VI. Zwei Traditionen: Die Revolution des XVII. Jahrhunderts und des Chartismus

VI. Zwei Traditionen: Die Revolution des XVII. Jahrhunderts und der Chartismus

Der Chefredakteur des „Daily Herald" hat jüngst seinem Zweifel Ausdruck gegeben, ob man in Oliver Cromwell „einen Pionier der Arbeiterbewegung" sehen dürfe. Ein Mitarbeiter jener Zeitung hat die Zweifel des Redakteurs bestärkt, indem er sich auf die grausame Abrechnung mit den Levellers, der damaligen „Gleichmachersekte" (Kommunisten), durch Cromwell beruft. Diese Betrachtungen und Äußerungen sind äußerst charakteristisch für die historische Denkart der Führer der Arbeiterpartei. Um zu beweisen, dass Oliver Cromwell ein Pionier der bürgerlichen und nicht der sozialistischen Gesellschaft war, sollte man, scheint es, nicht einmal zwei Worte verlieren. Dieser große revolutionäre Bourgeois war ein Gegner des allgemeinen Wahlrechtes, denn er sah in ihm eine Gefahr für das Privateigentum. Daraus ziehen – beiläufig – die Herren Webb den Schluss, die Demokratie „vertrage" sich nicht mit dem Kapitalismus. Dabei schließen sie die Augen vor der Tatsache, dass der Kapitalismus gelernt hat, sehr gut mit der Demokratie zusammen zu leben und das Instrument des allgemeinen Wahlrechtes genau so zu behandeln wie das Instrument der Börse.A Trotzdem können die englischen Arbeiter von Cromwell unvergleichlich mehr lernen als von MacDonald, Snowden, Webb und der übrigen kompromisslerischen Gesellschaft. Cromwell war der große Revolutionär seiner Zeit und verstand, da er vor nichts zurückschreckte, die Interessen der neuen bürgerlichen Gesellschaft gegen die alte aristokratische zu verteidigen. Hier muss man von ihm lernen, und in dieser Beziehung steht der tote Löwe des 17. Jahrhunderts unvergleichlich höher als viele lebende Hunde.

In den Spuren der lebenden Nicht-Löwen, die im „Manchester Guardian" und anderen liberalen Organen Leitartikel schreiben, stellen die Führer der Arbeiterpartei im Allgemeinen die Demokratie den verschiedenen despotischen Regierungen gegenüber, ganz gleich, ob es die „Lenindiktatur" oder die „Mussolinidiktatur" ist. Nirgends offenbart sich die geschichtliche Gedankenlosigkeit dieser Herren klarer als in dieser Gegenüberstellung. Nicht deshalb, als ob wir geneigt wären, rückwirkend die „Lenindiktatur" zu verneinen – nach dem faktischen Einfluss auf die Entwicklung aller Vorgänge des gewaltigen Reiches besaß sie eine außerordentliche Macht. Aber kann man denn über eine Diktatur sprechen und ihren gesellschaftlich-historischen Inhalt übergehen? Die Geschichte hat die Diktatur Cromwells gekannt, die Diktatur Robespierres, die Diktatur Araktschejews1, die Diktatur Napoleons I., die Diktatur Mussolinis. Mit einem beschränkten Hirn, das Robespierre und Araktschejew auf eine Stufe setzt, kann man überhaupt nicht diskutieren. Verschiedene Klassen unter verschiedenen Bedingungen, mit verschiedenen Aufgaben, sind gezwungen, in gewissen, dabei entscheidendsten und verantwortlichsten Perioden ihrer Geschichte den Führern außerordentliche Gewalt und Macht zu verleihen, die am vollkommensten und klarsten in dieser Epoche ihre Grundinteressen verwirklichen. Wenn man von einer Diktatur spricht, muss man vor allem feststellen, welche Interessen, welche Klassen in dieser Diktatur ihren geschichtlichen Ausdruck finden. Oliver Cromwell in der einen Epoche, Robespierre in der anderen, repräsentierten die historisch-fortschrittlichen Tendenzen der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. William Pitt, dessen Ministerschaft auch einer Personaldiktatur sehr nahe kam, hat die Interessen der Monarchie, der privilegierten Klassen, der führenden Kreise der Bourgeoisie gegen die Revolution der Kleinbourgeoisie verteidigt, die ihren höchsten Ausdruck in der Robespierrediktatur fand. Die liberalen Spießer sagen gewöhnlich, sie wären sowohl gegen eine Links- als gegen eine Rechtsdiktatur, obwohl sie in der Praxis keine Möglichkeit vorüber gehen lassen, eine Rechtsdiktatur zu unterstützen. Für uns wird die Frage dadurch entschieden, dass die eine Diktatur die Gesellschaft vorwärts treibt, die andere aber sie zurückschlägt. Die Mussolinidiktatur ist die Diktatur der vorzeitig verfaulten, kraftlosen, bis ins Mark angefressenen italienischen Bourgeoisie: sie ist die Diktatur mit der faulenden Nase. Die „Lenindiktatur" offenbart den gewaltigen Druck einer neuen geschichtlichen Klasse und ihren übermenschlichen Kampf mit allen Kräften der alten Gesellschaft. Lenin kann man weder Bonaparte noch weniger Mussolini gegenüberstellen, sondern nur Cromwell und Robespierre. Mit einer gewissen Berechtigung kann man sagen, dass Lenin der proletarische Cromwell des 20. Jahrhunderts ist. Eine solche Definition ist gleichzeitig die größte Apologie des kleinbürgerlichen Cromwell des 17. Jahrhunderts.

Die französische Bourgeoisie fälschte die große Revolution, adoptierte sie und wechselte sie in Scheidemünzen um, die sie in den täglichen Verkehr brachte. Die englische Bourgeoisie hat selbst das Andenken der Revolution des 17. Jahrhunderts vernichtet, indem sie ihre ganze Vergangenheit im Begriff der „Gradation" auflöst. Die führenden englischen Arbeiter müssen die britische Revolution entdecken und in der religiösen Schale den Kern, den mächtigen Kampf der gesellschaftlichen Kräfte finden. Cromwell war keineswegs ein „Pionier der Arbeiter". Aber im Drama des 17. Jahrhunderts begegnet das englische Proletariat großen Vorbildern der revolutionären Aktion. Die Arbeiterklasse findet hier auch eine nationale Tradition, aber eine natürliche und angebrachte. Die zweite große nationale Tradition besitzt die proletarische Bewegung im Chartismus. Die Kenntnis dieser beiden Epochen ist für jeden klassenbewussten englischen Arbeiter notwendig. Das Verständnis für den historischen Sinn der Revolution des 17. Jahrhunderts und des revolutionären Gehalts des Chartismus ist eine der größten Pflichten der englischen Marxisten.

Man muss das revolutionäre Zeitalter in der Entwicklung Englands etwa von der Zwangseinberufung des Parlaments durch Karl Stuart bis zum Tode Oliver Cromwells vornehmlich deshalb studieren, um die Bedeutung des Parlamentarismus und des „Rechts" in der wirklichen und nicht in der erdichteten Geschichte zu begreifen. Der „große" nationale Historiker Macaulay versimpelt das soziale Drama des 17. Jahrhunderts, indem er über den inneren Kampf in zuweilen interessanten, aber stets oberflächlichen Allgemeinplätzen hinwegredet. Etwas ernster betrachtet der französische Konservative Guizot jene Vorgänge. Einerlei – wessen Darstellung man auch liest, jedermann, der lesen kann und hinter den historischen Schatten wirkliche lebendige Körper, Klassen und Fraktionen zu entdecken vermag, muss gerade aus den Erfahrungen der englischen Revolution die Überzeugung gewinnen, dass das Recht in der Mechanik des gesellschaftlichen Kampfes eine untergeordnete bedingte Hilfsrolle spielt, besonders im revolutionären Zeitalter, d. h., wenn an erste Stelle die Lebensinteressen der Hauptklassen der Gesellschaft rücken.

Wir sehen in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts in England ein Parlament, das auf dem kuriosesten Wahlrecht aufgebaut ist, gleichzeitig aber als Volksvertretung gilt.

Das Unterhaus vertrat die Nation, indem es die Bourgeoisie und so das Volksvermögen vertrat. Während der Herrschaft Karls I. wurde nicht ohne Staunen festgestellt, dass das Unterhaus dreimal so reich wäre als das Oberhaus. Der König treibt dieses Parlament auseinander und beruft es unter dem Druck der Finanznöte wieder ein. Das Parlament bildet zu seinem Schutz eine Armee. Die Armee umfasst allmählich die aktivsten, tapfersten und entschlossensten Elemente. Eben deshalb kapituliert das Parlament vor der Armee. Wir sagen: Eben deshalb. Wir wollen damit sagen, dass das Parlament nicht einfach vor der bewaffneten Macht kapituliert hat (vor der königlichen Armee hat es nicht kapituliert), sondern vor der puritanischen Armee Cromwells, die tapferer, entschlossener und konsequenter als das Parlament die Forderungen der Revolution zum Ausdruck brachte.

Die Anhänger der bischöflichen oder anglikanischen, halbkatholischen Kirche verkörperten die Partei des Hofes, des Adels und natürlich der hohen Geistlichkeit. Die Presbyterianer waren die Partei der Bourgeoisie, die Partei des Reichtums und der Aufklärung. Die Independenten und besonders die Puritaner verkörperten die Partei der Kleinbourgeoisie und des kleinen selbständigen Grundbesitzes. Die Levellers waren die in Entstehung begriffene Partei des linken .Flügels der Kleinbourgeoisie, der Plebs. Vor den Kulissen des kirchlichen Streites, in der Form des Kampfes für den religiösen Aufbau der Kirche vollzog sich der Prozess der gesellschaftlichen Selbstbestimmung der Klassen, ihre Umgruppierung auf neuen, bürgerlichen Grundlagen. In der Politik war die Presbyterianerpartei für die begrenzte Monarchie, die Independenten, die dann Grundreformatoren genannt wurden (Root and branch men) oder in der Sprache unserer Zeit, die Radikalen, waren für die Republik. Die Halbheit der Presbyterianer entsprach vollkommen den widerspruchsvollen Interessen der Bourgeoisie – zwischen dem Adel und der Plebs. Die Independentenpartei, die den Mut besaß, ihre Gedanken und Losungen bis ans Ende zu führen, hat natürlich die Presbyterianer unter den erwachten kleinbürgerlichen Massen der Städte und des Dorfes verdrängt, die die Hauptkräfte der Revolution repräsentierten.

Die Ereignisse haben sich empirisch entwickelt. Im Kampf um die Macht und die Eigentumsinteressen versteckte sich die eine und die andere Partei hinter die Gesetzlichkeit. Darüber schreibt gar nicht so schlecht Guizot:

Dann entspann sich zwischen Karl I. und dem Parlament ein bis dahin in Europa beispielloser Kampf. Die Unterhandlungen dauerten fort, aber ohne dass die eine oder die andere Partei etwas davon gehofft oder sich auch nur vorgenommen hätte, einen Frieden abzuschließen. Sie wandten sich in ihren Botschaften und Erklärungen nicht mehr an einander, sondern beide an die ganze Nation, an die öffentliche Meinung; von dieser neuen Macht schien jede ihre Kraft und ihren Sieg zu erwarten. Der Ursprung und die Ausdehnung der königlichen Macht, die Privilegien der Kammern, die Grenzen der Untertanenpflichten, die Miliz, die Petitionen, die Verfügung über die Ämter wurden zu Gegenständen eines offiziellen Streites, in dessen Verlauf die allgemeinen Grundsätze des Staates, die verschiedenartige Natur der Regierungen, die Urrechte der Freiheit, die Geschichte, die Gesetze und Sitten Englands abwechselnd zitiert, erläutert und kommentiert wurden. Mehrere Monate lang sah man sich die Wissenschaft und Vernunft zwischen die Debatten der beiden Parteien im Schoße der Kammern und ihre Begegnung mit bewaffneter Hand auf dem Schlachtfeld drängen, sozusagen den Lauf der Ereignisse aufhalten und alle ihre Fähigkeiten aufbieten, um dieser oder einer anderen Sache den Charakter der Rechtmäßigkeit aufzuprägen und dadurch die freie Zustimmung des Volkes zu erlangen. Als der Augenblick kam, in dem das Schwert entblößt wurde, waren alle erstaunt und bewegt. Jetzt klagten sich beide Parteien gegenseitig der Ungesetzlichkeit und Neuerungssucht an, und alle beide mit Recht, denn die eine Partei hatte die alten Rechte des Landes verletzt und wollte nicht auf die Prinzipien der Tyrannei verzichten, während die andere infolge noch unklarer Prinzipien bisher unbekannte Freiheiten und Gewalt forderte".2

In dem Maße, wie sich der Bürgerkrieg entwickelte, haben die aktivsten Royalisten das Westminsterparlament und das Oberhaus verlassen und sind in das Hauptquartier Karls nach York geflüchtet. Das Parlament spaltete sich wie in allen großen Revolutionsepochen. Ob in diesem oder einem anderen Falle die „legale" Mehrheit auf Seiten der Revolution oder auf Seiten der Reaktion ist, ist in solchen Situationen nicht die entscheidende Frage.

In einem gewissen Augenblick der politischen Geschichte hing das Schicksal der „Demokratie" nicht vom Parlament ab, sondern – wie schrecklich es auch für die skrofulösen Pazifisten ist – von der Kavallerie. In der ersten Periode des Kampfes hat die königliche Kavallerie, der bedeutendste Teil des Heeres in jener Zeit, Todesschrecken in der Kavallerie des Parlaments verbreitet. Es ist merkwürdig, dass wir demselben Phänomen auch in den späteren Revolutionen begegnen, besonders in den Vereinigten Staaten Nordamerikas, in denen die Kavallerie der Südstaaten in der ersten Periode ein unbestrittenes Übergewicht über die Kavallerie der Nordstaaten besaß, und endlich in unserer Revolution, wo in der ersten Zeit die weißgardistischen Kavalleristen uns eine Reihe harter Schläge versetzten, bevor die Arbeiter lernten, fest im Sattel zu sitzen. Ihrer Entstehung nach ist die Kavallerie die adligste Waffengattung. Die königliche Kavallerie war weit fester gefügt und ging stürmischer vor als die Parlamentsreiter, die in Hast aus verschiedenen Elementen rekrutiert wurden. Die Kavallerie der Südstaaten war gewissermaßen die angeborene Waffengattung des Plantagenbesitzers und Steppenmenschen, während der handelsindustrielle Norden sich erst an das Pferd gewöhnen musste. Endlich war bei uns das Heimatland der Reiterei, die südöstliche Steppe, die Kosakenvendée. Cromwell hat sehr rasch verstanden, dass das Schicksal seiner Klasse durch die Reiterei entschieden wird. Er sagte Hampden: „Ich werde Leute ausheben, die die Furcht Gottes vor Augen haben, und zu dem, was sie tun, ein Gewissen mitbringen, und ich bürge Euch dafür, dass sie sich nicht schlagen lassen werden."3 Sehr interessant sind auch die Worte, mit denen sich Cromwell an die von ihm rekrutierten freien Grundbesitzer und Gewerbetreibende wandte: „Ich will Euch nicht täuschen und glauben machen, wie meine Bestallung sagt, dass Ihr für den König und das Parlament kämpfen werdet. Wenn sich der König mir gegenüber befände, so würde ich gerade wie auf jeden andern meine Pistole nach ihm abfeuern; wenn Euch Euer Gewissen das nicht gestattet, so geht hin und dient einem anderen."4 So hat Cromwell nicht nur die Armee aufgebaut, sondern auch die Partei, – seine Armee war bis zu einem gewissen Grade eine bewaffnete Partei, und eben darin bestand ihre Kraft. Im Jahre 1644 erfochten die „heiligen" Schwadronen Cromwells bereits einen glänzenden Sieg über die königlichen Reiter und erhielten den Namen „Eisenseiten". Für die Revolution ist es immer nützlich, wenn sie über solche „Eisenseiten" verfügen kann. In dieser Beziehung können die englischen Arbeiter viel von Cromwell lernen.

Nicht ohne Interesse sind die Betrachtungen des Historikers Macaulay über die Armee der Puritaner: „Einer so zusammengesetzten bewaffneten Macht konnten ohne Gefahr für ihre Brauchbarkeit einige Freiheiten gewährt werden, die, wenn man sie anderen Truppen gewährt hätte, jede Disziplin untergraben hätten. Im allgemeinen werden Soldaten, die politische Klubs bilden, Abgeordnete wählen und über wichtige Staatsfragen Beschlüsse fassen, sich bald von jeder Kontrolle befreien, aufhören, eine Armee zu bilden, sich vielmehr in schlimmsten und gefährlichsten Banden zusammenrotten. Und es wäre in unserer Zeit nicht ungefährlich, in einem Regiment religiöse Versammlungen zu dulden, in denen ein Unteroffizier, der in der Heiligen Schrift bewandert ist, seinen weniger begabten Oberst belehrt und dem glaubensketzerischen Major ins Gewissen geredet hätte. Aber der Verstand, der Ernst und die Selbstbeherrschung der Krieger, die Cromwell heranzog waren derart, dass in ihrem Lager eine politische und religiöse Organisation herrschen konnte, ohne die militärische Disziplin zu verletzen. Dieselben Männer, die außer dem Dienste als DemagogenB und Feldprediger bekannt waren, zeichneten sich durch Tapferkeit, Ordnungssinn und widerspruchslosen Gehorsam auf Wache, auf dem Exerzierplatz und dem Schlachtfelde aus." Ferner: „Nur in seinem Lager fand man die strengste Disziplin, mit dem ungestümsten Enthusiasmus vereinigt Seine Soldaten gingen in die Schlacht mit der Präzision von Maschinen während in ihrer Brust der ungezügelte Fanatismus der Kreuzfahrer loderte5)."

Alle geschichtlichen Analogien gebieten größte Vorsicht besonders, sobald es sich um die Analogie zwischen dem 17.und 20. Jahrhundert handelt. Trotzdem wird man durch einige prägnante Züge, die das Leben und den Charakter der Armee Cromwells dem Charakter der Roten Armee nahebringen, überrascht. Gewiss, dort gründete sich alles auf den Glauben an die Prädestinationslehre und auf strenge religiöse Moral; bei uns herrscht der Kampfatheismus. Aber m der religiösen Form des Puritanismus wurde die Predigt der geschichtlichen Mission einer neuen Klasse verkündet, und die Prädestinationslehre war nur der Weg über die Religion, dem Problem der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit näherzukommen. Die Streiter Cromwells haben sich zuerst als Puritaner, dann erst als Soldaten gefühlt, wie unsere Kämpfer sich zuerst als Revolutionäre und Kommunisten betrachten, dann erst als Soldaten. Aber die Züge durch die sie sich unterscheiden, überwiegen die Züge, in denen sie sich ähneln. Die von der Partei des Proletariats gebildete Rote Armee bleibt ihr bewaffnetes Organ. Die Armee Cromwells, die seine Partei in sich einschloss, wurde selbst eine ausschlaggebende Macht. Wir sehen, wie die Armee der Puritaner aus dem Parlament ein Werkzeug für sich selbst und die Revolution macht. Die Armee erzwingt den Ausschluss der 11 Presbyterianer aus dem Parlament d. h. der Vertreter des rechten Flügels. Die Presbyterianer, die Girondisten der englischen Revolution, versuchen wider das Parlament aufsässig zu werden. Das Rumpfparlament sucht Rettung bei der Armee und unterwirft sich ihr seit diesem Schritte mehr und mehr. Unter dem Druck der Armee, vor allem ihres linken, entschlossensten Flügels, wird Cromwell gezwungen, Karl I. hinzurichten. Während das Beil der Revolution geschwungen wird, ertönen die Gesänge von Psalmen. Aber das Beil wirkt überzeugender. Dann umzingelt Cromwells Oberst Pride das Parlamentsgebäude und entfernt gewaltsam 81 Deputierte – Presbyterianer. Vom Parlament bleibt nur noch Spreu übrig – sie besteht aus den Independenten, d. h. den Gesinnungsgenossen Cromwells und seiner Armee; aber eben deshalb hört auch das Parlament, das den gewaltigen Kampf mit der Monarchie durchgekämpft hat, im Augenblick des Sieges auf, die Quelle jedes selbständigen Gedankens und jeder Kraft zu sein. Die Triebkraft des ersten und zweiten Parlamentes ist Cromwell, der sich unmittelbar auf die Armee stützt, aber letzten Endes seine Kraft aus der mutigen Verwirklichung der Grundaufgaben der Revolution schöpft. Ein Narr, Analphabet oder Fabier kann in Cromwells Herrschaft nur eine personelle Diktatur sehen. Faktisch hat hier unter den Bedingungen einer tiefen sozialen Umwälzung die Form einer personellen Diktatur eine Diktatur der Klasse angenommen, dabei einer solchen, die einzig und allein imstande war, den Kern der Nation von alten Fesseln und Bindungen zu befreien. Die englische soziale Krise des 17. Jahrhunderts erscheint als eine Vereinigung wesentlichster Züge der deutschen Reformation des 16. Jahrhunderts mit Zügen der französischen Revolution des 18. Jahrhunderts. Tatsächlich reichen sich in Cromwell Luther und Robespierre die Hand. Die Puritaner hätten gern ihre Feinde Philister genannt, aber nichtsdestoweniger handelte es sich um einen Klassenkampf. Die Aufgabe Cromwells bestand darin, der absoluten Monarchie den vernichtenden Schlag zu versetzen, ferner dem Hofadel und der halbkatholischen Kirche, die sich den Bedürfnissen der Monarchie und des Hofadels angepasst hatte. Um einen solchen Schlag auszuführen, war Cromwell, der wahrhafte Vertreter einer neuen Klasse, auf die Kräfte und Leidenschaften der Volksmassen angewiesen. Unter der Leitung Cromwells gewinnt die Revolution den vollen notwendigen Schwung. Sobald sie in der Erscheinung der Leveller (Ausgleicher) den Rahmen der Bedürfnisse der sich erneuernden bürgerlichen Gesellschaft zu sprengen sucht, rechnet Cromwell unbarmherzig mit den „Besessenen" ab. Nach dem Siege beginnt Cromwell mit dem Aufbau eines neuen Staatsrechtes, in dem er die biblischen Sprüche mit den Piken der „heiligen" Soldaten vereinigt, das entscheidende Wort sprechen dabei immer die Piken. Am 19. April 1653 jagte Cromwell die Spreu des „Langen Parlaments" auseinander. Im Bewusstsein seiner geschichtlichen Mission gab der puritanische Diktator den Vertriebenen biblische Flüche mit auf den Weg: „Du Säufer!" schrie er diesem zu; „Du Ehebrecher!" mahnte er einen anderen. Dann bildet Cromwell ein Parlament aus gottesfürchtigen Menschen, d. h. tatsächlich ein Klassenparlament: denn gottesfürchtig war die Mittelklasse, die mit strenger Sittlichkeit die Bemühungen um die Akkumulation des Kapitals fortsetzte und mit Sprüchen aus der Heiligen Schrift auf den Lippen sich daran machte, die ganze Welt auszuplündern. Aber auch dies täppische „Barebone"6-Parlament hat den Diktator gestört, indem es ihn der notwendigen Manövrierfreiheit in einer schweren inneren und äußern Situation beraubte. Ende 1653 reinigt Cromwell nochmals mit Hilfe der Soldaten das Parlament. Hatte sich die Spreu des „Langen Parlaments", das im April auseinandergejagt wurde, einer Rechtsorientierung in Richtung eines Kompromisses mit den Presbyterianern schuldig gemacht, so war das „Barebone-Parlament" geneigt, in manchen Fragen zu geradlinig auf dem Wege der puritanischen Tugenden zu gehen und erschwerte so Cromwell die Herstellung eines neuen gesellschaftlichen Gleichgewichtes. Der revolutionäre Realist Cromwell formte eine neue Gesellschaftsordnung. Das Parlament ist kein Selbstzweck, das Recht ist kein Selbstzweck, und haben Cromwell selbst und seine „Heiligen" die Verwirklichung der göttlichen Vermächtnisse als Selbstzweck betrachtet, so wären diese Vermächtnisse in Wirklichkeit nur das Ideenmaterial für den Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft. Indem Cromwell ein Parlament nach dem anderen auseinanderjagte, bewies er genau so wenig Ehrfurcht vor dem Fetisch der „nationalen" Vertretung, wie er durch die Hinrichtung Karls I. den Mangel jeder Ehrfurcht vor der Monarchie von Gottes Gnaden bewies. Nichtsdestoweniger hat gerade Cromwell dem Parlamentarismus und der Demokratie den Weg in den beiden folgenden Jahrhunderten freigemacht. Zur Vergeltung für die Hinrichtung Karls I. durch Cromwell ließ Karl II. Cromwells Leiche am Galgen aufknüpfen. Aber keine Restauration vermochte die vorcromwellsche Gesellschaftsordnung wiederherzustellen. Die Schöpfungen Cromwells konnte auch die gaunerhafte Gesetzgebung der Restauration nicht liquidieren, weil man nicht mit der Feder vernichten kann, was das Beil gespalten hat. In dieser umgekehrten Form ist das Sprichwort richtiger, wenigstens soweit es sich auf das Beil der Revolution bezieht.

Als Illustration der Wechselbeziehungen zwischen dem „Recht" und der „Macht" im Zeitalter der sozialen Umwälzungen wird die Geschichte des „Langen Parlamentes" stets das größte Interesse behalten, im Verlaufe von 20 Jahren erlebte dies Parlament alle Wandlungen der Ereignisse, spiegelte die Stöße der Klassenkräfte wider, wurde rechts und links abgehackt, rebellierte zuerst gegen den König, erlitt dann Ohrfeigen von seinen eigenen bewaffneten Dienern, wurde zweimal auseinandergetrieben und zweimal wiederhergestellt, gab Befehle und erniedrigte sich, bis es endlich die Möglichkeit erhielt, seine eigene Auflösung zu proklamieren.

Ob die proletarische Revolution ihr „Langes Parlament" haben wird, wissen wir nicht. Sehr wahrscheinlich wird sie sich mit einem kurzen Parlament begnügen. Aber sie wird dazu desto sicherer imstande sein, je besser sie die Lehren des Zeitalters Cromwells beherzigen wird.

* * *

Über die zweite echt proletarische revolutionäre Tradition werden wir nur einige Worte sagen.

Das Zeitalter des Chartismus ist deshalb unsterblich, weil es in der Spanne eines Jahrzehntes in zusammengedrängter und schematischer Form die ganze Skala des proletarischen Kampfes, von Petitionen an das Parlament bis zu bewaffneten Aufständen durchläuft. Alle Grundfragen der Klassenbewegung des Proletariats – die Beziehungen zwischen der parlamentarischen und außerparlamentarischen Tätigkeit, die Rolle des allgemeinen. Wahlrechtes, die Beziehungen zwischen den Trade Unions und den Genossenschaften, die Bedeutung des Generalstreiks und seine Beziehung zum bewaffneten Aufstand, sogar die Beziehungen zwischen dem Proletariat und dem Bauerntum – kristallisierten sich nicht nur real im Laufe der chartistischen Massenbewegung, sondern fanden auch in ihr eine prinzipielle Antwort. Theoretisch ist diese Antwort nicht immer einwandfrei begründet, die Rechnung stimmt nicht immer ganz genau, die ganze Bewegung selbst und ihre theoretischen Niederschläge sind vielfach sehr unreif und unvollendet. Trotzdem sind die revolutionären Losungen und Methoden des Chartismus auch heute noch, wenn man sie kritisch herausschält, unendlich wertvoller als die süßliche Eklektik MacDonalds und der ökonomische Stumpfsinn Webbs. Will man zu einem gewagten Vergleich seine Zuflucht nehmen, kann man sagen, dass die chartistische Bewegung an ein Vorspiel erinnert, das noch unentwickelt das Hauptthema der ganzen Oper anschlägt. In diesem Sinne kann und soll die englische Arbeiterklasse im Chartismus nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch ihre Zukunft sehen. Wie die Chartisten die sentimentalen Prediger der „moralischen Aktion" rücksichtslos beiseite schoben, die Massen unter dem Banner der Revolution sammelten, wird auch dem englischen Proletariat zur Aufgabe gemacht, die Reformisten, Demokraten und Pazifisten aus ihrer Mitte herauszuwerfen und sich unter der Fahne des revolutionären Umsturzes zu sammeln. Der Chartismus führte nicht zum Siege; nicht deshalb, weil seine Methoden falsch waren, sondern weil er zu früh kam. Er war nur eine geschichtliche Vorahnung. Die Revolution des Jahres 1905 erlitt auch eine Niederlage, aber ihre Traditionen lebten 12 Jahre später wieder auf, und ihre Methoden siegten im Oktober 1917. Der Chartismus ist nicht liquidiert. Die Geschichte liquidiert den Liberalismus und bereitet sich zur Liquidation des pseudoproletarischen Pazifismus ebendeshalb vor, um den Chartismus auf neuen, unvergleichlich breiteren historischen Grundlagen wieder auferstehen zu lassen. Da ist die echte nationale Tradition der englischen Arbeiterbewegung!

A Es ist interessant, dass zwei Jahrhunderte später, nämlich im Jahre 1842, der Historiker Macaulay als Mitglied des Parlaments gegen das allgemeine Wahlrecht aus denselben Gründen wie Cromwell protestierte.

1 Araktschejew. Russischer General. 1769-1834. Hatte unter Alexander I. entscheidenden Einfluss auf die innere Politik, furchtbarer Bauernbedrücker. Anm. d. Übersetzers.

2 F. Guizot, Geschichte der englischen Revolution bis zum Tode Karls I. Leipzig 1850. S. 199f.

3 Guizot a. a. O. S. 230.

4 Guizot a. a. O. S. 231.

B Macaulay will sagen: Revolutionäre Agitatoren.

5) Th. B. Macaulay, Geschichte von England. Braunschweig 1864. I. S. 118. 104

6 Im Volksmund hatte das zweite Parlament diesen Beinamen nach einem seiner bekanntesten und unfähigsten Mitglieder Barebone. Anm. d. Übers.

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