IV. Die fabische „Theorie" des Sozialismus

IV. Die fabische „Theorie" des Sozialismus

Mit einiger Selbstüberwindung wollen wir versuchen, Aufsätze zu lesen, in denen Ramsay MacDonald kurz vor seinem Rücktritt seiner Regierungsauffassung Ausdruck verlieh. Wir warnen im Voraus: Wir werden den Laden eines Ideen-Althändlers betreten, in dem der dumpfe Geruch des Naphthalins der erfolgreichen Tätigkeit der Motten keinen Abbruch zu tun vermag.

Im Gefühlsleben und in Gewissensfragen", beginnt MacDonald, „auf geistigen Gebieten überhaupt, ist der Sozialismus die Religion des Dienstes am Volke." In diesen Worten enthüllt sich sofort der wohlwollende Bourgeois, der linke Liberale, der „dem Volke dient" und von der Seite oder richtiger von oben an die Masse herantritt. Eine solche Einstellung wurzelt ganz in jener frühen Vergangenheit, als die radikalen Intellektuellen in die Arbeiterviertel Londons gingen, um dort kulturell aufklärende Arbeit zu leisten. Welch' einen ungeheuren Anachronismus verraten solche Worte, wenn man an die heutige Arbeiterpartei denkt, die sich unmittelbar auf die Trade Unions stützt!

Das Wort „Religion" soll hier nicht einfach im pathetischen Sinne verstanden werden. Es handelt sich vielmehr um das Christentum in seiner anglosächsischen Auffassung. „Der Sozialismus gründet sich auf die Evangelien", predigt MacDonald. „Er stellt einen wohldurchdachten (auch das noch!) und entschiedenen Versuch dar, Regierung und Gesellschaft mit christlichem Geist zu erfüllen." Auf diesem Wege begegnet man aber nach unserer Auffassung einigen Hindernissen. Erstens: Die Völker, die nach der Statistik zu den Christen gerechnet werden, machen ungefähr 37% der Menschheit aus. Was geschieht aber nun mit der nicht christlichen Welt? Zweitens: Der Atheismus macht unter den christlichen Völkern keine unwesentlichen Fortschritte, und zwar vor allem in den Kreisen des Proletariats. In den anglosächsischen Ländern macht sich dieser Prozess vorläufig weniger fühlbar. Aber die Menschheit – sogar die christliche Menschheit – besteht doch nicht nur aus Anglo-Sachsen. In der Sowjetunion, die 130 Millionen Seelen zählt, ist der Atheismus eine offiziell propagierte Staatsdoktrin. Drittens: England herrscht schon jahrhundertelang über Indien. Die europäischen Völker, mit demselben England an der Spitze, haben sich längst den Weg nach China gebahnt. Trotzdem wächst die Zahl der Atheisten in Europa schneller als die Zahl der Christen in Indien und China. Warum? Weil sich das Christentum in den Augen der Chinesen und Inder als die Religion der Unterdrücker, Vergewaltiger, Sklavenhalter, der mächtigen Räuber entlarvt hat, die gewaltsam in fremde Häuser eindringen. Die Chinesen wissen, dass die christlichen Missionare nur die Vorboten von Kriegsschiffen sind. So sieht das wahre Christentum aus! Und dies Christentum ist die Grundlage des Sozialismus? Für China und Indien?

Viertens: Das Christentum existiert nach offizieller Zeitrechnung seit 1925 Jahren. Bevor es die Religion MacDonalds wurde, war es die Religion der römischen Sklaven, der in Europa angesiedelten Nomaden und Barbarenvölker, die Religion der gekrönten und ungekrönten Despoten, der Feudalen, die Religion der Inquisition, die Religion Karl Stuarts und in einer gewissen anderen Aufmachung die Religion Cromwells, der Karl Stuart den Kopf abschlug. Endlich ist es jetzt die Religion Lloyd Georges, Churchills, der „Times" und, wie man annehmen muss, jenes gottesfürchtigen Christen, der den „Brief Sinowjews" fälschte – in gloriam der konservativen Wahlen im Lande der christlichsten der Demokratien. Zwei Jahrtausende lang hat das Christentum mit Hilfe von Predigten, ärgster Beeinflussung des Schulwesens, fürchterlichsten Einschüchterungsmethoden (man denke an die Jenseitsqualen) mit höllischem Feuer und dem Schwert der Justiz das Bewusstsein der europäischen Völker drangsaliert, diese christliche Lehre ist zur offiziellen Religion erklärt worden. Weshalb hätte eine solche Religion im 20. Jahrhundert ihrer Existenz es nicht zum blutigsten und grässlichsten aller Kriege bringen sollen, nachdem die vorangegangenen 19 Jahrhunderte des Christentums Jahrhunderte der Massakers und Verbrechen gewesen sind? Und wo besteht denn eigentlich ein vernünftiger Grund, zu hoffen, dass diese „todbringende Lehre" im 20., 21. oder 25. Jahrhundert ihrer Geschichte die Gleichheit und Brüderlichkeit dort wiederherstellen wird, wo sie die Vergewaltigung und Versklavung geheiligt hat? Auf eine Antwort MacDonalds auf diese Schulfragen müssten wir lange warten. Unser Weiser ist ein Evolutionist, d. h., er glaubt, dass alles sich „graduell" verändert, und obendrein noch mit Gottes Hilfe zum Besseren. MacDonald ist Evolutionist, er glaubt nicht an Wunder, er glaubt nicht an Sprünge, außer einem einzigen, der vor 1925 Jahren gemacht wurde: Damals brach in die organische Revolution kein Geringerer als ein Gottessohn ein und brachte eine gewisse Quantität himmlischer Wahrheiten in Umlauf, die jetzt der Geistlichkeit eine üppige irdische Rente abwerfen.

Die christliche Begründung des Sozialismus wird in zwei entscheidenden Sätzen seines Artikels gegeben: „Wer kann leugnen, dass Armut ein Übel ist, nicht nur ein persönliches, sondern ein gesellschaftliches? Wer fühlt kein Mitleid mit der Armut?" Als eine Theorie des Sozialismus wird hier die Philosophie eines sozial empfindenden, wohltätigen Bourgeois serviert, der „Mitleid" mit den Armen hat und aus diesem Mitleid eine „Religion seines Gewissens" macht, die aber seinen Geschäftsgepflogenheiten nicht eben hinderlich ist.

Wer fühlt kein Mitleid mit der Armut?" Die ganze Geschichte Englands ist bekanntlich die Geschichte des Mitleids seiner wohlhabenden Klassen mit der Armut der arbeitenden Klassen. Um nicht Jahrhunderte zurückzugehen, genügt es, etwa die Geschichte des 16. Jahrhunderts zu verfolgen, von den Zeiten der Enteignung der Bauern an, d. h. der Umwandlung der Mehrzahl der Bauern in heimatlose Landstreicher, als sich das „Mitleid mit der Armut" auf Galeeren, am Galgen, im Ohrabschneiden und anderen Maßnahmen des christlichen Mitgefühls äußerte. Die Herzogin von Sutherland hat diese „Lichtungen" in Nordschottland im Anfang des vorigen Jahrhunderts vollzogen, Karl Marx hat jene Henkertaten in unsterblichen Zeilen ergreifend geschildert, bei ihm wird man natürlich kein triefendes „Mitgefühl" finden, dafür schlägt einem aber die Leidenschaft revolutionärer Empörung entgegen.

Wer hat kein Mitleid mit der Armut?" Lest doch die Geschichte der industriellen Entwicklung Englands, besonders das Kapitel der Ausbeutung von Kindern. Das Mitleid der Reichen mit der Armut hat die Armen nie vor Erniedrigung und Armut geschützt; die Armut erreichte in England so wenig wie in irgendeinem anderen Lande, vielmehr nur dann etwas, wenn es ihr gelang, den Reichtum an der Gurgel zu packen. Muss man dies denn wirklich in einem Lande mit einem jahrhundertelangen Klassenkampf beweisen, dessen Geschichte gleichzeitig die Geschichte geiziger Zugeständnisse und erbarmungsloser Abrechnungen ist?

Der Sozialismus glaubt nicht an Gewalt," sagt MacDonald weiter, „Sozialismus ist der gesunde und nicht der kranke Verstand … Und deshalb liegt es in seiner eigentlichen Natur, dass er sich voller Grauen von der Anwendung der Gewalt abwendet … Er kämpft nur mit geistigen und sittlichen Waffen." Alles sehr schön, aber nicht ganz neu; in der Bergpredigt findet man dieselben Gedanken, allerdings etwas besser stilisiert. Wir haben schon daran erinnert, wohin diese Gedanken geführt haben. Es ist nur nicht ganz klar, weshalb die talentlose Wiedergabe der Bergpredigt durch MacDonald bessere Ergebnisse zeitigen soll. Tolstoi, der über weit mächtigere Mittel der ideellen Überzeugung verfügte, gelang es nicht, von seinen evangelischen Grundsätzen auch nur die Mitglieder seiner eigenen Grundbesitzerfamilie zu überzeugen. Die Unzulässigkeit der Anwendung von Gewalt predigte MacDonald in einer Zeit, da er die Regierungsmacht in Händen hatte. Wir erinnern uns, dass die Polizei in dieser Zeit nicht aufgelöst, die Gerichte nicht kassiert, die Gefängnisse nicht niedergerissen, die Kriegsschiffe nicht versenkt wurden, nein, es wurden neue gebaut. Und so weit wir übersehen können, sind Polizei, Gerichte, Gefängnisse, Armee und Flotte Organe der Gewalt. Das Eingeständnis der Wahrheit, dass „der Sozialismus der gesunde und nicht der kranke Verstand" ist, hat MacDonald keineswegs gehindert, in Indien und Ägypten in den heiligen Spuren des großen Christen Curzon zu wandeln. Als Christ wandte sich MacDonald „voller Grauen" von jeder Gewaltanwendung ab. Als Premierminister wendet er alle Methoden der kapitalistischen Unterdrückung an und übergibt die Werkzeuge der Gewalt völlig unversehrt seinem konservativen Amtsnachfolger. Was bedeutet also letzten Endes in der Praxis die Verneinung der Gewalt? Nur, dass die Unterdrückten die Gewalt nicht gegen den kapitalistischen Staat anwenden dürfen: Die Arbeiter gegen die Bourgeoisie, die Farmer gegen die Lords, die Inder gegen die britische Administration und gegen das englische Kapital. Der Staat, der durch die gewaltsame Herrschaft der Monarchie über das Volk, der Bourgeoisie über die Arbeiter, der Landlords über die Farmer, der Offiziere über die Soldaten, anglosächsischer Sklavenhalter über die Kolonialvölker, der „Christen" über die „Heiden" entstanden ist, dieser mit Blut getränkte Apparat einer jahrhundertelangen Unterdrückung flößt MacDonald eine pietätvolle Ehrfurcht ein. „Nur mit Grauen" denkt er an die befreiende Gewalt. Das ist auch der heilige Inhalt seiner „Religion des Dienstes am Volk".

Der Sozialismus hat eine neue und eine alte Schule," sagt MacDonald, „wir gehören zur neuen." Das „Ideal" MacDonalds (er hat ein „Ideal") ist dasselbe wie das Ideal der alten Schule. Aber die neue Schule hat einen „besseren Plan" für die Verwirklichung dieses Ideals. Worin besteht dieser Plan? MacDonald bleibt uns die Antwort nicht schuldig: „Wir haben kein Klassenbewusstsein. Unsere Gegner sind Menschen mit Klassenbewusstsein … Wir wollen an Stelle des Klassenbewusstseins das Bewusstsein der Gesellschaftssolidarität setzen." Und so drischt MacDonald stundenlang sein Stroh, um zu schließen: „Der Klassenkampf ist nicht unsere Schuld. Er ist durch den Kapitalismus entstanden und wird immer seine Frucht sein, wie die Distel immer Disteln erzeugt." Dass MacDonald kein Klassenbewusstsein besitzt, während es die Führer der Bourgeoisie besitzen, ist unbestreitbar und bedeutet in Wahrheit, dass die englische Arbeiterpartei vorläufig ohne Kopf auf den Schultern einherstolziert, während die Parteien der englischen Bourgeoisie einen Kopf haben, obendrein noch einen Kopf mit einer sehr großen Stirn und einem nicht minder starken Nacken. Und wenn MacDonald sich mit dem Eingeständnis begnügt hätte, dass es in seinem Kopfe mit dem „Bewusstsein" nicht ganz richtig ist, hätte man keinen Grund zu widersprechen. Aber MacDonald möchte, dass dieser Kopf mit dem schwachen „Bewusstsein" ein Programm entwickelt. Dem können wir keineswegs zustimmen.

Der Klassenkampf", sagt MacDonald, „verdankt seine Entstehung dem Kapitalismus." Das ist natürlich unrichtig. Der Klassenkampf wütete auch vor dem Kapitalismus. Richtig ist, dass der moderne Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durch den Kapitalismus geschaffen wurde. Richtig ist auch, dass er „immer seine Frucht sein wird", d. h., dass er solange existieren wird wie der Kapitalismus. Aber zu jedem Kampf gehören doch offensichtlich zwei kriegführende Parteien. Eine Partei bilden unsere Feinde, die, wie MacDonald sagt, „für die privilegierte Klasse eintreten und bestrebt sind, sie zu erhalten". Das Ziel des Klassenkampfes ist das Streben nach Vernichtung der privilegierten Klasse, die nicht von der Bühne abtreten will. Aber nein – MacDonald will vielmehr das Bewusstsein der gesellschaftlichen Solidarität an erste Stelle setzen. Mit wem? Die Solidarität der Arbeiterklasse findet ihren Ausdruck im engsten Zusammenschlusse, um den Kampf mit der Bourgeoisie aufzunehmen. Die gesellschaftliche Solidarität, die MacDonald predigt, ist die Solidarität der Ausgebeuteten mit den Ausbeutern und bedeutet die Unterstützung der Ausbeuter. MacDonald prahlt mit dem Unterschied seiner Ideen von den Ideen unserer Großväter. Er spielt auf Karl Marx an. Tatsächlich aber unterscheidet sich MacDonald von dem „Großvater" in dem Sinne, dass er zum Urgroßvater zurückkehrt. Der ideologische Mischmasch, den MacDonald für „neue Schule" ausgibt, bedeutet auf einer völlig neuen geschichtlichen Grundlage die Rückkehr zum kleinbürgerlichen sentimentalen Sozialismus, den Marx 1847 und schon vorher einer vernichtenden Kritik unterzog.

Dem Klassenkampf stellt MacDonald die Idee der Solidarität aller tugendhaften Bürger entgegen, die bestrebt sind, durch demokratische Reformen die Gesellschaft umzubauen. In dieser Vorstellung wird der Klassenkampf durch die „konstruktive" Tätigkeit der politischen Partei abgelöst, die nicht auf einer Klassenbasis, sondern auf der Grundlage der gesellschaftlichen Solidarität gegründet wird. Diese phantastischen Ideen unserer Urgroßväter Robert Owen, Weitling u. a., die MacDonald endgültig kastriert und dem parlamentarischen Gebrauch angepasst hat, klingen besonders ungereimt im modernen England mit seiner zahlenmäßig mächtigen Arbeiterpartei, die sich auf die Trade Unions stützt. In keinem anderen Land auf der ganzen Welt tritt der Klassencharakter des Sozialismus im Verlauf der Geschichte objektiv so klar, widerspruchslos und empirisch zutage wie in England, denn hier wuchs die Arbeiterpartei aus der Parlamentsvertretung der Trade Unions heraus, d. h. aus den reinen Klassenorganisationen der Lohnarbeiter. Wenn die Konservativen wie auch die Liberalen versuchen, den Trade Unions die Erhebung politischer Beiträge zu verbieten, so stellen sie nicht ohne Erfolg die MacDonaldsche idealistische Auffassung der Partei dem empirischen Klassencharakter, den diese Partei in England angenommen hat, entgegen. Gewiss, unter den Spitzen der Arbeiterpartei gibt es eine gewisse Anzahl von Fabier-Intellektuellen, von verzweifelten Liberalen. Aber erstens darf man zuversichtlich hoffen, dass früher oder später die Arbeiter diese Schlacken mit eisernem Besen aus der Partei hinaus fegen werden, und zweitens: schon jetzt sind die 4½ Millionen Stimmen, die für die Arbeiterpartei abgegeben wurden, mit ganz geringen Ausnahmen Stimmen der englischen Arbeiter. Noch stimmen lange nicht alle Arbeiter für ihre Partei. Aber für die Arbeiterpartei stimmen fast nur Arbeiter.

Damit wollen wir gar nicht sagen, dass die Fabier, die Unabhängigen und die liberalen Außenseiter keinen Einfluss auf die Politik der Arbeiterklasse ausüben. Ganz im Gegenteil: ihr Einfluss ist sehr groß, aber er trägt keinen selbständigen Charakter. Die gegen das proletarische Klassenbewusstsein kämpfenden Reformisten sind letzten Endes Werkzeuge der herrschenden Klasse.

In der ganzen Geschichte der englischen Arbeiterbewegung beobachtet man, dass die Bourgeoisie auf das Proletariat einen Druck ausübt durch Vermittlung der Radikalen, Intellektuellen, Salon- und Kirchensozialisten, der Unionisten, die den Klassenkampf verneinen, das Prinzip der gesellschaftlichen Solidarität proklamieren, die gemeinsame Arbeit mit der Bourgeoisie predigen, das Proletariat zähmen, schwächen und politisch niederdrücken. In vollem Einklang mit dieser „Tradition" weist das Programm der Unabhängigen Arbeiterpartei darauf hin, dass die Partei „eine Vereinigung aller organisierten Arbeiter mit allen Menschen aller Klassen, die an den Sozialismus glauben", erstrebt. Diese bewusst verschwommene Formulierung macht sich zur Aufgabe, den Klassencharakter des Sozialismus zu verwischen. Kein Mensch fordert natürlich, dass man ausnahmslos die Türen der Partei erprobten Außenseitern aus anderen Klassen verschließen soll. Aber auch jetzt ist ihre Zahl völlig unbedeutend, wenn man sich nicht mit der Statistik der führenden Spitzen begnügen will, sondern die Partei als Ganzes nimmt. Später, wenn die Partei den Revolutionsweg betreten hat, wird ihre Zahl noch kleiner werden. Aber die Unabhängigen brauchen eine solche Formel wie „Menschen aller Klassen", um die Arbeiter über die wirkliche Quelle ihrer Klassenkraft zu täuschen, statt dessen erzählt man ihnen etwas von einer Über-Klassensolidarität.

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass viele Arbeiter immer noch für bürgerliche Kandidaten stimmen. MacDonald bringt es fertig, auch diese Tatsache im politischen Interesse der Bourgeoisie zu deuten. „Man muss den Arbeiter nicht als Arbeiter, sondern als Menschen betrachten", doziert er und fügt hinzu: „Sogar der Torysmus hat es gelernt, in gewissem Sinne die Menschen als Menschen zu behandeln. Deshalb haben eine Menge Arbeiter für den Torysmus gestimmt." Mit anderen Worten: Da die Konservativen, erschrocken durch den Ansturm der Arbeiter, gelernt haben, sich den rückständigsten Arbeitern anzupassen, ihre Reihen zu zersetzen, die Ratlosen zu betrügen, sie durch dunkelsten Aberglauben zu verwirren und durch falsche Dokumente zu erschrecken, beweisen die Tones nur ihre Begabung, Menschen als Menschen zu behandeln!

Die englischen Arbeiterorganisationen, die unverfälschtesten nach ihrer Klassenzusammensetzung, die Trade Unions, haben die Arbeiterpartei unmittelbar auf ihre Schultern gehoben. In diesem Vorgang wurden die tiefen Umwälzungen der Lage Englands, seine Schwächung auf dem Weltmarkt, die Veränderung seiner ökonomischen Struktur, die Auflösung der mittleren Klassen, der Zusammenbruch des Liberalismus sichtbar. Das Proletariat braucht eine Klassenpartei, erstrebt mit allen Kräften ihre Bildung, beeinflusst die Trade Unions, zahlt politische Beiträge. Aber diesem immer stärker werdenden Druck von unten, aus den Fabriken und Werften, den Schiffdocks und Gruben, steht der Widerstand von oben, aus den Kreisen der offiziellen englischen Politik mit ihren nationalen Traditionen der „Freiheitsliebe", der Weltüberlegenheit, des kulturellen Prioritätsrechtes der Demokratie und der protestantischen Pietät gegenüber. Wenn man aus allen diesen Komponenten eine politische Mixtur für die Verdünnung des Klassenbewusstseins des englischen Proletariats braut, gewinnt man das Programm des Fabiertums.

Wenn schon MacDonald die Arbeiterpartei, die sich offen auf die Trade Unions stützt, als eine Über-KIassenorganisation zu erklären versucht, so anerkennt er dem „demokratischen" Staat des englischen Kapitals einen noch größeren Über-Klassencharakter. Gewiss der moderne Staat, der von Großgrundbesitzern, Bankiers, Schiffsreedern und Kohlenmagnaten geleitet wird, ist noch keine „reine" Demokratie. Er hat noch manche Schönheitsfehler: „Die Demokratie und beispielsweise (!) die vom Volk nicht geleitete Industrie sind unvereinbare Begriffe." Mit anderen Worten: Die Demokratie hat, wie sich herausstellt, einen kleinen Fehler: Der Reichtum, den die Nation schafft, gehört nicht der Nation, sondern einer verschwindend kleinen Minderheit. Vielleicht ist das ein Zufall? Nein, die bürgerliche Demokratie ist ein System der Institutionen und Maßnahmen, mit deren Hilfe die Notwendigkeiten und Forderungen der Arbeitermassen, sobald sie nach oben durchdringen, neutralisiert, verstümmelt, unschädlich gemacht oder einfach annulliert werden. Wer sagt, dass in England, Frankreich, den Vereinigten Staaten und anderen Demokratien das Privateigentum durch den Volkswillen aufrechterhalten wird, lügt. Niemand hat das Volk danach gefragt. Die Arbeitenden werden geboren und unter Bedingungen erzogen, die sie nicht geschaffen haben. Staatsschule und Staatskirche impfen ihnen Begriffe ein, die nur auf die Erhaltung der bestehenden Ordnung gerichtet sind. Die parlamentarische Demokratie resümiert nur diese Sachlage. Wenn der Gang der Ereignisse, meist katastrophalen Charakters – große wirtschaftliche Erschütterungen, Krisen und Kriege – das Gesellschaftssystem für die arbeitenden Massen unerträglich machen, haben sie weder die Möglichkeit noch den Wunsch, ihre revolutionäre Entrüstung in die Kanäle der kapitalistischen Demokratie zu leiten. Mit anderen Worten: Wenn die Massen begreifen, wie lange man sie betrogen hat, machen sie Revolution. Eine erfolgreiche Revolution übergibt ihnen die Macht, und der Besitz der Macht erlaubt ihnen, den Staatsapparat zu errichten, der ihren Interessen entspricht.

Aber eben diese Schlussfolgerung will MacDonald nicht akzeptieren. „Die Revolution in Russland hat uns eine große Lehre gegeben. Sie hat bewiesen, dass die Revolution ein Akt der Zerstörung und ein Elend ist und nichts mehr." Hier erscheint der reaktionäre Fabier in seiner ganzen abstoßenden Nacktheit. Die Revolution führt nur zum Elend! Aber die englische Demokratie hat doch zum imperialistischen Kriege geführt, und zwar nicht nur in dem Sinne allgemeiner Verantwortung aller kapitalistischen Staaten für den Krieg – nein, im Sinne der direkten und unmittelbaren Verantwortung der englischen Diplomatie, die bewusst und berechnend Europa in den Krieg trieb. Hätte die englische „Demokratie" erklärt, dass sie auf Seiten der Entente in den Krieg eingreift, hätten wahrscheinlich Deutschland und Österreich-Ungarn den Rückzug angetreten. Hätte England seine Neutralität erklärt, hätten wahrscheinlich Frankreich und Russland diesen Rückzug angetreten. Aber die britische Regierung hat anders gehandelt: Sie hat heimlich der Entente ihre Unterstützung versprochen, Deutschland und Österreich-Ungarn auf die Möglichkeit der Neutralität rechnen lassen und sie irregeführt. So hat die englische „Demokratie" den Krieg provoziert, mit dessen Zerstörungen das Elend der Revolution natürlich bei weitem nicht zu vergleichen ist. Aber diesen Fall außer acht gelassen – welche Ohren und welche Stirn muss man haben, um angesichts der Revolution, die den Zarismus, den Adel und die Bourgeoisie stürzte, die Kirche ins Wanken brachte, die ein 150-Millionenvolk, eine ganze Völkerfamilie zu neuem Leben brachte, zu behaupten, die Revolution wäre ein Elend und weiter nichts! MacDonald wiederholt auch hier Baldwins Ansichten. Er kennt und versteht weder die russische Revolution noch die englische Geschichte. So sind wir gezwungen, ihn an die Worte zu erinnern, die wir dem konservativen Premierminister gesagt haben. Wenn auf wirtschaftlichen Gebieten die Initiative bis zum letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts bei England lag, so entwickelte sich England auf politischem Gebiete in den letzten anderthalb Jahrhunderten in bedeutendem Maße in den Spuren der europäischen und amerikanischen Revolutionen. Die große französische Revolution, die Julirevolution 1830, die Revolution 1848, der nordamerikanische Bürgerkrieg der 60er Jahre, die russische Revolution 1905 und die russische Revolution 1917 trieben die öffentliche Entwicklung Englands vorwärts und sind in der Geschichte Englands als Etappen der größten gesetzgeberischen Reformen verankert. Ohne die russische Revolution 1917 wäre MacDonald 1924 nicht Premierminister geworden. Natürlich wollen wir damit nicht sagen, dass das Ministerium MacDonald die größte Errungenschaft der Oktoberrevolution war, aber auf jeden Fall war es in gewissem Sinne ihr Nebenprodukt, und sogar unsere Kinderfibeln haben uns gelehrt, dass es nicht gut ist, wenn man Eicheln isst und dabei die Eiche untergräbt1.

Und dann: Welch ein widerspruchsvoller fabianischer Hochmut: Da die russische Revolution „uns" (wem?) eine Lehre gab, so werden „wir" (wer?) uns ohne die Revolution einrichten. Aber warum haben „euch" die Lehren aller vorhergehenden Kriege nicht gestattet, ohne einen imperialistischen Krieg auszukommen? Genau so wie die Bourgeoisie jeden kommenden Krieg als letzten Krieg bezeichnet, will MacDonald die russische Revolution als die letzte Revolution bezeichnen. Aber warum soll dann die englische Bourgeoisie dem englischen Proletariat Zugeständnisse machen und friedlich, kampflos auf ihr Eigentum verzichten, wenn sie im Voraus die feste Versicherung MacDonalds erhalten hat, dass nach den Erfahrungen der russischen Revolution die englischen Sozialisten niemals den Weg der Gewalt betreten werden? Wo und wann hat eine herrschende Klasse die Macht und das Eigentum durch ein friedliches Abstimmungsverfahren abgetreten und obendrein noch eine solche Klasse wie die englische Bourgeoisie, die Jahrhunderte Weltpiratentums hinter sich hat!

MacDonald ist gegen die Revolution und für die organische Evolution: Er überträgt auf die Geschichte der Gesellschaft schlecht verdaute biologische Begriffe. Die Revolution ähnelt bei ihm einer Summe akkumulierter Teilveränderungen und ähnelt so der Entwicklung der Lebensorganismen, der Umbildung einer Puppe in einen Schmetterling usw., aber in diesem letzten Prozess ignoriert er gerade die entscheidenden kritischen Momente, in denen das neue Wesen durch einen revolutionären Akt die alten Hüllen zerreißt. Aber daneben stellt sich heraus, dass MacDonald für die Revolution ist, „die jener Revolution ähnelt, die im Schoße des Feudalismus vor sich ging, als die industrielle Revolution reif wurde." MacDonald scheint sich in seinem schreienden Analphabetentum vorzustellen, dass sich die industrielle Revolution molekular, ohne Erschütterungen, ohne Elend und Zerstörungen vollzog. Er kennt einfach die Geschichte Englands nicht (geschweige denn die Geschichte aller anderen Länder), und vor allem: er versteht nicht, dass die industrielle Revolution, die bereits im Schoße des Feudalismus in der Form des Handelskapitals heranreifte, zur Reformation führte, die Stuarts und das Parlament in einen Konflikt stürzte, den Bürgerkrieg gebar, England verwüstete und zerstörte, um es dann später zu bereichern.

Es würde ermüden, sich hier mit der Erklärung des Prozesses der Verwandlung der Puppe in den Schmetterling zu beschäftigen, um die notwendigen gesellschaftlichen Analogien ziehen zu können. Einfacher und kürzer ist es, MacDonald zu empfehlen, über den alten Vergleich der Revolution mit einer Geburt nachzudenken. Kann man denn nicht auch hier, wie aus der russischen Revolution, eine „Lehre" ziehen? Da die Geburt „nichts" außer Schmerzen und Qualen bringt (das Kind wird nicht gerechnet!), so wird in Zukunft der Bevölkerung empfohlen, sich mit Hilfe der schmerzlosen Fabiermethoden zu vermehren und die Talente der Mrs. Snowden als Hebamme in Anspruch zu nehmen.

Wir müssen aber warnen, denn der Fall liegt nicht so einfach. Sogar das Küken, das sich im Ei gebildet hat, muss gegen das umschließende Kalkgefängnis Gewalt anwenden: Wenn irgendein Fabierküken aus christlichen oder anderen Beweggründen beschlossen hätte, sich gewaltsamer Aktionen zu enthalten, so hätte die Kalkhülle es unvermeidlich erstickt. Die englischen Taubenliebhaber erreichen auf dem Wege der künstlichen Zuchtwahl eine besondere Abart mit immer kürzer werdendem Schnabel. Diese Methode führt so weit, dass der Schnabel des jungen Sprösslings zu kurz wird, und der Arme nicht imstande ist, die Eihülle zu durchstoßen; die junge Taube geht als Opfer einer erzwungenen Enthaltsamkeit von Gewaltaktionen zugrunde. Und so geht es mit der kurzschnäbeligen Abart zu Ende. MacDonald kann darüber bei Darwin, wenn uns das Gedächtnis nicht täuscht, nachlesen. Begeben wir uns auf den von MacDonald so sehr geliebten Weg der Analogien mit der organischen Gewalt, so können wir sagen, dass die politische Kunst der englischen Bourgeoisie in der Kürzung des revolutionären Schnabels des Proletariats besteht, damit es die Hülle des kapitalistischen Staates nicht durchstoßen kann. Der Schnabel des Proletariats ist seine Partei. Betrachtet man MacDonald, Thomas, Mr. und Mrs. Snowden, muss man zugeben, dass die Bemühungen der Bourgeoisie um eine Züchtung der Kurz- und Weichschnäbel von einem verblüffenden Erfolge gekrönt wurden. Denn diese Herrschaften sind weder imstande, die kapitalistische Hülle zu durchstoßen noch sonst irgendetwas anderes zu vollbringen.

Hier endet die Analogie und offenbart die ganze Bedingtheit solcher oberflächlichen Beispiele aus den Lehrbüchern der Biologie, statt dass eine gründliche Untersuchung der Bedingungen und der Wege der historischen Entwicklung stattgefunden hätte. Die menschliche Gesellschaft hat sich zwar unter bestimmten Bedingungen der organischen und anorganischen Welt entwickelt, aber sie repräsentiert einen solchen komplizierten und konzentrierten Organismus, dass ihr Verständnis eine völlig selbständige Erkenntnismethode verlangt. Der gesellschaftliche Organismus unterscheidet sich vom biologischen unter anderem durch seine größere Geschmeidigkeit, durch die Fähigkeit zur Umgruppierung der Elemente zwecks bewusster (bis zum gewissen Grade) Auswahl seiner Instrumente und Griffe, durch bewusste (in gewissen Grenzen) Ausnutzung der Erfahrungen der Vergangenheit usw. Das kleine Täubchen im Ei kann seinen zu kurzen Schnabel nicht umtauschen und geht zugrunde. Wenn die Arbeiterklasse aber vor die Frage: Sein oder Nichtsein gestellt wird, kann sie MacDonald und Mrs. Snowden davon jagen und sich mit dem Schnabel der Revolutionspartei zur Zerstörung des kapitalistischen Systems bewaffnen.

Besonders närrisch ist MacDonalds Kombination einer plumpen biologischen Gesellschaftstheorie und des idealistisch-christlichen Hasses gegen den Materialismus. Ihr sprecht von der Revolution, vom katastrophalen Sprung, aber seht euch doch die Natur an, wie klug doch die Raupe handelt, wenn sie sich in eine Puppe verwandeln muss. Schaut euch doch diese ehrwürdige Schildkröte an. Ihr werdet in ihren Bewegungen den natürlichen Rhythmus der gesellschaftlichen Veränderungen finden. Lernt von der Natur! – In diesem Sinne geißelt MacDonald den Materialismus. – „Die Trivialität, die sinnlose Behauptung ohne Feinheiten des Geistes und des Verstandes …" MacDonald und – Feinheit! Ist es denn nicht wirklich eine fabelhafte „Feinheit", für eine kollektive gesellschaftliche Tätigkeit des Menschen Inspirationen aus dem Leben einer Raupe zu suchen und gleichzeitig für sein Privatleben eine unsterbliche Seele mit einer Existenz im Jenseits mit allem Komfort zu beanspruchen?

Den Sozialisten wird vorgeworfen, sie seien Dichter. „Richtig," erklärt MacDonald, „wir sind Dichter. Es gibt keine gute Politik ohne Poesie. Überhaupt gibt es ohne Poesie nichts Gutes." Und so weiter im gleichen Stil. Zum Schluss: „Vor allem braucht die Welt heute irgendeinen politischen und sozialen Shakespeare." Dieser Quatsch über Poesie ist vielleicht politisch noch nicht so verderblich wie die Gespräche über die Unzulässigkeit der Gewalt. Aber die völlige geistige Talentlosigkeit MacDonalds offenbart sich hier, wenn es überhaupt möglich ist, noch überzeugender. Der nüchterne und feige Knicker, in dem soviel Poesie steckt wie in einem Quadratmillimeter Filz, versucht die Welt durch shakespearesche Grimassen zu bluffen. Hier beginnen wirklich die „Affenscherze", die Mac Donald einmal den Bolschewisten zuschrieb.

MacDonald als ein „Dichter" des Fabiertums! Die Politik Sidney Webbs als Kunstschöpfung! Das Ministerium Thomas als Kolonialpoesie! Und schließlich das Budget Mr. Snowdens als das Lied der triumphierenden Liebe der Londoner City!

Mit seinem Geschwätz über den sozialen Shakespeare hat Mac Donald Lenin übersehen. Wie gut ist es – für MacDonald und nicht für Shakespeare –, dass der größte englische Dichter vor mehr als drei Jahrhunderten lebte: MacDonald hatte Zeit genug, um Shakespeare in Shakespeare zu erkennen. Er hätte ihn nie anerkannt, wenn er sein Zeitgenosse gewesen wäre, denn MacDonald hat Lenin ganz übersehen. Die philiströse Blindheit findet ihren doppelten Ausdruck in den unsachlichen Seufzern nach Shakespeare und in der Ignorierung des größten Zeitgenossen.

Der Sozialismus interessiert sich für Kunst und Klassiker." Es ist geradezu verblüffend, wie dieser „Dichter" durch seine bloße Berührung Gedanken trivialisiert, in denen an und für sich nichts Triviales steckt. Um sich zu überzeugen, genügt es, die Schlussfolgerung zu lesen: „Sogar dort, wo es große Armut und große Arbeitslosigkeit gibt, wie leider in unserem Lande, dürfen die Bürger (?) mit dem Kauf von Bildern und überhaupt von allen Dingen, die Begeisterung hervorrufen und die Seele von jung und alt erheben, nicht knausern." Aus diesem vorzüglichen Ratschlag geht nicht ganz klar hervor, ob der Bilderankauf den Arbeitslosen selbst empfohlen wird, ob eine Erhöhung ihrer Unterstützungsbeiträge für solche Bedürfnisse besonders vorgesehen ist, oder aber, ob Mac Donald den edlen Gentlemen und Ladies den Bilderankauf „trotz der Arbeitslosigkeit empfiehlt, um ihren Geist zu erbauen". Man muss annehmen, dass die zweite Erklärung der Wahrheit besser entspricht. Aber sehen wir denn hier nicht einen protestantischen salonliberalen Pfaffen vor uns, der zuerst tränenreiche Worte über Armut und „Religion des Gewissens" sabbert und dann seine weltliche Herde einlädt, nicht zu sehr Trübsal zu blasen und den alten Lebenswandel fortzusetzen? Wer will, mag nun noch glauben, dass Materialismus eine Trivialität ist, MacDonald aber ein sozialer Dichter, der sich nach Shakespeare sehnt. Was uns betrifft, so glauben wir, dass es nicht nur in der physischen Welt einen Grad der absoluten Kälte gibt, sondern dass auch in der geistigen Welt ein Grad der absoluten Trivialität herrschen muss – die Temperatur der Ideen MacDonalds hat jedenfalls diesen Punkt erreicht.

Sidney und Beatrice Webb repräsentieren eine andere Abart des Fabiertums. Sie sind ausdauernde Arbeit gewöhnt, verstehen Tatsachen und Zahlen zu schätzen, und so begrenzen sich in gewissem Maße ihre verschwommenen Gedanken. Sie sind nicht weniger langweilig als MacDonald, aber sie sind lehrreicher, wenn sie auch nicht aus den Grenzen tatsächlicher Untersuchungen herauskommen. Was die Allgemeinplätze betrifft, stehen sie nicht hinter MacDonald zurück. Auf dem Kongress der Arbeiterpartei im Jahre 1923 erinnerte Sidney Webb daran, dass der Begründer des britischen Sozialismus nicht Karl Marx, sondern Robert Owen war, der nicht den Klassenkampf, sondern den von alters her geheiligten Gedanken der Brüderlichkeit der ganzen Menschheit predigte. Sidney Webb rechnet noch immer John Stuart Mill zu den Klassikern der Volkswirtschaft, und so lehrt er, dass der Kampf nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen der erdrückenden Mehrheit der Nation und den Rentenaneignern geführt werden muss. Dies allein charakterisiert hinlänglich das theoretische Niveau des Hauptökonomen der Arbeiterpartei! Der geschichtliche Prozess vollzieht sich bekanntlich in England nicht nach Webbs Vorstellungen. Die Trade Unions sind die Organisationen der Lohnarbeiter gegen das Kapital. Auf der Grundlage der Trade Unions ist die Arbeiterpartei entstanden, die sogar Sidney Webb zum Minister machte. Er hat sein Programm nur in dem Sinne verwirklicht, dass er keinen Kampf gegen die Nutznießer des Mehrwertes führt. Aber er hat auch keinen Kampf gegen die Rentenaneigner geführt.

Im Jahre 1923 haben die Eheleute Webb ein Buch veröffentlicht: „Der Untergang des Kapitalismus." Im Grunde ist dieses Buch eine etwas verwässerte, etwas aufgefrischte Wiederholung der alten Kautsky-Kommentare zum Erfurter Programm. Dafür aber ist die politische Tendenz des Fabiertums im „Untergang des Kapitalismus" in ihrer ganzen Hoffnungslosigkeit dargelegt, die diesmal nur zur Hälfte bewusst ist. Dass das kapitalistische System verändert werden muss, sagen die Eheleute Webb, unterliegt keinem Zweifel (für wen?). Es fragt sich aber, wie es verändert werden wird. „Man kann es (das System) zwingen, sich auf dem Wege einer vorsichtigen, durchdachten Anpassung schrittweise und friedlich in eine neue Form umzuwandeln." Dazu braucht man sehr wenig: den guten Willen der beiden Parteien. „Zum Unglück", erzählen die ehrwürdigen Autoren, „wird das Einverständnis über die Frage, wie das kapitalistische System zu verändern ist, nicht erreicht, weil viele glauben, dass die Vernichtung des Privateigentums genau dasselbe ist wie das Aufhören der Erddrehung um ihre Achse. Aber sie fassen die Sachlage nicht richtig auf." So unglücklich ist die Situation! Alles könnte zur allgemeinen Zufriedenheit auf dem Wege der „durchdachten Anpassung" geordnet werden, wenn die Arbeiter und Kapitalisten in gleichem Maße verstanden hätten, was zu tun sei, und wie man es machen müsse. Da es „vorläufig" noch nicht erreicht ist, stimmen die Kapitalisten für die Konservativen. Und die Schlussfolgerung? Hier geraten unsere armen Fabier ins Stottern, und hier wird der „Untergang des Kapitalismus" zum traurigen „Untergang des Fabiertums". „Vor dem Weltkriege war es anscheinend allgemein anerkannt," doziert das Büchlein, „dass das jetzige Gesellschaftsregime schrittweise reformiert werden müsse." In der Richtung einer größeren Gleichberechtigung usw. Wer hat das anerkannt? Wo wurde es anerkannt? Ihren kleinen fabianischen Ameisenhaufen betrachten diese Leute als die ganze Welt. „Wir haben vielleicht irrtümlich (!) gedacht, dass diese für die Briten (!) charakteristische Anerkennung der Berechtigung (!) wachsender Forderungen der Volksmassen seitens einer kleinen regierenden Klasse sich entwickeln und zu einer friedlichen Reorganisierung der Gesellschaft führen werde". Aber nach dem Kriege hat die ganze Entwicklung kehrtgemacht und ist zurückgegangen: die Lebensbedingungen der Arbeitermassen haben sich verschlechtert, „wir werden mit der Wiederherstellung des Vetorechtes einer starken zweiten Kammer (des Oberhauses) bedroht, speziell für den Kampf gegen weitere Zugeständnisse an die Arbeiter" usw. Welchen Schluss soll man daraus ziehen? In der hoffnungslosen Suche nach einer Schlussfolgerung haben die Eheleute Webb ihr Buch geschrieben. Der Schlusssatz dieses Buches lautet: „Als vielleicht zwecklosen Versuch, die beiden streitenden Parteien zu veranlassen, sowohl das vorliegende Problem als einander besser zu verstehen … schlagen wir dies kleine Büchlein vor." Ist das nicht fabelhaft: ein „kleines Büchlein" als Versuch zur Aussöhnung des Proletariats mit der Bourgeoisie! Resümee: Bis zum Kriege war es „anscheinend" allgemein anerkannt, dass das jetzige Regime verbessert werden müsse. Aber über den Charakter der Veränderung war man sich nicht ganz einig: die Kapitalisten waren für Privateigentum, die Arbeiter dagegen. Nach dem Kriege hat sich die Lage objektiv noch verschlimmert, und die politischen Differenzen sind schärfer geworden. Daher schreiben die Eheleute Webb ein Büchlein, in der Hoffnung, beide Parteien zu versöhnen. Aber diese Hoffnung ist „vielleicht zwecklos". Ja, möglich, sehr wohl möglich. Die ehrwürdigen Eheleute Webb, die so fest auf die Kraft der Überzeugung bauen, müssten sich nach unserer Meinung im Interesse der „Gradation" für die ersten Schritte eine einfachere Aufgabe stellen. Zum Beispiel könnten sie manche hochgestellten christlichen Lumpen überzeugen, auf das Monopolrecht des Opiumhandels und die Vergiftung von Millionen Menschen im Orient zu verzichten.

Armes, klägliches, schwachköpfiges, schimpfliches Fabiertum, in all seiner geistigen Feigheit!

Andere philosophische Abarten des Fabiertums zu untersuchen, wäre ein hoffnungsloses Unternehmen, denn bei diesen Leuten herrscht in dem Sinne „Gedankenfreiheit", dass jeder Führer seine eigene Philosophie hat, die sich aus denselben reaktionären Elementen des Konservativismus, Liberalismus und Protestantismus, nur immer etwas anders kombiniert, zusammensetzt. Vor kurzer Zeit waren wir alle überrascht, als Bernard Shaw, sonst doch, wie es scheint, ein sehr geistreicher und kritischer Schriftsteller, uns belehrte, dass Marx schon längst durch das große Werk von Wells über die allgemeine Geschichte übertroffen wurde.A

Solche für die ganze Menschheit überraschende Entdeckungen lassen sich dadurch erklären, dass die Fabier in theoretischer Hinsicht eine abgeschlossene kleine Welt darstellen, obendrein noch eine sehr provinzielle, trotzdem sie in London wohnen. Ihre philosophischen Auslassungen sind natürlich weder für die Konservativen noch für die Liberalen notwendig. Noch weniger bedarf ihrer die Arbeiterklasse, der sie nichts zu geben und nichts zu erklären vermögen. Diese Werke haben nur einen Zweck: den Fabiern selbst ihre Existenzberechtigung klar zu machen. Außer der Theologie ist das Fabiertum vielleicht das unnützeste, ganz sicher langweiligste Produkt der Sprache.

In England spricht man jetzt vielfach mit einer gewissen Verachtung von den Gestalten des „Viktorianischen Zeitalters", d. h. von den Geistern der Zeit der Königin Viktoria. Alles hat sich seit dieser Zeit in England verändert, nur der Fabiertyp hat sich erhalten. Als das Morgen mehr zu versprechen schien als das Heute, und das Übermorgen mehr als das Morgen, hat das trivial-optimistische Zeitalter Viktorias seinen vollendetsten Ausdruck in Webb, Snowden, MacDonald und anderen Fabiern gefunden. Deshalb sind sie so plumpe und überflüssige Rudimente eines Zeitalters geworden, das einen völligen und unrettbaren Zusammenbruch erlebte. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Fabiergesellschaft, die im Jahre 1884 entstand, um „das öffentliche Gewissen zu wecken", jetzt die reaktionärste Gruppenbildung Großbritanniens ist. Weder die konservativen Klubs, noch die Universität Oxford, noch das anglikanische Bischoftum, noch andere Pfaffeninstitutionen können mit den Fabiern verglichen werden. Hier handelt es sich um Institutionen der feindlichen Klassen, die revolutionäre Bewegung des Proletariats aber wird diesen Damm durchbrechen. Das ist unvermeidlich. Gezähmt wird eben das Proletariat durch die führende Spitze, d. h. durch die fabianischen Politiker und ihre Jünger. Diese aufgeblasenen Autoritäten und Pedanten, diese hochmütigen und hochtrabenden Feiglinge vergiften systematisch die Arbeiterbewegung, verdunkeln das Bewusstsein des Proletariats und lähmen seinen Willen. Nur ihnen ist es zu verdanken, wenn sich der Torysmus, der Liberalismus, die Kirche, die Monarchie, der Adel und die Bourgeoisie fest im Sattel halten und sich sogar fest fühlen. Die Fabier, die Unabhängigen, die konservativen Bürokraten der Trade Unions sind jetzt die stärksten gegenrevolutionären Kräfte Großbritanniens und der gesamten Weltentwicklung. Der Sturz der Fabier bedeutet für die revolutionäre Energie des britischen Proletariats den stärksten Stoß zur Befreiung, zur Eroberung der britischen Reaktionszitadelle für den Sozialismus, zur Befreiung Indiens und Ägyptens, zur Befreiung und Entfaltung der Ostvölker. Die Fabier verneinen die Gewalt und glauben nur an die Macht der „Ideen". Wenn man aus dieser trivialen und heuchlerischen Philosophie den gesunden Kern herausschält, gewinnt man nur die Behauptung, dass kein System nur mit Gewalt zu halten sei. Aber dieser Satz bezieht sich auch auf das System des britischen Imperialismus. In einem Lande, wo die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung aus Proletariern besteht, könnte die regierende konservativ-liberale imperialistische Clique sich nicht einen einzigen Tag länger halten, wenn die ihnen zur Verfügung stehenden Gewaltmittel durch pseudosozialistische Ideen, die das Proletariat fesseln und zersetzen, nicht vervollständigt und umhüllt würden.

Die französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts haben im Katholizismus, Klerikalismus und Pfaffentum den Hauptfeind gesehen und glaubten, dass dies Scheusal erstickt werden muss, bevor man vorwärts gehen könne. Sie hatten in dem Sinne recht, dass das Pfaffentum, das organisierte System des Aberglaubens, das katholische System der geistlichen Polizei den Weg der bürgerlichen Gesellschaft hemmten, auch die Entwicklung der Wissenschaft, der Kunst, der politischen Ideen und der Wirtschaft aufhielten. Das Fabiertum, das MacDonald-System und der Pazifismus spielen jetzt in der historischen Bewegung des Proletariats dieselbe Rolle. Sie sind die Hauptstützen des britischen Imperialismus und der Bourgeoisie Europas, wenn nicht der ganzen Welt. Man muss, koste es, was es wolle, den Arbeitern diese selbstzufriedenen Pedanten, diese schwatzenden Eklektiker, sentimentalen Karrieremacher, diese Lakaien der Bourgeoisie, die sich sogar in Livree geworfen haben, zeigen. Zeigt man sie, wie sie sind, so heißt das, sie rettungslos diskreditieren, sie diskreditieren heißt, dem historischen Fortschritt den größten Dienst erweisen. An dem Tage, an dem das englische Proletariat sich von diesem geistigen Gräuel des Fabiertums befreit, wird die Menschheit, vor allem in Europa, mit einem Male um einen Kopf wachsen.

1 Russisches Sprichwort

A Ich gebe reumütig zu, dass ich bis zum Briefe Bernard Shaws nicht einmal von der Existenz dieses Buches etwas gewusst habe. Dann habe ich dieses Buch kennengelernt Ich kann – wenn ich ehrlich bleiben will – nicht sagen gelesen, denn die Kenntnisnahme von 2 bis 3 Kapiteln genügte, um mich vor weiterer Zeitvergeudung zu bewahren. Völliges Fehlen einer Methode der geschichtlichen Perspektiven, des Verständnisses der mannigfachen Wechselbeziehungen innerhalb der Gesellschaft, des Mangels irgendeiner wissenschaftlichen Disziplin überhaupt sind die Wesenszüge eines „Historikers", der, mit der Last solcher Vorzüge kreuz und quer durch die Geschichte mehrerer Jahrtausende läuft, wie ein Mensch, der sorglos seinen Sonntagsspaziergang macht So sieht das Buch von Wells aus, das die marxistische Schule ablösen soll.

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