischen Wissenschaft und die ganze Falschheit seines Ideensystems. Für den Sozialisten wird die Frage der Monarchie nicht vom Standpunkte der Buchhaltung des heutigen Tages entschieden, was noch falscher wäre. Es geht um den radikalen Umsturz der ganzen Gesellschaftsordnung, um ihre Bereinigung von allen Elementen der Sklaverei. Diese Aufgabe schließt politisch und psychologisch die Versöhnung mit der Monarchie aus.

Die Herren MacDonald, Thomas u. a. waren über die Arbeiter empört, als sie protestierten, dass ihre Minister sich in höfische Narrenkleider warfen. Natürlich ist das nicht das größte der Verbrechen MacDonalds: aber es ist ein glänzendes Symbol aller anderen. Als die junge Bourgeoisie gegen den Adel kämpfte, verzichtete sie auf Locken und Seidenkleider. Die bürgerlichen Revolutionäre trugen die schwarzen Puritanerkleider. Im Gegensatz zu den „Kavalieren" nannte man sie „Rundköpfe". Neuer Inhalt sucht neue Formen. Gewiss, Kleider sind nur Formsache. Aber die Massen wollen es nicht verstehen, und sie haben recht, denn warum sollen sich die Vertreter der Arbeiterklasse den Narreteien der monarchistischen Maskerade fügen? Und die Massen lernen immer mehr verstehen, dass der, der in Kleinigkeiten untreu ist, auch im Großen untreu sein wird.

Die Züge des Konservativismus, der Religiosität und des nationalen Hochmutes beobachten wir in verschiedenem Grade und verschiedenster Zusammensetzung bei allen jetzigen offiziellen Führern, vom extrem Rechten Thomas bis zum Linken Kirkwood. Es wäre der größte Fehler, wenn man die Hartnäckigkeit und Zähigkeit dieser konservativen Eigenarten der Spitzen der englischen Arbeiterklasse unterschätzte. Damit wollen wir natürlich nicht sagen, dass die kirchlichen und konservativen nationalen Tendenzen den Massen völlig unbekannt sind. Aber den Führern, den Lehrlingen der liberalen Partei, sind die bürgerlich-nationalen Züge in Fleisch und Blut übergegangen, während sie bei den Arbeitermassen unvergleichlich weniger tiefen und stabilen Charakter tragen. Wir erinnerten schon daran, dass es dem Puritanismus, dieser Religion einer Klasse, die ihre Lage zu verbessern wusste, nie gelungen ist, tief ins Bewusstsein der Arbeitermassen zu dringen. Dasselbe gilt auch für den Liberalismus. Die Arbeiter stimmten für die Liberalen, blieben aber Arbeiter, und die Liberalen mussten immer auf der Hut sein. Das Zurückdrängen der Liberalen Partei durch die Arbeiterpartei ist ein Ergebnis des Druckes der proletarischen Massen. Unter anderen Bedingungen, d. h., wäre England ökonomisch gewachsen und erstarkt, hätte die Arbeiterpartei vom heutigen Schlage die „erzieherische" Arbeit des Protestantismus und Liberalismus fortsetzen und vertiefen können, d. h., sie hätte das Bewusstsein der breiten Kreise der Arbeiterklasse mit den konservativ-nationalen Traditionen und der Disziplin der bürgerlichen Ordnung verbinden können. Unter den jetzigen Bedingungen eines offenbaren wirtschaftlichen Niederganges Englands und beim Fehlen der Perspektiven muss man eine Entwicklung in direkt entgegengesetzter Richtung erwarten. Schon der Krieg hat der traditionellen Religiosität der englischen Massen einen starken Schlag versetzt. Nicht umsonst ist Mr. Wells mit der Bildung einer neuen Religion beschäftigt, indem er auf dem Wege zwischen der Erde und dem Mars versucht, die Karriere eines fabianischen Calvins zu machen. Wir zweifeln sehr an seinem Erfolg. Zu gut gräbt diesmal der Maulwurf der Revolution! Die Arbeitermassen werden sich stürmisch von der national-konservativen Disziplin abwenden und ihre eigene Disziplin der revolutionären Aktion ausbilden. Unter diesem Druck von unten her werden die Spitzen der Arbeiterpartei schnell erblassen. Wir wollen keineswegs sagen, dass MacDonald bis zum Revolutionär erblassen wird. Nein, er wird abgestoßen. Aber die, die wahrscheinlich die erste Ablösung bilden werden, die Männer vom Schlage Lansburys, Wheatleys oder Kirkwoods werden unweigerlich offenbaren, dass sie nur eine linke Abart desselben fabianischen Grundtypus sind. Ihr Radikalismus ist durch Demokratie und Religion begrenzt und vom nationalen Hochmut vergiftet, der sie geistig zu Sklaven der britischen Bourgeoisie macht. Die Arbeiterklasse wird wahrscheinlich gezwungen sein, mehrere Male ihre Führerschicht zu erneuern, bis die Partei gebildet sein wird, die wirklich der geschichtlichen Lage und den Aufgaben des britischen Proletariats entspricht.

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