V. Die Frage der revolutionären Gewalt

V. Die Frage der revolutionären Gewalt

volkstümlich auseinandergesetzt, dem Verständnis nicht nur der rückständigsten Arbeiter, sondern auch einiger, weniger hoffnungsloser Führer angepasst.

Wir haben MacDonalds Anschauungen über die revolutionäre Gewalt kennengelernt. Sie haben sich als eine Fortentwicklung der konservativen Theorie der Gradation Mr. Baldwins offenbart. Kurioseren, obwohl aufrichtigeren Charakter trägt die Verneinung der Gewalt seitens des „linken" Lansbury. Lansbury „glaubt" einfach nicht an die Gewalt. Er „glaubt nicht", er glaubt weder an die kapitalistischen Armeen noch an die bewaffneten Aufstände. Hätte er an die Gewalt geglaubt, so hätte er, wie er sagt, nicht für das britische Flottenbudget gestimmt, sondern sich den Kommunisten angeschlossen. Wie tapfer! Dass Lansbury zwar nicht an die Gewalt, aber an ein Jenseits glaubt, verschafft seinem realistischen Scharfblick eine zweifelhafte Ehre. Trotzdem, mit Erlaubnis, Mr. Lansbury, sind auf der Erde manche Tatsachen nur durch Gewalt vollzogen. Ob Lansbury an die englische Flotte glaubt oder nicht – die Inder haben ihre Existenz verspürt. Im April 1919 hat der englische General Dyer ohne vorhergehende Warnung befohlen, auf eine waffenlose Inderversammlung in Amritsar zu schießen; das Ergebnis waren 450 Tote, 1500 Verwundete. Lassen wir die Toten ruhen – die Verwundeten werden gewiss nicht an die Gewalt „nicht glauben" können. Aber sogar als gläubiger Christ müsste Lansbury begreifen, dass es keine Märtyrerkrone, keine Auferstehung, keine Himmelfahrt gegeben hätte, wenn damals nicht schlaue Bestien der jüdischen Geistlichkeit im Komplott mit dem feigen römischen Prokonsul Pilatus, dem politischen Vorfahren MacDonalds, Christus gegenüber zu Gewaltmitteln gegriffen hätten, und Herr Lansbury selbst hätte nicht als frommer Christ auf die Welt kommen können, um ein schlechter Sozialist zu werden. Nicht an die Gewalt zu glauben, ist genau dasselbe, als ob man nicht an die Schwerkraft glaubt. Das ganze Leben beruht auf verschiedenen Formen der Gewalt, auf Gegenüberstellung einer Gewalt gegen die andere, und wenn man auf die befreiende Gewalt verzichtet, bedeutet ein solcher Akt, die Gewalt der Bedrücker zu unterstützen, die jetzt die Welt regieren.

Wir merken aber wohl, dass dem Problem mit flüchtigen Bemerkungen nicht beizukommen ist. Die Frage der Gewalt und ihre „Verneinung" seitens der Herren Pazifisten, christlichen Sozialisten und ähnlicher Heuchler beansprucht in der englischen Politik einen so großen Platz, dass sie eine besondere, eingehende Betrachtung fordert, die dem politischen Niveau der heutigen „Führer" der britischen Arbeiterpartei angepasst ist, wir bitten allerdings zuvor die übrigen Leser für dieses Niveau um Verzeihung.

Was bedeutet im Grunde die Verneinung jeder Gewalt? Wenn sich in die Wohnung Mr. Lansburys ein Dieb einschleichen würde, fürchten wir sehr, dass dieser gottergebene Gentleman (wir sprechen von dem Wohnungseigentümer) Gewalt anwenden oder den nächsten Schutzmann herbeirufen wird. Selbst wenn Lansbury in seiner christlichen Barmherzigkeit den Dieb in Frieden ziehen lassen würde – für ganz sicher halten wir das nicht –, geschieht es unter der selbstverständlichen Bedingung, dass der Dieb sofort die Wohnung verlässt. Dabei kann sich der ehrenwerte Gentleman den Luxus einer solchen christlichen Geste nur deshalb leisten, weil seine Wohnung unter dem Schutz der britischen Eigentumsgesetze und ihrer zahlreichen Hüter steht, so dass – im Allgemeinen gesagt – die nächtlichen Besuche der Diebe eher eine Ausnahme als eine Regel darstellen. Wenn Lansbury uns erwidern möchte, dass der Einbruch in eine ehrwürdige, christliche Privatwohnung ein Akt der Vergewaltigung ist und die Abwehr notwendig macht, werden wir ihm sagen, dass eine solche Auffassung nicht nur Verzicht auf Verneinung der Gewalt überhaupt, vielmehr ihre prinzipielle und praktische Anerkennung bedeutet und voll und ganz auf den Klassenkampf übertragen werden kann, wo die täglichen Eingriffe des Diebes „Kapital" in Leben und Arbeit des Proletariats und der Raub des Mehrwertes eine Abwehr mit Fug und Recht verlangen. Lansbury wird uns vielleicht antworten, dass er unter Gewalt überhaupt nicht alle Zwangsmaßnahmen versteht, ohne die unser schönes öffentliches Leben nicht auskommen kann, sondern nur die Verletzung des 6. Gebotes, das da lautet: „Du sollst nicht töten!" Zur Begründung einer solchen Frageformulierung kann man viele geschwollene Phrasen über die Heiligkeit des menschlichen Lebens zitieren. Aber auch hier werden wir in der Sprache der evangelischen Parabeln, die den Führern des britischen Sozialismus am zugänglichsten sind, Fragen zu stellen haben. Wie wird Mr. Lansbury handeln, wenn vor seinen Augen ein Räuber den Knüppel gegen Kinder schwingt, und es kein anderes Mittel gibt, um sie zu retten, als einen raschen, sicher treffenden Revolverschuss? Nehmen wir an, man würde im Verlauf dieser Auseinandersetzung nicht mit völlig nichtigen Sophismen antworten, könnte Lansbury vielleicht zu seiner Entlastung erwidern, unser Beispiel schildere einen allzu krassen Ausnahmefall. Aber diese Antwort wird wiederum nur bedeuten, dass Lansbury sein Recht auf Anwendung von Gewalt bei bestimmten Vorfällen der Polizei übertragen hat, dieser eigens zu begründeten Gewaltorganisation, die ihn in den meisten Fällen von der Notwendigkeit befreit, den Revolver spielen zu lassen oder über seine praktische Bedeutung nachzudenken.

Wir werden nun fragen, wie man handeln soll, wenn bewaffnete Streikbrecher Streikende schlagen oder töten. Solche Fälle sind in Amerika an der Tagesordnung, bilden aber auch in anderen Ländern keine Ausnahme. Die Arbeiter können ihr Recht auf Abwehr der Streikbrecher nicht der Polizei überantworten, denn die Polizei aller Länder verteidigt das Recht der Streikbrecher, die Streikenden, auf die das Gesetz von der Heiligkeit des Menschenlebens bekanntlich nicht anzuwenden ist, zu schlagen und zu töten. Wir fragen: Haben die Streikenden das Recht, Stöcke, Steine, Revolver, Bomben gegen Faschisten, Banden des Ku-Klux-Klan und andere gedungene Halunken des Kapitals anzuwenden? Hier erhebt sich eine kleine Frage, auf die wir um klare und präzise, keine ausweichende, scheinheilige Antwort bitten möchten. Wenn Lansbury uns sagen würde, die Aufgabe des Sozialismus bestände darin, die Massen so zu erziehen, dass die Faschisten keine Faschisten mehr und Halunken keine Halunken mehr sind, so wäre eine solche Antwort scheinheilig. Unstreitig ist das Ziel des Sozialismus die Beseitigung der Gewalt zuerst in den rohesten und blutigsten, dann in anderen, kompliziertem Formen. Aber es handelt sich für uns gar nicht um Sitten und Moral der kommenden kommunistischen Gesellschaft, sondern um die konkreten Ziele und Mittel im Kampfe mit der kapitalistischen Gewalt. Wenn die Faschisten einen Streik desorganisieren, die Redaktion der Zeitung besetzen, die Kasse beschlagnahmen, die Arbeitervertreter misshandeln oder sogar töten, und die Polizei diese Pogromhelden noch schützt, dann kann nur der schändlichste Heuchler den Arbeitern raten, die Schläge nicht mit Schlägen zu erwidern unter dem bloßen Vorwand, das kommunistische System dulde keine Gewalt. Natürlich – in jedem einzelnen Fall muss man in Zusammenhang mit der Gesamtlage entscheiden, wie man der Gewalt des Feindes begegnen, und wie weit man in seinen Abwehrmaßnahmen gehen muss. Aber das ist eine Frage der taktischen Zweckmäßigkeit, die mit der prinzipiellen Anerkennung oder Verneinung der Gewalt nichts gemein hat.

Was ist eigentlich Gewalt? Wo beginnt sie? Wo gehen die zulässigen und zweckmäßigen Kollektivaktionen der Massen in Gewalt über? Wir bezweifeln sehr, dass Lansbury oder ein anderer Pazifist diese Frage beantworten könnte, außer etwa mit einem einfachen Hinweis auf die Paragraphen im Strafgesetzbuch, in denen gesagt wird, was gestattet, und was verboten ist. Der Klassenkampf ist eine permanente Kette der offenen und maskierten Vergewaltigungen, die in gewissem Grade durch den Staat „reguliert" sind. Der Staat stellt seinerseits einen organisierten Vergewaltigungsapparat des stärksten Gegners, d. h. der herrschenden Klasse, dar. Ist der Streik eine Vergewaltigung? Es gab eine Zeit, in der die Streiks verboten waren, und fast jeder Streik unvermeidlich mit physischen Zusammenstößen verbunden war. Später, infolge der Entwicklung des Streikkampfes, d. h. infolge der Vergewaltigung des Gesetzes durch die Massen, oder richtiger gesagt, infolge der permanenten Angriffe der Massen auf die gesetzliche Vergewaltigung, wurden die Streiks legalisiert. Soll das heißen, dass Lansbury nur die friedlichen, „legalen", d. h. die durch die Bourgeoisie gestatteten Streiks als zulässiges Kampfmittel betrachtet? Hätten die Arbeiter jedoch zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht gestreikt, so hätte die englische Bourgeoisie die Streiks im Jahre 1824 nicht legalisiert. Lässt man aber die Streikform der Gewaltanwendung oder Vergewaltigung zu, so muss man auch alle Konsequenzen ziehen, d. h. auch die Verteidigung der Streiks gegen die Streikbrecher mit Hilfe einer zweckmäßigen Gegenvergewaltigung zulassen.

Weiter: Wird Lansbury es wagen, den allgemeinen Streik der Arbeiter gegen eine faschistische Regierung für unzulässig zu erklären, gegen eine Regierung, welche die Arbeiterverbände unterdrückt, die Arbeiterpresse vernichtet, die Arbeiterreihen mit Provokateuren und Mördern verseucht, wenn die Arbeiterstreiks gegen die Kapitalisten oder einzelne kapitalistische Gruppen zulässig sind? Wiederum kann man in einen allgemeinen Streik nicht an jedem beliebigen Tag, nicht zu jeder beliebigen Stunde eintreten, sondern nur unter bestimmten, konkreten Bedingungen. Aber da handelt es sich um eine Frage der strategischen Zweckmäßigkeit und nicht der allgemeinen „moralischen" Wertung. Was den Generalstreik als eines der wirksamsten Kampfmittel betrifft, so haben Lansbury und alle seine Gleichgesinnten kaum ein anderes Mittel erfunden, das vom Proletariat zur Erreichung des entscheidenden Zieles angewandt werden könnte. So tief ist doch Lansbury noch nicht gesunken, dass er den Arbeitern empfehlen könnte, zu warten, bis der Geist der Brüderlichkeit die Herzen der italienischen Faschisten erobern wird, die, nebenbei gesagt, in ihrer überwiegenden Mehrzahl sehr fromme Katholiken sind. Wenn man aber zugibt, dass das Proletariat nicht nur das Recht hat, sondern sogar verpflichtet ist, sich zum Generalstreik gegen das faschistische System vorzubereiten, so muss man aus dieser Tatsache alle weiteren Schlüsse ziehen. Wenn der Generalstreik keine reine Demonstration ist, bedeutet er eine außerordentliche Erschütterung der Gesellschaft und setzt jedenfalls das Schicksal des politischen Systems und das Prestige der Kraft der revolutionären Klassen aufs Spiel. Man kann in den Generalstreik nur dann treten, wenn die Arbeiterklasse, vor allem ihre Avantgarde, entschlossen ist, den Kampf bis zum Ende zu führen. Aber auch der Faschismus ist keineswegs bereit, vor einer friedlichen Streikmanifestation die Waffen zu strecken. Im Falle einer realen, unmittelbaren Gefahr werden die Faschisten alle ihre Kräfte aufbieten und es zu Provokationen, Mordtaten, Sabotageakten in ungeahnten Maßen kommen lassen. Es fragt sich, ob es zulässig ist, dass die Führer des Generalstreiks Kampforganisationen zum Schutz der Streikenden, zur Entwaffnung und Zerstreuung der faschistischen Banden bilden. Und da es, soweit wir uns erinnern, noch keinem gelungen ist, wütende Feinde durch Singen religiöser Hymnen zu entwaffnen, wird man wahrscheinlich die revolutionären Truppen mit Revolvern und Handgranaten bewaffnen müssen, bis es ihnen selbst gelungen ist, Gewehre, Maschinengewehre und Kanonen zu erobern. Oder beginnt vielleicht jetzt das Gebiet der unzulässigen Gewalt? Aber dann verstricken wir uns endgültig in unsinnige, beschämende Widersprüche. Der Generalstreik, der sich nicht vor Gewalt und Niederlage schützt, ist eine Demonstration der Feigheit und muss ergebnislos bleiben. Nur ein Verrückter oder ein Verräter wird unter solchen Bedingungen zum Kampfe aufrufen. „Waffenloser" Streikkampf ruft logisch auf Grund der Verhältnisse, die von Lansbury unabhängig sind, bewaffnete Konflikte hervor. Im Verlaufe von wirtschaftlichen Streiks kommt es sehr oft zu solchen Konflikten, im Verlaufe eines politischen Revolutionsstreiks aber sind sie absolut unvermeidlich, sobald der Streik die Vernichtung der jeweiligen Regierungsgewalt zum Ziele hat. Wer auf Gewalt verzichtet, muss überhaupt auf den Kampf verzichten, d. h., er muss in Wirklichkeit in die Reihe der Kämpfer für die triumphierende Vergewaltigung der herrschenden Klassen treten.

Aber damit sind wir noch nicht zu Ende. Das Ziel des von uns gedachten Generalstreiks ist der Sturz der faschistischen Macht. Es lässt sich nur durchsetzen, wenn man ihre bewaffneten Kräfte besiegt. Hier sind zwei Wege denkbar: Direkter Waffensieg über die Kräfte der Reaktion oder Gewinnung dieser Kräfte für die Revolution. Nur auf einem der beiden Wege ist der Sieg unerreichbar. Der revolutionäre Aufstand führt dann zum Siege, wenn es gelingt, die stärksten, entschlossensten und zuverlässigsten Truppen der Reaktion zu schlagen und die übrigen bewaffneten Kräfte des Regimes auf seine Seite zu ziehen. Dies aber lässt sich wiederum nur unter der Bedingung erreichen, dass die schwankenden Regierungstruppen zur Überzeugung kommen, dass die Arbeitermassen nicht bloß ihre Unzufriedenheit demonstrieren, sondern diesmal fest entschlossen sind, um jeden Preis die Regierung zu stürzen, ohne vor den unbarmherzigsten Kampfmitteln zurückzuschrecken. Nur ein solcher Eindruck vermag schwankende Truppen für die Massen zu gewinnen. Je abwartender, schwankender, zurückweichender die Politik der Leiter des Generalstreikes sein wird, desto geringer werden die Schwankungen bei den Truppen sein, desto entschlossener werden sie die bestehende Macht unterstützen, desto größer sind die Chancen, die Krise siegreich zu überwinden, um nun alle Skorpione der blutigen Unterdrückung auf die Arbeiterklasse loszulassen. Mit anderen Worten: Ist die Arbeiterklasse gezwungen, zu ihrer Befreiung zum politischen Generalstreik Zuflucht zu nehmen, so muss sie sich im Voraus bewusst sein, dass dieser Streik zu teilweisen und allgemeinen bewaffneten und unbewaffneten Konflikten führen wird; sie muss sich im Voraus darüber Rechenschaft ablegen, dass der Streik nur dann nicht vergeblich ist, wenn er sofort notwendige Abwehrmaßnahmen gegen Streikbrecher, Provokateure, Faschisten usw. zu treffen und durchzuführen vermag, die Arbeiterklasse muss voraussehen, dass die Regierung, um deren Schicksal es geht, unvermeidlich in diesem oder jenem Augenblick des Kampfes ihre ganze bewaffnete Macht auf die Straßen führen wird; vom Ausgang des Zusammenstoßes der revolutionären Massen mit der bewaffneten Macht hängt das Schicksal des bestehenden Systems, also auch das Schicksal des Proletariats ab. Die Arbeiter müssen im Voraus alle Maßnahmen ergreifen, um die Soldaten auf dem Wege der vorbereitenden Agitation für die Massen zu gewinnen; aber sie müssen gleichzeitig voraussehen, dass die Regierung immer noch eine genügende Anzahl zuverlässiger oder halb zuverlässiger Soldaten in den Kampf zur Unterdrückung des Aufstandes führen kann, so dass zuletzt der Kampf nur durch den bewaffneten Zusammenstoß entschieden wird, den man planmäßig vorbereiten und mit aller revolutionären Entschlossenheit durchführen muss.

Nur höchste Entschlossenheit im revolutionären Kampf vermag der Reaktion die Waffen aus der Hand zu schlagen, die Periode des Bürgerkrieges zu verkürzen, die Zahl seiner Opfer zu verringern. Ist man dazu nicht entschlossen, darf man überhaupt nicht zu den Waffen greifen; greift man nicht zu den Waffen, darf man keinen Generalstreik organisieren; verzichtet man auf den Generalstreik, darf man nicht an einen ernsten Kampf denken. Dann bleibt nur übrig, die Arbeiter im Geiste völliger Unterwürfigkeit zu erziehen, womit sich ohnehin die offizielle Schule der regierenden Parteien, die Pfaffen aller Religionen und … die sozialistischen Prediger der Verneinung der Gewalt beschäftigen.

Aber interessant ist folgendes: Wie die philosophischen Idealisten im praktischen Leben Brot, Fleisch und überhaupt die verächtliche Materie genießen, und, ohne auf die unsterbliche Seele zu vertrauen, sich wohl hüten, unter ein Auto zu geraten, so appellieren auch die Herren Pazifisten, die kraftlosen Gegner der Gewalt, die sittlichen „Idealisten" an die politische Gewalt und benutzen sie direkt oder indirekt, sobald ihre wahren Interessen bedroht sind. Da Mr. Lansbury, wie es scheint, nicht ganz temperamentlos ist, erlebt er solche Abenteuer öfter als die anderen. Während der Parlamentsdebatten über die Arbeitslosenfrage (Sitzung des Parlaments am 9. März 1925) erinnerte Lansbury daran, dass das Gesetz über die Arbeitslosenversicherung in seiner jetzigen Fassung im Jahre 1920 „hauptsächlich nicht deshalb in Kraft getreten ist, um das Leben der Arbeiter und ihrer Familien sicherzustellen, sondern vielmehr deshalb, um die Revolution zu verhüten, wie unlängst Lord Derby erklärt hat." „Im Jahre 1920", führte Lansbury weiter aus, „wurden sämtliche Arbeiter, die in der Armee gedient haben, in die Liste der Arbeitslosenversicherten eingetragen, weil die Regierung damals ihrer Sache noch nicht so sicher war, und die Arbeiter ihre Gewehre vielleicht in einer der Regierung ganz und gar nicht erwünschten Richtung anlegen könnten." („Times", 10. März 1925.) Nach diesen Worten verzeichnet der Parlamentsbericht „Beifall auf den Bänken der Opposition", d. h. der Arbeiterpartei und Zurufe „Oho!" auf den Regierungsbänken. Lansbury glaubt nicht an die revolutionäre Gewalt. Aber trotzdem folgt er Lord Derby und gibt zu, dass das Arbeitslosenversicherungsgesetz aus Angst vor einer gewaltsamen Revolution geschaffen wurde. Lansbury bekämpft die Versuche, dies Gesetz abzuschaffen; er glaubt also, dass das Gesetz, das aus Angst vor der revolutionären Gewalt geschaffen wurde, der Arbeiterklasse einen gewissen Nutzen bringt. Aber damit wird beinahe mathematisch der Nutzen der revolutionären Gewalt bewiesen. Denn – mit Erlaubnis Lansburys – ohne Gewalt hätte auch die Angst nicht aufkommen können. Hätte nicht die reale Möglichkeit (und Notwendigkeit) vorgelegen, in gewissen Fällen die Gewehre gegen die Regierung zu richten, hätte die Regierung keinen Grund zur Furcht gehabt. Wenn also Mr. Lansbury an die Gewalt nicht glauben will, liegt ein reines Missverständnis vor. In der Praxis erscheint ihm jedenfalls diese Gewalt täglich als Argument. Weit mehr benutzt er in der Praxis die Eroberungen der revolutionären Gewalt der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte. Er weigert sich nur, eine geistige Bilanz zu ziehen. Er lehnt die revolutionäre Gewalt ab, wenn es gilt, die Macht zu erobern, die vollständige Befreiung des Proletariats zu erringen. Er stellt sich aber auf guten Fuß mit der Gewalt und stützt sich sogar auf sie anlässlich von Kämpfen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Mr. Lansbury ist für die Gewalt en détail, aber gegen die Gewalt en gros. Er erinnert an den Vegetarier, der bescheiden Enten- und Kaninchenbraten akzeptiert, aber in heiliger Entrüstung gegen das Schlachten von Großtieren protestiert.

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Wir hören schon im Voraus Mr. Lansbury oder seine diplomatischeren und heuchlerischeren Gesinnungsgenossen uns erwidern:

»Ja, gegen ein faschistisches Regime, gegen eine despotische Regierung überhaupt ist die Gewalt vielleicht zuletzt (wir bestreiten es nicht) bis zu einer gewissen Grenze zulässig; sie ist aber gänzlich unzulässig unter einem demokratischen Regime." Wir werden diese Entgegnung aber sofort für die Preisgabe einer prinzipiellen Position erklären, denn zu Beginn war gar nicht die Rede davon, unter welchen politischen Bedingungen die Gewalt zulässig oder zweckmäßig ist, sondern ob sie überhaupt von einem gewissen abstrakten, human-christlich-sozialistischen Standpunkt aus zulässig ist.

Wenn man uns entgegnet, die revolutionäre Gewalt wäre nur einem demokratischen Regime gegenüber unzulässig, verschiebt man diese Frage auf ein ganz anderes Geleise. Das bedeutet aber nicht, dass die demokratischen Gegner der Gewalt überzeugender oder klüger sind als die christlich-humanen. Wir werden uns rasch und leicht davon überzeugen, dass dies nicht der Fall ist.

In der Tat: Ist es richtig, dass die Frage der Zweckmäßigkeit und Zulässigkeit der revolutionären Gewalt in Zusammenhang mit der mehr oder weniger demokratischen Herrschaftsform der Bourgeoisie entschieden wird? Eine solche Fragestellung wird durch die geschichtliche Erfahrung völlig widerlegt. Der Kampf zwischen der revolutionären und der friedlichen, legalen und reformistischen Richtung beginnt im Schoße der Arbeiterbewegung keineswegs erst im Augenblick der Errichtung der Republik oder der Einführung des allgemeinen Wahlrechtes. Im Zeitalter des Chartismus und bis zum Jahre 1868 besaßen die Arbeiter Englands überhaupt kein Wahlrecht, das Hauptwerkzeug der „friedlichen" Entwicklung fehlte ihnen. Trotzdem gab es unter den Marxisten Anhänger der physischen Gewalt – mit ihnen gingen die Massen – und Anhänger der moralischen Gewalt, die sich vornehmlich aus kleinbürgerlichen Intellektuellen und aristokratischen Arbeiterkreisen rekrutierten. Im Hohenzollern-Deutschland, in einer Zeit des ohnmächtigen Parlamentarismus, tobte in der sozialdemokratischen Partei ein Kampf zwischen den Anhängern der parlamentarischen Reform und den Verkündern des revolutionären Generalstreiks. Im zaristischen Russland liquidierten die Menschewiki während des Regimes des 3. Juni die revolutionären Kampfmethoden unter der Losung des Kampfes für die Legalität. Die Berufung auf eine bürgerliche Republik oder das allgemeine Wahlrecht trägt reformistischen und gesetzmäßigen Charakter und ist ein Produkt der theoretischen Beschränktheit, des kurzen Gedächtnisses und ein Zeichen direkter Heuchelei. Sachlich bedeutet der legalistische Reformismus eine Begeisterung der Sklaven für Institutionen und Gesetze der Sklavenhalter. Ob es unter diesen Institutionen ein allgemeines Wahlrecht gibt oder nicht, ob ein König oder ein Präsident an der Spitze steht, ist für einen Opportunisten eine Frage zweiten Ranges. Er liegt immer vor den Götzen des bürgerlichen Staates auf den Knien und ist bereit, seiner „Ideale" wegen durch die für ihn von der Bourgeoisie errichteten Eselstore zu gehen. Die Tore sind aber so gebaut, dass man sie unmöglich zu passieren vermag.

Was ist politische Demokratie, und wo beginnt sie? Mit anderen Worten: Wo und in welchen Ländern verbietet sich die Anwendung von Gewalt? Darf man einen Staat demokratisch nennen, der eine Monarchie und ein aristokratisches Parlament hat? Ist es zulässig, die Revolutionsmethoden zur Vernichtung solcher Institutionen anzuwenden? Darauf wird man vielleicht antworten, das englische Unterhaus besitze Macht genug, um die königliche Macht und das Haus der Lords zu beseitigen, falls es ihm im Interesse der Arbeiterklasse notwendig erscheint; wäre dann der friedliche Weg zur Vervollkommnung des demokratischen Systems in ihrem Lande frei?

Nehmen wir einen Augenblick an, es verhielte sich so. Aber wie steht es mit dem Unterhaus selbst? Kann denn diese Institution, auch nur rein formal als demokratisch bezeichnet werden? Nicht im Geringsten. Beträchtliche Bevölkerungsgruppen sind praktisch des Wahlrechtes beraubt. Die Frauen sind nur vom 30. Lebensjahr an stimmberechtigt, die Männer nur vom 21. an. Die Herabsetzung des Wahlalters ist vom Standpunkte der Arbeiterklasse aus, in der man schon sehr jung arbeiten muss, eine elementare Forderung der Demokratie. Außerdem sind die Wahlkreise in England so perfide eingeteilt, dass auf einen Arbeitervertreter zweimal soviel Stimmen entfallen, als auf einen konservativen Abgeordneten. Dadurch, dass das englische Parlament das Wahlalter hinaufsetzt, verbannt es die aktive Jugend beider Geschlechter und überlässt das Schicksal des Landes den älteren, ermüdeteren Generationen, die ihr Angesicht mehr der Vergangenheit als der Zukunft zuwenden. Das ist der Sinn des hohen Wahlalters. Die zynische Wahlgeometrie verleiht einer konservativen Stimme dasselbe Gewicht wie zwei Arbeiterstimmen. So stellt sich das heutige englische Parlament als schreiender Hohn des Volkswillens dar, selbst dann, wenn man diesen Willen vom bürgerlich-demokratischen Standpunkt aus betrachtet. Hat die Arbeiterklasse das Recht – wir sprechen immer vom Boden der demokratischen Prinzipien aus – herrisch zu fordern, dass das jetzige privilegierte und faktisch usurpatorische Parlament sofort ein wirklich demokratisches Wahlrecht proklamiert? Wenn das Parlament den Antrag verwirft – wir halten dies Resultat für unvermeidlich, denn noch kürzlich hat die Regierung Baldwin sich geweigert, Frauen hinsichtlich des Wahlalters mit den Männern gleichzustellen –, wird dann das Proletariat das „Recht" haben, durch einen Generalstreik die Verwirklichung des demokratischen Wahlrechtes seitens des usurpatorischen Parlaments erzwingen zu dürfen?

Wenn wir sogar annehmen, dass das Unterhaus, entweder das heutige usurpatorische oder das demokratische, beschlossen hätte, die königliche Macht und das Haus der Lords abzuschaffen, wofür keine Hoffnung vorhanden ist, so hätte dieser Vorgang noch keineswegs bedeutet, dass die parlamentarisch in der Minderheit gebliebenen reaktionären Klassen sich einer solchen Entscheidung widerspruchslos fügen würden. Wir haben unlängst gesehen, dass die Ulsterreaktionäre den offenen Bürgerkrieg unter der Leitung des Lord Carson führten, als sie wegen der Staatsform Irlands mit dem britischen Parlament in Konflikt gerieten, die englischen Konservativen haben damals die Ulsterrebellen offen unterstützt.1 „Aber", wird man uns erwidern, „in diesem Falle ist ein solches Vorgehen der privilegierten Klassen ein offener Aufstand gegen das demokratische Parlament, und natürlich muss eine solche Rebellion mit Hilfe der Staatsgewalt unterdrückt werden." Wir notieren auch diese Anerkennung, aber fordern, dass man daraus einige praktische Schlüsse zieht.

Nehmen wir einen Augenblick an, die nächsten Parlamentswahlen bringen eine Arbeiterparteimehrheit, die auf ganz legalem Wege zu Beginn die Entscheidung trifft, dass die Güter der Landlords ohne Schadenersatz den Farmern und permanent Arbeitslosen übergeben werden müssen, dass ferner hohe Kapitalsteuern eingeführt, die königliche Macht, das Haus der Lords und einige andere unanständige Institutionen beseitigt werden. Es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen: die besitzenden Klassen werden nicht ohne Kampf kapitulieren, umso weniger, als der Polizei-, Gerichts- und Militärapparat völlig in ihren Händen ist. In der Geschichte Englands kam es bereits schon einmal zum Bürgerkrieg, als der König sich auf die Minderheit des Unterhauses und die Mehrheit der Lords gegen die Mehrheit des Unterhauses und die Minderheit des Hauses der Lords stützte, nämlich in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts. Nur ein Idiot, wir wiederholen: nur ein hilfloser Idiot kann im Ernst glauben, dass die Wiederholung eines solchen Bürgerkrieges (auf neuen Klassengrundlagen) im 20. Jahrhundert unmöglich ist, weil in den letzten drei Jahrhunderten die christliche Weltanschauung, die humanen Gefühle, die demokratischen Traditionen und alle anderen schönen Dinge offenbare Fortschritte gemacht hätten. Dasselbe Beispiel Ulsters zeigt, dass die besitzenden Klassen nicht spaßen, wenn ein Parlament, mag es auch ihr eigenes sein, sich gezwungen sieht, auch nur einige ihrer Privilegien zu schmälern. Wenn man sich auf die Eroberung der Macht vorbereitet, muss man also auch auf alle Konsequenzen gefasst sein, die sich aus dem unvermeidlichen Widerstand der besitzenden Klassen ergeben. Man muss wohl verstehen: Wenn in England, auch auf dem alten demokratischen Wege, eine wirkliche Arbeiterregierung zur Macht käme, wäre der Bürgerkrieg unvermeidlich. Die Arbeiterregierung wäre gezwungen, den Widerstand der privilegierten Klassen zu unterdrücken. Mit den Mitteln des alten Staatsapparates, der alten Polizei, der alten Gerichte, der alten Miliz wäre ein solches Vorgehen unmöglich. Die auf parlamentarischem Wege gebildete Arbeiterregierung wäre gezwungen, neue revolutionäre Organe aufzubauen, sich auf die Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen überhaupt zu stützen. Ein solches Vorgehen hätte zu einer ungewöhnlichen Steigerung der Aktivität und des Unabhängigkeitsbewusstseins der Arbeitermassen geführt. Auf dem Boden des unmittelbaren Kampfes mit den ausbeutenden Klassen hätten sich die Trade Unions nicht nur in ihren Spitzen, sondern auch in ihren untersten Schichten eng zusammengeschlossen, und sie wären notwendig in die Lage versetzt, örtliche Delegiertenversammlungen, d. h. Arbeiterräte, zu bilden. Eine tatsächliche Arbeiterregierung, also eine Regierung, die voll und ganz den Interessen des Proletariates dient, wäre gezwungen worden, den alten Staatsapparat als ein Instrument der besitzenden Klassen zu zerschlagen und ihm den Apparat der Arbeiterräte gegenüberzustellen. Das bedeutet, dass der demokratische Ursprung der Arbeiterregierung – wenn sie möglich wäre – notwendig die revolutionäre Klassenkraft dem reaktionären Widerstand entgegenzusetzen hätte.

Wir haben oben gezeigt, dass das gegenwärtige englische Parlament eine ungeheure Verstümmelung der Prinzipien der bürgerlichen Demokratie darstellt, und dass es ohne Anwendung der revolutionären Gewalt kaum möglich ist, in England auch nur die ehrliche Abgrenzung der Wahlkreise, die Abschaffung der Monarchie und des Hauses der Lords durchzusetzen. Aber nehmen wir einen Augenblick an, diese Forderungen wären auf diesem oder jenem Wege erfüllt – haben wir dann in London wirklich ein demokratisches Parlament? Keineswegs. Das Londoner Parlament ist das Parlament der Sklavenhalter. Wenn es auch auf dem idealsten formaldemokratischen Wege ein 40-Millionen-Volk vertritt, gibt das englische Parlament doch auch Gesetze für 300 Millionen Bewohner Indiens und disponiert über Geldmittel, die England dank seinem Kolonialbesitz zur Verfügung stehen. Die Bevölkerung Indiens nimmt keinen Anteil an den Beratungen und Beschlüssen neuer Gesetze, die ihr Schicksal bestimmen. Die englische Demokratie gleicht der athenischen Demokratie in dem Sinne, dass die Gleichheit der demokratischen Rechte (die in Wirklichkeit nicht existiert) sich nur auf die „Freigeborenen" erstreckt, sich aber auf die Rechtlosigkeit der minderwertigen Nationen stützt. Auf jeden Bewohner der britischen Inseln kommen etwa 9 Kolonialsklaven. Selbst wenn man annimmt, dass die revolutionäre Gewalt in der Demokratie unzulässig ist, gilt dies Prinzip keineswegs für die Völker Indiens, die sich nicht gegen die Demokratie, sondern gegen die sie unterdrückende Despotie auflehnen. Aber in diesem Fall kann auch ein Engländer, wenn er wirklich Demokrat ist, den britischen Gesetzen, die für Indien, Ägypten usw. erlassen werden, keinen wahrhaft demokratischen Ursprung zubilligen. Und da auf diese Gesetze sich das öffentliche Leben Englands selbst als Kolonialmacht stützt, ist es klar, dass die gesamte Tätigkeit des Westminsterparlaments, einer Zentrale der kolonialen Räubermacht, in ihren Grundzügen antidemokratisch ist. Vom konsequent demokratischen Standpunkt aus müsste man sagen: Bis zum Zeitpunkt, wo den Indern, Ägyptern usw. das Recht der vollen Selbstbestimmung, d. h. das Recht der Loslösung, nicht gegeben ist, und bis zum Zeitpunkt, wo die Inder, Ägypter usw. ihre Vertreter nicht auf der gleichen Rechtsgrundlage wie die Engländer in das allgemeine Reichsparlament schicken werden, haben nicht nur die Inder und Ägypter, sondern auch die englischen Demokraten ein Recht zum Aufstand gegen die Räuberregierung, die durch das Parlament gebildet ist, das eine verschwindende Minderheit der Bevölkerung des britischen Imperiums darstellt. So erscheint die Lage in England, wenn man an die Frage der Gewaltanwendung mit einem demokratischen Kriterium – konsequent durchgeführt – herantritt.

Die Verneinung des Rechtes der unterdrückten Massen auf die Gewalt seitens der englischen Sozialreformisten ist ein schamloser Verzicht auf Demokratie, ist eine verächtliche Unterstützung der imperialistischen Diktatur einer nichtigen Mehrheit über Hunderte Millionen Versklavter. Bevor MacDonald sich unterfängt, die Kommunisten über die Heiligkeit der Demokratie aufzuklären und die Sowjetmacht anzuklagen, müsste er seine eigene Nase putzen.

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Wir haben zuerst die Frage der Gewalt vom „rein menschlichen", christlichen Pfaffenstandpunkt aus betrachtet und uns überzeugt, dass die Sozialpazifisten auf der Suche nach einem Ausweg aus unlösbaren Widersprüchen tatsächlich gezwungen wurden, ihre Position aufzugeben und einzugestehen, dass die revolutionäre Gewalt auch die Schwelle der Demokratie überschreiten darf. Wir haben weiter gezeigt, dass die Verneiner der Gewalt sich ebenso wenig auf den demokratischen wie auf den christlichen Standpunkt stützen können. Mit anderen Worten: Wir haben den völligen Bankrott, die Verlogenheit und Scheinheiligkeit des Sozialpazifismus entlarvt, indem wir uns auf seinen eigenen Boden stellten.

Diese Methode bedeutet jedoch nicht, dass wir bereit sind, diesen Boden zu akzeptieren. In der Entscheidung der Frage der revolutionären Gewalt bildet für uns das parlamentarisch-demokratische Prinzip keineswegs die höchste Instanz. Nicht die Menschheit für die Demokratie, die Demokratie ist vielmehr nur eines der Hilfsmittel auf dem Entwicklungswege der Menschheit. Dort, wo die bürgerliche Demokratie zum Hindernis wird, ist sie der Vernichtung preisgegeben. Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ist keineswegs eine Folge der formal-demokratischen Prinzipien, die über der Gesellschaft schweben, sondern vielmehr eine Folge der materiellen Bedingungen der Entwicklung der Gesellschaft selbst: des Wachstums der produktiven Kräfte, der unlösbaren kapitalistischen Widersprüche (sowohl der inneren wie der internationalen), der Verschärfung des Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Die wissenschaftliche Analyse dieses historischen Prozesses, die eigene politische Erfahrung unserer Generation, die Lehren des imperialistischen Krieges legen sämtlich Zeugnis ab, dass ohne den Übergang zum Sozialismus unsere gesamte Kultur verurteilt ist, in Vereiterung und Zersetzung zu geraten. Den Übergang zum Sozialismus kann aber nur das Proletariat unter der Führung seiner revolutionären Avantgarde vollziehen, indem es alle arbeitenden und unterdrückten Massen der Mutterländer wie der Kolonien um sich schart. Für unsere gesamte Tätigkeit, für alle unsere politischen Entscheidungen geben nur die Interessen des revolutionären Kampfes des Proletariats um die Machtergreifung und den Neubau der Gesellschaft den Ausschlag. Wir halten die Abschätzung der proletarischen Bewegung vom Standpunkte der abstrakten Prinzipien und juristischen Paragraphen der Demokratie aus für reaktionäre Pedanterie. Wir glauben, dass es allein richtig ist, die Demokratie vom Standpunkt der geschichtlichen Interessen des Proletariats zu werten. Es geht nicht um die Schale, sondern um den Kern selbst. Reinster Stumpfsinn sind die Gespräche der Herren Fabier über die Unzulässigkeit des „engen" Klassenstandpunktes. Die Grundaufgaben der gesellschaftlichen Entwicklung, die vom Proletariat vollzogen werden, sind der Schulweisheit der Pedanten nicht bequem. Unter dem Namen der allgemein-menschlichen Solidarität verstehen sie einen eklektischen Mischmasch, der dem engen Klassenstandpunkt des Kleinbürgertums gemäß ist. Zwischen ihr Eigentum und das revolutionäre Proletariat schiebt die Bourgeoisie den Wandschirm der Demokratie. Die sozialistischen Pedanten erklären den Arbeitern: Man muss die Produktionsmittel erobern, aber vorher muss man durch diesen Wandschirm auf legalem Wege eine notwendige Verbindung schaffen. Aber kann man denn den Wandschirm nicht umwerfen? Keineswegs. Warum nicht? Würden wir auf diese Weise die Gesellschaft retten, hätten wir auch das komplizierte System der Staatsgewalt und des Staatsbetruges verletzt, das uns die Bourgeoisie als heilige Demokratie zu betrachten gelehrt hat.

Nachdem man sie aus den beiden ersten Positionen heraus gedrängt hat, können die Gegner der Gewalt die dritte Schützengrabenlinie besetzen. Sie können sich bequemen, die ganze christliche Mystik und demokratische Metaphysik wegzuwerfen, und versuchen, den reformistisch-demokratischen friedlichen parlamentarischen Weg durch Betrachtungen der reinen politischen Zweckmäßigkeit zu verteidigen. Einige könnten z. B. Folgendes sagen: Gewiss, die Lehre Christi hat nicht vorausgesehen, wie man sich aus den Widersprüchen des britischen Kapitalismus herausfindet; gleichzeitig ist die Demokratie keine heilige Institution, sondern nur ein zeitweiliges Hilfsprodukt der geschichtlichen Entwicklung; warum soll denn die Arbeiterklasse das demokratische Parlament, seine Methoden, seine Griffe, seinen Gesetzesapparat nicht benutzen, um die Macht tatsächlich zu ergreifen und die Gesellschaft umzuformen? Das ist doch ein vollständig natürlicher und allem Anschein nach auch der rationellste Weg zur Verwirklichung der Ziele der sozialistischen Revolution.

Wir Kommunisten sind keineswegs geneigt, dem englischen Proletariat zu raten, dem Parlament den Rücken zu kehren. Im Gegenteil. Wenn einzelne englische Kommunisten solche Absichten äußern, begegnen sie auf den internationalen Kongressen unserem Widerstand. Die Frage wird also nicht so gestellt, ob man überhaupt den Parlamentsweg benutzen solle, sondern vielmehr, welchen Platz das Parlament in der Entwicklung der Gesellschaft einnehmen soll, wo sind die Kräfte der Klassen, innerhalb oder außerhalb des Parlamentes, wie und wo werden die Kräfte zusammenstoßen, kann man aus dem Parlament, das vom Kapitalismus im Interesse seiner Entwicklung und Verteidigung gebildet ist, einen Hebel zur Vernichtung des Kapitalismus machen?

Um diese Frage zu beantworten, muss man versuchen, sich ganz konkret wenigstens bis zu einem gewissen Grade vorzustellen, welchen Weg die weitere politische Entwicklung Englands einschlagen wird. Natürlich können alle Versuche dieser Art, die künftige Entwicklung vorauszusagen, nur einen bedingten orientierenden Charakter haben. Aber ohne solche Versuche wären wir verurteilt, im Finstern zu wandeln.

Die Regierung Baldwins hat im Parlament eine feste Mehrheit. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass sie drei bis vier Jahre an der Macht bleiben wird, obwohl die Frist ihres Lebens auch kürzer sein kann. Im Laufe dieser Zeit wird die konservative Regierung, die mit den „Kompromiss"-Reden Baldwins begonnen hat, offenbaren, dass sie im Grunde berufen ist, alle Widersprüche und Geschwüre im Nachkriegs-England zu konservieren. Über das fürchterlichste aller dieser Geschwüre, die chronische Arbeitslosigkeit, gibt sich die konservative Partei selbst keinen Illusionen hin. Auf eine ernste Entwicklung des Exportes darf man nicht hoffen. Die Konkurrenz Amerikas und Japans wächst, die deutsche Industrie lebt auf, Frankreich exportiert dank seiner sinkenden Valuta. Baldwin erklärt, die Politiker wären außerstande, der Industrie Erleichterungen zu verschaffen, sie müsse sie selbst finden. Neue Bemühungen zur Wiederherstellung der Goldzirkulation verlangen neue Opfer von der Bevölkerung, also auch von der Industrie, so lässt sich ein weiteres Wachstum der Unzufriedenheit und der Unruhe prophezeien. Die Radikalisierung der englischen Arbeiterklasse wird mit Volldampf vorwärts gehen. Alle diese Erscheinungen bereiten die Regierungsübernahme durch die Arbeiterpartei vor. Aber wir haben allen Anlass, zu befürchten, oder besser gesagt: zu hoffen, dass dieser Prozess nicht nur Baldwin, sondern auch MacDonald großes Missvergnügen bereiten wird. Man darf vor allem ein Steigen der Industriekonflikte erwarten und parallel damit die Erhöhung des Druckes der Arbeitermassen auf ihre Parlamentsvertretung. Den Führern kann beides nicht gefallen, die die Kompromissreden Baldwins mit Beifall begrüßen und ihrer Trauer um den verstorbenen Curzon Ausdruck geben. Das innere Leben der Parlamentsfraktion, wie ihre Stellung im Parlament selbst, wird dabei immer schwieriger. Andererseits kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der kapitalistische Tiger aufhören wird, von der Gradation zu miauen, er wird vielmehr seine Krallen zeigen. Wird es MacDonald unter solchen Bedingungen gelingen, seine Führerschaft bis zu den Neuwahlen zu behalten? Mit anderen Worten: Darf man schon jetzt die Linksorientierung der Parteiführerschaft erwarten, wo die Partei in Opposition verharrt? Diese Frage hat natürlich keine entscheidende Bedeutung, und die Beantwortung kann nur mutmaßlichen Charakter haben. Jedenfalls kann und soll man die weitere Verschärfung der Beziehungen zwischen dem rechten und dem sog. „linken" Flügel der Arbeiterpartei erwarten, und, was wichtiger ist, die Erstarkung der revolutionären Tendenzen unter den Massen. Mit steigender Unruhe werden die besitzenden Klassen die Vorgänge innerhalb der Arbeiterklasse verfolgen und sich rechtzeitig auf die Wahlen vorbereiten. Der Wahlkampf wird unter diesen Bedingungen einen äußerst heftigen Charakter annehmen. Die letzten Wahlen, in deren Verlauf jenes gefälschte Dokument auftauchte, das vom Zentrum aus durch die ganze bürgerliche Presse und alle Versammlungen geleitet wurde, waren nur ein schwaches Vorzeichen der kommenden Wahlen. Das Resultat der Wahlen, wenn man nicht annehmen sollte, dass sie nicht unmittelbar in den Bürgerkrieg überleiten (und das ist, beiläufig, nicht ausgeschlossen), kann ein Dreifaches sein: Entweder werden die Konservativen wieder zur Macht gelangen, aber mit einer stark geschmälerten Mehrheit; oder keine Partei wird eine absolute Mehrheit besitzen, dann würde sich die parlamentarische Lage des vergangenen Jahres wiederholen, nur unter weit ungünstigeren politischen Bedingungen für ein Kompromiss; oder aber, die absolute Mehrheit wird der Arbeiterpartei zufallen.

Im Falle eines neuen Sieges der Konservativen werden Entrüstung und Ungeduld der Arbeiter unvermeidlich steigen. Die Frage des Wahlmodus mit seiner betrügerischen Einteilung der Wahlkreise wird notwendig in aller Schärfe gestellt werden. Die Forderung eines neuen, demokratischeren Parlaments wird mit weit größerer Kraft erhoben werden müssen. Eine Weile wird vielleicht bis zu einem gewissen Grade der innere Kampf in der Arbeiterpartei stocken; aber es werden weit günstigere Bedingungen für die revolutionären Elemente erstehen. Werden die Konservativen in einer Frage friedlich nachgeben, die für sie zur Schicksalsfrage werden kann? Sehr unwahrscheinlich. Im Gegenteil. Wird die Frage der Macht einmal scharf gestellt, so werden die Konservativen versuchen, die Arbeiter zu spalten, sich oben auf die Thomas- und unten auf die Trade-Unionisten, die die Zahlung der politischen Beiträge verweigern, stützen. Es ist absolut nicht ausgeschlossen, dass seitens der konservativen Regierung der Versuch gemacht wird, einzelne Zusammenstöße zu provozieren, um die Arbeiter mit Gewalt zu unterdrücken, die führenden liberalen Philister der Arbeiterpartei zu erschrecken und die Bewegung zurückzuwerfen. Wird dieser Plan gelingen? Die Möglichkeit liegt im Bereich der Wahrscheinlichkeit. Da die Führer der Arbeiterpartei die Masse mit geschlossenen Augen führen, ohne Perspektiven, ohne Verständnis für die Realitäten der Gesellschaft, erleichtern sie den Konservativen die Möglichkeit, der Bewegung auf der nächsten höheren Etappe einen Schlag zu versetzen. Eine solche Variante setzt eine mehr oder weniger ernste Niederlage der Arbeiterklasse voraus und hätte natürlich nichts mit jenem friedlichen Parlamentsweg zu schaffen, der den Kompromisslern vorgaukelt. Umgekehrt. Eine solche Niederlage würde die Wiederaufnahme des Klassenkampfes auf der nächsten Etappe in solchen revolutionären Formen vorbereiten, die unter neuer Leitung zur Entscheidung führen müssen.

Wenn nach den nächsten Wahlen keine Partei eine Mehrheit erringt, gerät das Parlament in völlige Unterwürfigkeit. Die Koalition zwischen Arbeitern und Liberalen wird sich kaum wiederholen, nachdem man bereits schon einmal dies Experiment gemacht hat, obendrein wird es unter den Bedingungen neuer verschärfter Zwischenklassen- und Zwischenparteiverhältnisse kaum Platz greifen. Wahrscheinlicher ist eine konservativ-liberale Regierung. Aber faktisch würde sich dasselbe Resultat ergeben wie die eben auseinandergesetzte Variante der konservativen Mehrheit. Sollte es aber überhaupt nicht zu einer Verständigung kommen, so eröffnet sich nur noch ein parlamentarischer Ausweg: man müsste das Wahlsystem revidieren. Die Frage der Wahlkreise, der Stichwahl usw. würde Objekt des unmittelbaren Kampfes zweier Hauptparteien um die Macht. Wäre das Parlament, das zwischen Parteien, von denen keine imstande ist, die Macht zu ergreifen, geteilt ist, fähig, ein neues Wahlgesetz durchzuführen? Es ist mehr als zweifelhaft. Dazu wäre auf jeden Fall ein mächtiger Druck von außen her notwendig. Die Schwäche des Parlaments ohne gesicherte Mehrheit hätte eine Atmosphäre geschaffen, die für einen solchen Druck günstig wäre. Hier eröffnen sich wiederum revolutionäre Perspektiven.

Aber diese Zwischenvariante hat für uns keine selbständige Bedeutung, da offenbar die labile Parlamentslage in der einen oder anderen Richtung entschieden werden muss. Das heißt, die Entscheidung muss entweder zugunsten einer konservativen oder einer Arbeiterregierung fallen. Den ersten Fall haben wir bereits einer Betrachtung unterzogen. Der zweite Fall ist für uns vom Standpunkte des uns interessierenden Themas vor allem wichtig. Die Frage kleidet sich also in folgende Formel: Darf man annehmen, dass die Arbeiterpartei, die sich bei den Wahlen eine absolute Parlamentsmehrheit gesichert und ihre eigene Regierung gebildet hat, auf friedlichem Wege die Nationalisierung der wichtigsten Industriezweige verwirklichen und den sozialistischen Aufbau im Rahmen und mit den Methoden des jetzigen Parlamentssystems entwickeln wird?

Um diese Frage nicht sofort zu kompliziert zu gestalten, nehmen wir an, dass die liberale kompromisslerische Gruppe MacDonalds auch bei den nächsten Wahlen die offizielle Führung der Partei behalten wird, so dass der Sieg der Arbeiterpartei zur Bildung einer MacDonald-Regierung führen wird. Sie wird jedoch keine einfache Wiederholung des ersten Experimentes sein: Denn erstens wird sie nach unserer Annahme eine selbständige Mehrheit hinter sich haben; zweitens müssen sich die zwischenparteilichen Beziehungen in der nächsten Periode unvermeidlich, besonders im Falle des Sieges der Arbeiterpartei, verschärfen. Jetzt, wo die Konservativen im sichern Besitz einer festen Mehrheit sind, sind sie geneigt, mit einer gönnerhaften Nachsicht MacDonald, Thomas und Co. zu behandeln. Da aber die Konservativen aus ernsterem Material geschaffen sind als die Unglückssozialisten, werden sie, sobald sie nur eine Minderheit vertreten, sofort ihre Krallen und Zähne zeigen. Man darf deshalb nicht zweifeln, dass die Konservativen, wenn es ihnen nicht gelingen sollte, mit Hilfe irgendwelcher parlamentarischen oder außerparlamentarischen Methoden die Bildung einer selbständigen Arbeiterparteiregierung zu verhindern, in diesem scheinbar günstigsten Falle vom Standpunkt der friedlichen Entwicklung aus alles aufbieten werden, was in ihren Kräften steht, um mit Hilfe des Beamtentums, der Gerichte, des Militärs, des Oberhauses und des Hofes alle Maßnahmen der Arbeiterpartei zu sabotieren. Den Konservativen wie den Resten der Liberalen wird die Aufgabe erwachsen, um jeden Preis die erste selbständige Regierung der Arbeiterklasse zu kompromittieren. Es geht um Leben und Tod. Und dieser Waffengang ist ein ganz anderer als der alte Kampf zwischen den Liberalen und Konservativen in dem die Widersprüche innerhalb der „Familie" der besitzenden Klassen aufeinanderprallten. Auch nur einige ernste Reformen der Arbeiterregierung in Steuerfragen, die Nationalisierung und wahre Demokratisierung der Verwaltung hätten einen großen Enthusiasmus der Arbeitermassen hervorgerufen, und, da der Appetit beim Essen kommt, hätten erfolgreiche gemäßigte Reformen unvermeidlich auf den Weg immer radikalerer Reformen gedrängt. Mit anderen Worten: Jeder neue Tag hätte die Konservativen von der Möglichkeit der Wiedererlangung der Macht entfernt. Die Konservativen sähen eine völlig klare Rechnung vor sich, es handelte sich nicht mehr um einen üblichen Regierungswechsel, sondern um den Anfang der sozialistischen Revolution auf parlamentarischem Wege. Der besitzenden Klasse eröffnen sich große Möglichkeiten der Staatsobstruktion, der gesetzlichen und administrativen Sabotage, denn, gleichgültig, wie die Parlamentsmehrheit beschaffen ist, der ganze Staatsapparat ist in jeder Beziehung aufs engste mit der Bourgeoisie verbunden. Außerdem stehen ihr noch zur Verfügung: die gesamte Presse, die wichtigsten Organe der Selbstverwaltung, die Universitäten und Schulen, die Kirche, die zahllosen Klubs und sonstige freiwillige Verbände. Zu ihrer Verfügung stehen die Banken und das ganze System des gesellschaftlichen Kredits, endlich der Transport- und Handelsapparat, so dass der Unterhalt Londons einschließlich der Arbeiterregierung von den großen kapitalistischen Vereinigungen abhängig ist. Alle diese gewaltigen Mittel werden unausbleiblich mit ungeheurer Kraft aufgeboten werden, um die Tätigkeit der Arbeiterregierung zu hemmen, ihre Bemühungen zu paralysieren, sie einzuschüchtern, ihre Parlamentsmehrheit zu spalten und endlich eine Finanzpanik, Verpflegungsschwierigkeiten, Aussperrungen hervorzurufen, die Spitzen der Arbeiterorganisationen zu terrorisieren und das Proletariat zu schwächen. Nur der letzte Narr kann nicht verstehen, dass die Bourgeoisie Himmel, Erde und Unterwelt in Bewegung setzen wird, wenn die Arbeiterregierung wirklich zur Macht gelangen sollte.

Der gegenwärtige sog. englische Faschismus hat vorläufig mehr Kuriositätswert, aber diese Kuriosität ist doch symptomatisch. Die Konservativen sitzen heute noch zu fest im Sattel, als dass sie die Hilfe der Faschisten in Anspruch nähmen. Aber eine Verschärfung der Beziehungen der Parteien untereinander, die wachsende Hartnäckigkeit und die steigende Offensivtätigkeit der Arbeitermassen, die Siegesaussichten der Arbeiterpartei werden unweigerlich eine Entfaltung faschistischer Tendenzen auf dem rechten Flügel der Konservativen hervorrufen. In einem Lande, das in diesen Jahren ärmer wurde, in dem sich die Lage der Klein- und Mittelbourgeoisie beträchtlich verschlechterte, und in dem chronische Arbeitslosigkeit herrscht, wird es an Elementen zur Bildung faschistischer Truppen nicht fehlen. Man kann deshalb nicht zweifeln, dass im Augenblick des Wahlsieges der Arbeiterpartei die Konservativen nicht nur den offiziellen Staatsapparat, sondern auch die inoffiziellen Faschistenbanden um sich scharen werden; sie werden ihre provokatorische und blutige Arbeit beginnen, bevor das Parlament noch dazu kommen wird, die erste Lesung des Gesetzes über die Nationalisierung der Kohlengruben vorzunehmen. Was wird der Arbeiterregierung übrigbleiben? Entweder schmählich zu kapitulieren oder den Widerstand zu unterdrücken. Es wird sich herausstellen, dass sich diese letzte Entscheidung nicht so einfach treffen lassen wird. Das Experiment Irland zeugt davon, dass zur Unterdrückung eines Widerstandes solcher Art ernste materielle Kräfte und ein starker Staatsapparat notwendig sind. Der Arbeiterregierung werden weder die Kräfte, noch der Staatsapparat zur Verfügung stehen. Die Polizei und die Gerichte, die Armee und die Miliz werden auf Seiten der Desorganisatoren, Saboteure und Faschisten stehen. Man wird gezwungen werden, den Beamtenapparat in Stücke zu schlagen, die Reaktionäre durch Mitglieder der Arbeiterpartei zu ersetzen. Einen anderen Weg wird es nicht geben. Aber es ist ganz offenbar, dass solche scharfen, obwohl völlig „legalen" Staatsmaßnahmen den legalen und illegalen Widerstand der vereinigten bürgerlichen Reaktion steigern werden. Mit anderen Worten: Der Weg des Bürgerkrieges ist beschritten.

Aber vielleicht wird die Arbeiterpartei, wenn sie zur Regierung kommt, so vorsichtig, so taktvoll und so geschickt zu Werke gehen, dass die Bourgeoisie – wie soll man sich ausdrücken? – kein Bedürfnis nach aktivem Widerstand verspüren wird. Eine solche Annahme ist an und für sich natürlich lächerlich. Man muss aber zugeben, dass nichtsdestoweniger eben darauf die Grundhoffnung MacDonalds und Co. beruht. Wenn der jetzige traurige Führer der Unabhängigen sagt, dass die Arbeiterpartei nur solche Reformen durchführen wird, deren Verwirklichung „wissenschaftlich" bewiesen ist (die „Wissenschaft" MacDonalds kennen wir schon), so will er damit sagen, dass die Arbeiterregierung vor jedem ihrer Reformschritte der Bourgeoisie fragend in die Augen schauen wird. Natürlich, wenn alles vom guten Willen MacDonalds und seinen „wissenschaftlich" begründeten Reformen abhinge, würde es nie zu einem Bürgerkriege kommen – da die Bourgeoisie keine Gründe dazu hätte. Wenn die zweite Regierung MacDonalds so beschaffen wäre wie die erste, wäre es unnötig, die ganze Frage der Verwirklichung des Sozialismus auf dem Parlamentswege aufzuwerfen, da das Citybudget mit dem Budget des Sozialismus nichts gemein hat. Jedoch wird die Politik der Arbeiterregierung auch, wenn sie ihre alte Zusammensetzung behält, gewisse Veränderungen erfahren müssen. Es ist lächerlich, zu glauben, dass die gewaltigen Arbeiterwellen, die MacDonald zur Macht bringen, unmittelbar nach Regierungsantritt ehrfurchtsvoll zurückströmen werden. Nein, die Ansprüche der Arbeiterklasse werden ungewöhnlich wachsen. Man wird sich nicht mehr auf die Abhängigkeit von den liberalen Stimmen berufen können. Der Widerstand der Konservativen, des Oberhauses, der Bürokratie und der Monarchie wird die Energie, die Ungeduld und die Entrüstung der Arbeiter verdoppeln. Die Verleumdung und die Hetze der kapitalistischen Presse werden sie vorwärtstreiben. Wenn auch ihre eigene Regierung unter diesen Bedingungen eine unverfälschte Energie offenbaren wird, so wird sie den Arbeitermassen schlapp erscheinen. Aber von MacDonald, Clynes und Snowden kann man mit demselben Recht revolutionäre Energie erwarten, wie wohlriechende Düfte von faulen Rüben. Bei dem revolutionären Anprall der Massen und dem erbitterten Widerstand der Bourgeoisie wird die Regierung MacDonald nach allen Seiten hin lavieren, die einen wird sie ärgern, die anderen nicht befriedigen, die Bourgeoisie durch ihre Schlappheit provozieren, die revolutionäre Ungeduld der Arbeiter steigern, den Bürgerkrieg schüren und gleichzeitig bestrebt sein, ihn der notwendigen Leitung seitens des Proletariats zu berauben. Gleichzeitig wird notwendig der revolutionäre Flügel erstarken, die weitsichtigeren, entschiedeneren und revolutionären Elemente der Arbeiterklasse werden hochkommen. Unter solchen Umständen wird die Regierung MacDonald früher oder später in Zusammenhang mit den Kräfteverhältnissen außerhalb des Parlaments ihren Platz entweder der konservativen Regierung mit faschistischen und nichtkompromisslerischen Tendenzen oder einer Revolutionsregierung räumen müssen, die fähig ist, das Werk zu Ende zu führen. In beiden Fällen ist ein neuer Ausbruch des Bürgerkrieges, ein scharfer Zusammenstoß der Klassen auf der ganzen Linie unausbleiblich. Im Falle des Sieges der Konservativen: unbarmherzige Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen; im Falle des Sieges des Proletariats: die Niederringung des Widerstandes der Ausbeuter durch Maßnahmen der revolutionären Diktatur. Es gefällt euch nicht, Mylords? Wir können es nicht ändern. Die eigentlichsten Triebkräfte der Bewegung sind von uns so wenig abhängig wie von euch. Wir „dekretieren" nicht. Wir analysieren nur.

Zwischen den „Linken", diesen Halbanhängern und Halbgegnern MacDonalds, die, wie er, auf demokratischem Boden stehen, werden manche wahrscheinlich sagen: Wenn die Bourgeoisie versuchen wird, der demokratisch gewählten Arbeiterregierung Widerstand zu leisten, wird die Arbeiterregierung selbstverständlich nicht vor strengsten Zwangsmaßnahmen zurückschrecken, aber da wird es sich um keine Klassendiktatur handeln, sondern um die Macht des demokratischen Staates, der … usw. usw. Es ist beinahe zwecklos, einen Streit um solche Argumente auszufechten. Sollte man sich darüber Gedanken machen, ob das Schicksal der Gesellschaft dadurch entschieden werden kann, dass in das Parlament 307 Arbeiterdeputierte, d. h. eine Minderheit, oder 308, d. h. eine Mehrheit, gewählt sind und nicht durch das tatsächliche Kräfteverhältnis im Augenblick des scharfen Zusammenstoßes der Klassen in den Grundfragen ihrer Existenz, so hieße das, sich in völlige Gefangenschaft des Fetischismus der Parlamentsarithmetik zu begeben. Und was soll man tun – fragen wir – wenn die Konservativen angesichts der wachsenden Revolutionsflut und der Gefahr einer Arbeiterregierung nicht nur die Demokratisierung des Wahlsystems verweigern, sondern umgekehrt neue Begrenzungen einführen? Undenkbar! wird irgendein Tor erwidern, der nicht versteht, dass dort, wo es um Leben und Tod der Klassen geht, alles möglich ist. Aber schon jetzt ist in den führenden Kreisen Englands eine starke Bewegung im Gang, um das Oberhaus zu reorganisieren und ihm eine größere Macht zu verschaffen. Aus diesem Anlass erklärte MacDonald unlängst, dass er die Sorgen mancher besorgten konservativen Lords verstehen könne, „aber weshalb sich die Gedanken der Liberalen in derselben Richtung bewegen, kann ich nicht verstehen". Der Weise kann nicht verstehen, weshalb die Liberalen die zweite Schützengrabenlinie gegen eine Offensive der Arbeiterklasse befestigen. Er versteht es deshalb nicht, weil er selbst ein Liberaler ist, allerdings nur ein sehr provinzieller, kleiner, beschränkter Liberaler. Er versteht nicht, dass es der Bourgeoisie bitter ernst ist, dass sie sich auf einen Todeskampf vorbereitet, und dass in diesem Kampf die Krone und das Oberhaus eine hervorragende Rolle spielen werden. Durch Kürzung der Rechte des Unterhauses, d. h. durch einen legalen Staatsstreich, werden die Konservativen, ungeachtet aller Schwierigkeiten dieses Unternehmens, eine günstigere Position besetzen, als wenn sie gezwungen wären, den Widerstand gegen eine Arbeiterregierung zu organisieren, der es bereits gelang, sich zu befestigen. Also in diesem Falle werden wir – wird mancher „linker" Schönschwätzer ausrufen – die Massen zum Widerstand aufrufen. Das heißt, zur Anwendung der revolutionären Gewalt? Folgt daraus, dass die revolutionäre Gewalt nicht nur zulässig, sondern auch in dem Falle unausbleiblich ist, wenn die Konservativen auf dem legalsten Parlamentswege einen Präventivstaatsstreich ausführen? Ist es nicht einfacher, dann zu sagen, dass die Revolutionsgewalt auch in dem Falle zweckmäßig ist, wenn sie die Positionen des Proletariats stärkt, den Feind schwächt oder zurückwirft, die sozialistische Entwicklung der Gesellschaft beschleunigt?

Jedoch sind die heldenhaften Versprechungen, einen raschen Widerstand zu leisten, kein ausgeblasenes Ei wert, wenn die Konservativen sich „erdreisten" usw. Man kann nicht die Massen von Tag zu Tag durch Geschwätz über den friedlichen, schmerzlosen, legalen, parlamentarischen und demokratischen Übergang zum Sozialismus einlullen und dann beim ersten ernsten Nasenstüber die Massen zum bewaffneten Widerstand aufrufen. Es wäre der sicherste Weg, der Reaktion die Zertrümmerung des Proletariats zu erleichtern. Um fähig zu sein, revolutionären Widerstand zu leisten, müssen die Massen ideell, organisatorisch und materiell vorbereitet sein. Sie müssen verstehen, dass in einer gewissen Etappe die Verschärfung des Klassenkampfes und seine Umwandlung in den Bürgerkrieg unvermeidlich ist. Die politische Erziehung der Arbeiterklasse und die Auswahl ihrer Führerschaft müssen solchen Gesichtspunkten gewachsen sein. Man muss tagtäglich gegen die Kompromissillusionen kämpfen, d. h., man muss den MacDonalds den Krieg auf Leben und Tod erklären. So und nur so steht jetzt die Frage.

Wenn man eine ganze Reihe konkreter Bedingungen übergeht, kann man vielleicht sagen, dass MacDonald früher eine Chance hatte, den Übergang zum Sozialismus außerordentlich zu erleichtern, die Erschütterungen des Bürgerkrieges auf ein Minimum zu reduzieren – und zwar in jener Zeit, als die Arbeiterpartei zum ersten Mal zur Regierung kam. Hätte MacDonald das Parlament Angesicht in Angesicht vor ein entscheidendes Programm (Beseitigung der Monarchie und des Oberhauses, hohe Kapitalsteuern, Nationalisierung der wichtigsten Produktionszweige usw.) gestellt und nach der Auflösung des Parlaments an die revolutionäre Entschlossenheit des Landes appelliert, so hätte vielleicht die Aussicht bestanden, die besitzende Klasse bis zu einem gewissen Grade zu überrumpeln, ihr nicht zu gestatten, Kräfte zu sammeln, sie durch den Anprall der Arbeitermassen zu zerschmettern und sich des Staatsapparates zu bemächtigen und ihn zu erneuern, bevor sich der britische Faschismus gebildet hätte, und so wäre es möglich gewesen, die Revolution durch die Parlamentstore einziehen zu lassen, sie zu „legalisieren" und mit starker Hand bis zum vollen Siege zu führen. Aber ganz offensichtlich ist eine solche Möglichkeit reine Theorie. Dazu gehört eine andere Partei mit anderen Führern, und sie wiederum setzt eine völlig andere Lage voraus. Wenn wir diese theoretische Möglichkeit in der Vergangenheit konstruieren, geschieht es nur deshalb, um ihre Unmöglichkeit in der Zukunft noch krasser zu offenbaren. Das erste Experiment der Arbeiterregierung verriet zwar vollendete Taktlosigkeit und Feigheit, war aber eine ernste geschichtliche Warnung für die herrschenden Klassen. Man wird sie nicht mehr überrumpeln können. Sie beobachten jetzt mit zehnfacher Wachsamkeit das Treiben der Arbeiterklasse, ihre Entwicklung, ihre Umwandlung. „Wir werden auf keinen Fall den ersten Schuss abgeben", erklärte scheinbar völlig wie aus heiterem Himmel der humane, fromme, christliche Baldwin in seiner Parlamentsrede am 5. März. Und auf den Bänken der Arbeiterfraktion fanden sich Narren, die diese Worte mit Beifall begrüßten. Baldwin zweifelt keinen Augenblick daran, dass man wird schießen müssen. Er will nur schon jetzt die Verantwortung für den kommenden Bürgerkrieg, wenigstens in den Augen der Zwischenklassen, auf den Feind, d. h. die Arbeiter, abwälzen. Genau so bemüht sich die Diplomatie jedes Landes für den Fall eines kommenden Krieges schon im Voraus, die Gegenpartei verantwortlich zu machen. Gewiss, auch die proletarische Partei ist daran interessiert, dass die Verantwortung für den Bürgerkrieg den kapitalistischen führenden Kreisen zugeschoben wird, und letzten Endes hat und wird die Arbeiterpartei ausschlaggebendere politische und moralische Begründungen dafür haben. Man kann annehmen, dass der Attentatsversuch der Konservativen gegen das Unterhaus eines der „dankbaren" Agitationsmotive wäre, aber es ist zuletzt eine Angelegenheit dritter oder fünfter Ordnung. Wir untersuchen hier nicht die Frage der Anlässe zu einem revolutionären Zusammenstoß, sondern die Frage der Maßnahmen zur Eroberung des Staates mit dem Ziele des Überganges zum Sozialismus. Das Parlament sichert keineswegs einen friedlichen Übergang. Die revolutionäre Klassengewalt ist notwendig und unvermeidlich. Man muss aber Vorbereitungen treffen und selbst in steter Bereitschaft sein. Man muss die Massen revolutionär erziehen und stählen. Die erste Bedingung ist der unversöhnliche Kampf gegen den zersetzenden Geist des MacDonaldtums.

Am 25. März 1925 beschloss eine Kommission des Oberhauses in feierlichster Form, dass der Titel des Herzogs von Somerset an einen gewissen Mr. Seymour übergehen müsse, der nun fortan berechtigt ist, im Oberhause als Gesetzgeber aufzutreten; diese Entscheidung zugunsten Seymours hing von einer Reihe verschiedener Umstände ab: Wann hat im Jahre 1787 ein gewisser Oberst Seymour geheiratet, um nach vielen Generationen Großbritannien einen neuen Lord zu geben? Lebte in Kalkutta der erste Mann seiner Frau oder ist er bereits verstorben? Wir sehen – eine Frage von außerordentlicher Wichtigkeit für das Schicksal der englischen Demokratie. Und in derselben Nummer des „Daily Herald", in der diese lehrreiche Episode vom ersten Manne der Frau des Ahnen des Gesetzgebers Seymour aufgetischt wird, verteidigt sich die Zeitung gegen die Anklage, sie strebe nach der Einführung einer Sowjetwirtschaft in England. Nein, nein, wir sind nur für den Handel mit den Sowjets, auf keinen Fall sind wir für eine Sowjetwirtschaft in England!

Wir gestatten uns die Frage: Welche schlimmen Folgen brächte eine Sowjetwirtschaft für die englische Technik, die englische Industrie, die kulturellen Errungenschaften der englischen Arbeiterklasse, wenn sie sich ihr angepasst hätte? Der „Daily Herald" mag einmal nachdenken, welche Folgen die Einführung des Sowjetregimes in Großbritannien haben würde. Erstens wäre die königliche Macht annulliert, und Mrs. Snowden brauchte nicht mehr über die ihre Kräfte übersteigende Arbeit der Mitglieder der königlichen Familie zu trauern. Zweitens wäre das Oberhaus abgeschafft, in dem die Herren Seymours als Gesetzgeber auftreten kraft eines Mandats, das ihnen nur deshalb verliehen wurde, weil der erste Mann ihrer Ururgroßmutter in Kalkutta rechtzeitig verstarb. Drittens wäre das jetzige Parlament liquidiert, über dessen Verlogenheit und Ohnmacht sich sogar der „Daily Herald" fast täglich auslässt. Das Grundbesitzerparasitentum der Landlords wäre für immer vernichtet; die hauptsächlichsten Zweige der Industrie wären in die Hände der Arbeiterklasse übergegangen, die in England die überwältigende Volksmehrheit darstellt. Die mächtigen Apparate der konservativen und liberalen Zeitungen und Verlage könnten für die Aufklärung der Arbeiterklasse ausgenutzt werden. „Gebt mir nur für einen Monat die Diktatur über Fleet Street, und ich werde die Hypnose vernichten!" rief im Jahre 1920 Robert Williams aus.

Williams selbst ist auf die andere Seite der Barrikade gegangen, aber Fleet Street wartet noch immer auf die proletarische Faust … Die Arbeiter hätten ihre Vertreter nicht in jenen betrügerisch abgegrenzten Wahlkreisen gewählt, sondern auf den Werften und Fabriken. Die Arbeiterräte hätten den Regierungsapparat von Grund auf erneuert. Die Privilegien der Geburt und des Reichtums wären gleichzeitig mit der verfälschten Demokratie, die von den Banken ausgehalten wird, verschwunden. Es wäre eine echte Arbeiterdemokratie zur Herrschaft gekommen, die die Verwaltung der Wirtschaft mit der politischen Verwaltung des Landes vereinigt hätte. Eine solche Regierung, die sich zum ersten Male in der Geschichte Englands tatsächlich auf das Volk gestützt hätte, hätte freie, gleichberechtigte und brüderliche Beziehungen mit Indien, Ägypten und anderen bisherigen Kolonien angeknüpft. Sie hätte sofort ein starkes politisches und militärisches Bündnis mit dem Russland der Arbeiter und Bauern geschlossen. Die Auswirkungen eines solchen Bündnisses könnte man für mehrere Jahre berechnen. Die wirtschaftlichen Pläne beider Länder wären auf den entsprechenden Gebieten für eine ganze Reihe von Jahren in Einklang gebracht worden. Der Austausch der Güter, Produkte und Hilfeleistungen zwischen den Ländern, die einen Ausgleich untereinander schaffen könnten, hätte den materiellen und geistigen Wohlstand der Massen Englands wie Russlands auf eine nie erreichte Höhe gehoben. Wäre eine solche Entwicklung denn so schlecht? Und deshalb muss man sich gegen die Anklage verteidigen, man strebe nach Einführung einer Sowjetwirtschaft in England? Durch ihre Terrorisierung der öffentlichen Meinung will die Bourgeoisie den Arbeitern die rettende Angst vor dem Versuch einflößen, das gegenwärtige britische Regime anzugreifen; die Arbeiterpresse passt sich feige den Umtrieben der Bourgeoisie an und unterstützt sie, anstatt die Politik der reaktionären Hypnose unbarmherzig zu entlarven. Das ist eben das Mac Donaldtum.

Sowohl die englischen wie auch die kontinentalen Opportunisten haben nicht nur einmal gesagt, dass die Bolschewisten zur Diktatur nur durch die Logik ihrer Lage und in Widerspruch mit all ihren Prinzipien kamen. Von diesem Standpunkt wäre es höchst lehrreich, die Evolution des marxistischen und allgemein-revolutionären Gedankens in der Frage der Demokratie zu betrachten. Wir müssen uns hier mit zwei flüchtigen Zeugnissen begnügen. Schon im Jahre 1887 hat Lafargue, der nächste Schüler Marx', der durch enge persönliche Beziehungen mit ihm verbunden war, mit folgenden Worten den allgemeinen Gang der Revolution in Frankreich geschildert: „Die Arbeiterklasse wird in den Industriestädten herrschen, die sämtlich zu Revolutionszentren werden und eine Föderation bilden, um das Dorf zur Revolutionspartei hinüber zu führen und den Widerstand zu überwinden, der in Handels- und Seestädten wie Le Havre, Bordeaux, Marseille usw. organisiert werden wird. In den Industriestädten werden die Sozialisten gezwungen sein, die Macht in den örtlichen Institutionen zu erobern, die Arbeiter zu bewaffnen und militärisch zu organisieren; wer die Waffen hat, hat das Brot, sagte Blanqui. Sie werden die Gefängnistüren öffnen, um die kleinen Diebe herauszulassen und die großen Diebe, die Bankiers, die Kapitalisten, die Großindustriellen, die Großgrundbesitzer usw. einzusperren. Ihnen wird nichts geschehen, aber sie werden als Geiseln betrachtet und für die gute Führung ihrer Klasse verantwortlich gemacht werden. Die revolutionäre Macht wird durch einfache Machtergreifung legalisiert, und nur dann, wenn die neue Macht die Situation vollständig beherrschen wird, werden sich die Sozialisten ihre Maßnahmen durch eine sog. allgemeine Abstimmung bestätigen lassen. Die Bourgeoisie hat die besitzlosen Klassen so lange nicht an die Wahlurne herangelassen, dass sie sich nicht zu sehr wundern sollte, wenn alle ehemaligen Kapitalisten ihrer Wahlrechte bis zum Siege der Revolutionspartei beraubt sein sollten."

Das Schicksal der Revolution wird für Lafargue nicht durch einen Appell an irgendeine Konstituante, sondern durch die revolutionäre Organisation der Massen im Verlaufe des Kampfes mit dem Feinde entschieden: „Sobald die örtlichen Revolutionsinstitutionen geschaffen sind, müssen sie durch die Bildung von Delegationen oder auf anderem Wege die Zentralgewalt organisieren, der die Pflicht obliegt, allgemeine Maßnahmen im Interesse der Revolution zu ergreifen und die Bildung der Reaktionspartei zu verhindern."

Natürlich – diese Zeilen enthalten noch keine feste Formulierung des Sowjetsystems, das überhaupt kein Prinzip a priori, sondern ein reales Ergebnis der Revolutionserfahrungen ist. Jedoch ist das System einer Zusammensetzung der revolutionären Zentralgewalt durch Delegierung seitens örtlicher Revolutionsorgane, die den Kampf mit der Reaktion führen, ideell nahe verwandt mit dem Sowjetsystem. Und der formalen Demokratie gegenüber spricht sich jedenfalls Lafargue mit bemerkenswerter Klarheit aus. Die Arbeiterklasse kann die Macht nur auf dem Wege revolutionärer Eroberung erringen. „Die sog. ,allgemeine Abstimmung'," sagt ironisch Lafargue, „kann nur nach Eroberung des Staatsapparates durch das Proletariat eingeführt werden." Aber auch dann sollen die Bürgerlichen des Wahlrechtes beraubt sein und die Großkapitalisten die Rolle von Geiseln übernehmen. Für jeden, dem der Charakter der Beziehungen Lafargues zu Marx bekannt ist, ist es nicht zweifelhaft, dass Lafargue seine Aufzeichnungen über die Diktatur des Proletariates auf Grund verschiedener Aussprachen mit Marx niederschrieb. Wenn Marx selbst sich nicht lange damit aufhält, diese Fragen zu klären, geschah es natürlich nur deshalb, weil der Charakter der revolutionären Klassendiktatur für ihn ganz selbstverständlich war. Jedenfalls hinterlassen Marx' Ausführungen, nicht nur in den Jahren 1848-1849, sondern auch im Jahre 1871 anlässlich der Pariser Kommune, keinen Zweifel darüber, dass Lafargue nur Gedanken von Marx entwickelt hat.

Aber nicht nur Lafargue war für die Klassendiktatur im Gegensatz zur Demokratie. Diese Idee wurde in aller Bestimmtheit bereits vom Chartismus formuliert. Im Organ „Poor Man's Guardian" wurde anlässlich der Auseinandersetzungen über die damals geforderte Reform des Wahlrechtes folgende „einzig richtige Reform" vorgeschlagen: „Das Volk, das die Güter erzeugt, soll auch die Gesetze machen."A

Hier ruht auch die Bedeutung des Chartismus, die gesamte Entwicklung des Klassenkampfes wurde gleichsam in diesem Jahrzehnt vorausgeahnt. Später hat die Bewegung viele Positionen verloren. Sie hat ihre Basis verbreitert und Erfahrungen gesammelt. Auf der neuen, höheren Grundlage wird sie notwendig viele Gedanken und Methoden des Chartismus wieder aufnehmen.

1 Vor dem Ersten Weltkrieg beschloss das britische Parlament Autonomie (Home Rule) für Irland. In Ulster wurden paramilitärische Verbände aufgestellt, um das zu verhindern. Nach dem Beginn des Weltkriegs wurde die Umsetzung des Gesetzes vertagt, nach dem Krieg kam es stattdessen zur Teilung Irlands.

A M. Beer, Geschichte des Sozialismus in England. Stuttgart 1913. S. 244.

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