VII. Die Trade Unions und der Bolschewismus

VII. Die Trade Unions und der Bolschewismus

Aus der neuesten Geschichte Englands erhellt sonnenklar, dass man die Grundaufgaben der Arbeiterbewegung vom formalen, letzten Endes rein juristischen Standpunkte der Demokratie aus weder werten noch begrenzen kann. Besonders die Betrachtung der Frage der politischen Beiträge der Gewerkschaften bringt diese Erkenntnis deutlich zum Ausdruck. Diese Frage, die auf den ersten Blick nur eine rein praktische Bedeutung zu haben scheint, besitzt im Grunde eine große prinzipielle Bedeutung, die, wie wir fürchten, von den Herren Führern der Arbeiterpartei nicht verstanden wird. Die Aufgabe der Trade Unions ist der Kampf um die Besserung der Arbeitsbedingungen und der Existenz der Lohnarbeiter. Deshalb zahlen die Gewerkschaftsmitglieder gewisse Beiträge. Was ihre politische Tätigkeit betrifft, wurden die Trade Unions formell als neutral angesehen; in Wirklichkeit aber wandelten sie meist in den Spuren der liberalen Partei. Es ist überflüssig, zu sagen, dass die Liberalen, die ebenso wie die Konservativen dem reichen Bourgeois, der große Beträge an ihre Parteikasse abführt, mannigfache Ehren verkaufen, nicht die finanzielle Hilfe der Trade Unions, sondern ihre Stimmen brauchen. Eine Änderung der Lage trat in dem Augenblick ein, als die Arbeiter durch Vermittlung der Trade Unions die Arbeiterpartei bildeten. Nachdem sie die Partei einmal ins Leben gerufen hatten, mussten die Trade Unions sie auch finanzieren. Dazu erwiesen sich Zusatzbeiträge der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter als notwendig. Die bürgerlichen Parteien protestierten einmütig gegen diese „schreiende Verletzung der individuellen Freiheit". „Der Arbeiter ist nicht nur ein Arbeiter, sondern auch ein Bürger und Mensch", lehrt tiefsinnig MacDonald.

Jawohl!" sekundieren Baldwin, Asquith und Lloyd George Als Bürger hat der Arbeiter, mag er sich nun den Trade Unions anschließen oder nicht, das Recht, für eine beliebige Partei zu stimmen. Aber man vergewaltigt nicht nur sein Portemonnaie, sondern auch sein Gewissen, wenn man ihn nötigt, Pflichtbeiträge zugunsten der Arbeiterpartei zu zahlen. Das ist doch eine direkte Verletzung der demokratischen Verfassung, die irgendeinen Zwang, diese oder jene Partei zu unterstützen, ausschließt! In Wahrheit müssen diese Beweise den Führern der Arbeiterpartei sehr imponieren, die gern auf die antiliberalen, fast bolschewistischen Zwangsmethoden der gewerkschaftlichen Organisationen verzichtet hätten, wenn man eben nicht diese verfluchten Schillinge und Pfunde brauchte ohne die man sogar im demokratischen Arkadien kein Abgeordnetenmandat erhalten kann. Es ist das traurige Schicksal der demokratischen Prinzipien, dass die Schillinge und Pfunde ihnen immer übel aufspielen. Darauf beruht auch tatsächlich die Unvollkommenheit der besten aller Welten.

Die Geschichte der politischen Beiträge der Trade Unions ist ziemlich reich an Veränderungen und dramatischen Episoden Wir werden sie hier nicht erzählen. Erst kürzlich hat Baldwin (vorläufig!) darauf verzichtet, einem neuen Antrag seiner konservativen Freunde nachzugeben und die Einziehung der Beiträge zu verbieten. Das noch jetzt gültige Parlamentsgesetz vom Jahre 1913 hat den Gewerkschaften erlaubt, politische Beiträge zu erheben, hat aber jedem Mitglied einer Trade Union gestattet, die Zahlung eines solchen Beitrages zu verweigern, und verbot gleichzeitig der Trade Union, solche Mitglieder zu verfolgen, aus der Trade Union auszuschließen usw. Wenn man der Statistik der „Times" (vom 6. März 1925) glauben kann, haben etwa 10% der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter von diesem Verweigerungsrecht der Zahlung politischer Beiträge Gebrauch gemacht. So ist das Prinzip der individuellen Freiheit wenigstens teilweise gerettet. Die „Freiheit" würde völlig gesiegt haben, wenn man nur die Beiträge „von Mitgliedern einziehen könnte, die freiwillig ihre Einwilligung erklärt haben. Wenn jetzt nämlich die Trade Union eine Bestimmung trifft, müssen alle Mitglieder Beiträge zahlen, und nur die sind befreit, die umgehend und in vorgeschriebener Form eine Erklärung abgeben. Mit anderen Worten: Das liberale Prinzip ist aus einer triumphierenden Regel in eine geduldete Ausnahme verwandelt worden. Aber auch diese relative Durchführung des Prinzips der persönlichen Freiheit ist erreicht – leider, leider – nicht durch den Willen der Arbeiter, sondern auf dem Wege der Vergewaltigung der Organisation des Proletariats durch die bürgerliche Gesetzgebung.

Dieser Umstand veranlasst folgende Frage: Wie kommt es, dass die Arbeiter, die die Hauptmasse der englischen Bevölkerung und somit der englischen Demokratie bilden, im Verlaufe ihres Kampfes gedrängt wurden, die Prinzipien der „persönlichen Freiheit" zu verletzen, während doch die gesetzgebende Bourgeoisie, besonders das Oberhaus, als Schützer der Freiheit auftreten und entweder die „Vergewaltigung" der Person eines Trade Unionisten kategorisch verbieten (die Entscheidung des Oberhauses im Jahre 1909 in der Sache Osborne) oder diese „Vergewaltigung" ernstlich beschränken (Parlamentsbeschluss des Jahres 1913)! Der Schwerpunkt der Frage ruht natürlich darin, dass die Arbeiterorganisationen durch das antiliberale „despotische", bolschewistische Postulat auf Zwangseinziehung der politischen Beiträge für die tatsächliche, reale und nicht nur metaphysische Möglichkeit der parlamentarischen Arbeitervertretung kämpfen, während die Konservativen und Liberalen durch ihre Verteidigung der Prinzipien der „persönlichen Freiheit" in Wirklichkeit danach streben, die Arbeiter materiell zu entwaffnen und zu Sklaven der bürgerlichen Parteien zu machen. Es genügt, die Rollenverteilung zu betrachten: Die Trade Unions – für das unbedingte Recht der Zwangseinziehung der politischen Beiträge, das Haus der mumifizierten Lords für das unbedingte Verbot solcher Beiträge im Namen der heiligen persönlichen Freiheit; endlich das Unterhaus, das den Trade Unions ein Zugeständnis abtrotzt, das sich tatsächlich als Rabatt von 10% zugunsten der Prinzipien des Liberalismus auswirkt. Sogar ein Blinder wird hier das reine Klassenprinzip der persönlichen Freiheit heraus tasten, die unter diesen konkreten Bedingungen nichts anderes bedeutet als ein Attentat der besitzenden Klassen auf die politische Expropriierung des Proletariats auf dem Wege der Liquidierung seiner Partei.

Die Konservativen verteidigen gegen die Trade Unions das „Recht" des Arbeiters, für eine beliebige Partei zu stimmen – dieselben Tories, die im Laufe der Jahrhunderte den Arbeitern das Wahlrecht in irgendeiner Form verweigert haben. Und auch jetzt, trotzdem wir soviel gesehen und erlebt haben, kann man nicht ohne Erregung die Geschichte des Kampfes für die Reformbill zu Anfang der dreißiger Jahre in England lesen. Mit welcher verblüffenden Zähigkeit und Hartnäckigkeit, mit welcher Unverschämtheit einer Sklavenhalterklasse haben die Landlords, Bankiers und Bischöfe, mit einem Worte: die privilegierte Minderheit, die Angriffe der Bourgeoisie und der in ihren Spuren tappenden Arbeiter auf die Parlamentsfestung zurückgeschlagen. Die Reform des Jahres 1832 wurde erst dann verwirklicht, als man einfach nicht mehr anders konnte. Und die Erweiterung des Wahlrechtes wurde nach einer sehr genauen Berechnung durchgeführt: zwischen Bourgeoisie und Arbeiter wurde ein Keil geschoben. Von den Konservativen unterschieden sich die Liberalen in Wirklichkeit absolut nicht: nachdem sie die Wahlreform des Jahres 1832 durchgesetzt hatten, ließen sie die Arbeiter leer ausgehen. Als die Chartisten von den Tories und Whigs das Wahlrecht für die Arbeiter forderten, stießen sie auf den wütenden Widerstand der Inhaber des parlamentarischen Monopols. Und als die Arbeiter endlich das Wahlrecht eroberten, treten die Konservativen zum Schutz ihrer „individuellen Freiheit" auf – gegen die Tyrannei der Trade Unions. Und diese gemeine, ekelhafte Scheinheiligkeit erfährt keine richtige Würdigung im Parlament! Vielmehr danken die Arbeiterdeputierten noch dem Premierminister, weil er heute großzügig darauf verzichtet, der Arbeiterpartei die Finanzschlinge um den Hals zu legen; obendrein behält er sich noch ganz das Recht vor, dies in einem passenden Augenblick zu tun. Die Schwätzer, die mit den Schlagworten „Demokratie", „Gleichheit", „individuelle Freiheit" ihre Possen treiben, müsste man auf die Schulbank setzen und zwingen, die allgemeine Geschichte Englands und besonders die Geschichte des Kampfes um die Erweiterung des Wahlrechtes zu studieren.

Der Liberale Cobden hat einmal erklärt, er würde es vorziehen, lieber unter der Gewaltherrschaft des Beys von Algier, als unter der Herrschaft der Trade Unions zu leben. Mit diesem Ausspruch gab Cobden seiner liberalen Entrüstung über die „bolschewistische" Tyrannei der Trade Unions seinen Ausdruck, die in der Natur der Trade Unions selbst liegt. Eigentlich hat Cobden recht. Der Kapitalist, der unter die Herrschaft einer Gewerkschaft gerät, hat es sehr schwer: davon kann die russische Bourgeoisie allerlei erzählen. Aber es handelt sich darum, dass der Arbeiter in der Person des Unternehmers ständig einen algerischen Bey über sich hat, und dass er sein tyrannisches Regime nur mit Hilfe der Trade Unions mildern kann. Gewiss, der Arbeiter muss dabei gewisse Opfer bringen, nicht nur finanzielle, sondern auch persönliche. Aber mit Hilfe der Trade Unions gewinnt seine „individuelle Freiheit" zuletzt mehr, als sie verliert. Darin äußert sich eben der Klassenstandpunkt. Der lässt sich nicht umgehen. Aus ihm resultiert das Recht zur Einziehung von politischen Beiträgen. Die Bourgeoisie glaubt in ihrer Mehrheit, dass sie sich mit der Existenz der Trade Unions abfinden muss, aber sie möchte ihre Tätigkeit dort begrenzen, wo der Kampf mit einzelnen Kapitalistengruppen in den Kampf mit dem kapitalistischen Staat übergeht.

Der konservative Abgeordnete MacIsten hat im Parlament darauf hingewiesen, dass ein Verzicht der Trade Unions auf politische Beiträge hauptsächlich in den kleinen und vereinzelten Industriezweigen beobachtet wird. In großen konzentrierten Industriezweigen beobachtet man, so klagt Maclsten, den „moralischen Druck und die Massensuggestion". Eine höchst interessante Beobachtung! Und es ist für das englische Parlament charakteristisch, dass diese Beobachtung von einem extremen Tory, dem Urheber des Verbotentwurfes, und nicht von einem Sozialisten gemacht wird. Ihre Bedeutung beruht darin, dass der Verzicht auf politische Beiträge in den rückständigsten Industriezweigen beobachtet wird, in denen die kleinbürgerlichen Traditionen noch sehr mächtig sind, also die kleinbürgerliche Vorstellung von der individuellen Freiheit noch herrscht, die im allgemeinen mit der Stimmabgabe für die Liberalen und zuweilen auch für die Konservativen verknüpft ist. In neuen, moderneren Produktionszweigen herrschen Klassensolidarität und proletarische Disziplin, die den Kapitalisten und ihren Lakaien unter den Arbeiterverrätern terroristisch erscheinen. Ein konservativer Abgeordneter hat pathetisch verkündet, in einer Trade Union habe der Sekretär gedroht, öffentlich die Liste der Mitglieder bekanntzugeben, die sich geweigert hätten, die Parteibeiträge zu zahlen. Die Arbeiterabgeordneten haben entrüstet gefordert, man solle ihnen den Namen dieses nichtswürdigen Sekretärs nennen. Dabei müsste man doch jeder Trade Union eine solche Handlungsweise empfehlen, aber natürlich werden die Bürokraten sie nicht befolgen, die unter dem aufreizenden Geschrei der beiden bürgerlichen Parteien die Kommunisten aus den Arbeiterorganisationen zu verdrängen suchen. Sobald es sich eben um Kommunisten handelt, kann von individueller Freiheit keine Rede mehr sein: dann werden die Gründe der staatlichen Sicherheit geltend gemacht. Man kann doch nicht Kommunisten in die Arbeiterpartei aufnehmen, die von der Heiligkeit der Demokratie nichts wissen wollen. Dabei hat im Verlauf der Debatten über die politischen Beiträge der uns bereits bekannte Urheber des Verbotgesetzentwurfs, Maclsten, einen Satz über die Demokratie verbrochen, den die Opposition mit leichtsinnigem Gelächter begrüßte, den man aber in Wahrheit nicht nur in die Wände des Parlamentsgebäudes einmeißeln, sondern auch in jeder Arbeiterversammlung wiederholen und erklären müsste. Maclsten illustrierte durch Zahlen die Bedeutung der politischen Beiträge der Trade Unions und machte darauf aufmerksam, dass bis zur liberalen Bill des Jahres 1913 die Trade Unions für politische Zwecke etwa 200.000 Mark jährlich ausgegeben haben, jetzt aber infolge der Legalisierung der politischen Beiträge über Fonds von etwa 5 Millionen Mark verfügen. „Natürlich", sagt Maclsten, „musste die Arbeiterpartei erstarken! Wenn man jährlich etwa 5 Millionen Mark Einkünfte hat, kann man eine Partei für ein x-beliebiges Ziel bilden." Der wütende Tory hat etwas mehr gesagt, als er sagen wollte. Er hat offenherzig zugegeben, dass Parteien gemacht, und zwar, dass sie mit Hilfe von Geld gemacht werden, und dass die Fonds eine entscheidende Rolle in der Mechanik der „Demokratie" spielen. Muss man denn sagen, dass die bürgerlichen Fonds unvergleichlich größer sind als die proletarischen? Eine solche Bemerkung allein zerstört die verlogene Mystik der Demokratie. Jeder aufgeweckte englische Arbeiter muss MacDonald zurufen: Es ist eine Lüge, wenn ihr sagt, für unsere Bewegung wären das höchste Kriterium die Prinzipien der Demokratie. Diese Prinzipien selbst unterstehen der Kontrolle der Geldfonds, verdanken ihnen ihre Entstehung und Verfälschung.

Und trotzdem muss man zugeben: Verharrt man auf formaldemokratischem Standpunkt, und operiert man mit dem Begriff eines bürgerlichen Idealtypus, eines Nicht-Proletariers, Kapitalisten oder Landlords, so scheinen einem die reaktionärsten Gorillas des Oberhauses am meisten konsequent zu handeln. Zum Teufel! Jeder Bürger hat das Recht, durch sein Portemonnaie und durch seine Stimme aus freien Stücken die Partei zu unterstützen, die ihm sein freies Gewissen vorschreiben wird! Das Unglück will es aber nur eben, dass dieser Idealtypus eines britischen Bürgers in Wirklichkeit gar nicht existiert. Er ist eine juristische Fiktion. Er hat auch früher nie existiert. Aber der kleine und mittlere Bourgeois hat sich bis zu einem gewissen Grade diesem Idealtypus genähert. Jetzt betrachtet sich der Fabier selbst als Norm dieses idealen mittleren Bürgers, für ihn sind Kapitalist und Proletarier nur „Abweichungen" vom idealen Bürgertypus. Aber auf der Welt laufen nicht viele solcher Fabierphilister herum, obwohl es bedeutend mehr gibt, als es geben sollte. Im Allgemeinen gehören die Wähler zwei Gruppen an: Besitzende und Ausbeuter auf der einen Seite, Proletarier und Ausgebeutete auf der anderen.

Die Gewerkschaften stellen – hier hilft keine liberale Kasuistik – eine Klassenvereinigung der Lohnarbeiter für den Kampf gegen den Eigennutz und die Gier der Kapitalisten dar. Eine der wichtigsten Waffen der Gewerkschaft ist der Streik. Die Mitgliedsbeiträge sind für Streikunterstützungen bestimmt. Während des Streikkampfes führen die Arbeiter einen schonungslosen Kampf mit den Streikbrechern, die ein anderes liberales Prinzip verwirklichen – die „Freiheit der Arbeit". Während eines jeden großen Streikes braucht die Gewerkschaft politische Unterstützung, sie muss sich an die Presse, die Parteien und das Parlament wenden. Die feindliche Einstellung der liberalen Partei gegenüber dem Kampf der Trade Unions war auch eine jener Ursachen, die die Bildung der Arbeiterpartei erzwungen haben. Wenn man sich die Geschichte der Arbeiterpartei durch den Kopf gehen lässt, erscheint es klar, dass vom Standpunkte der Gewerkschaft aus die Partei im gewissen Sinne als ihre politische Abteilung erscheint. Sie braucht eine Streikkasse, ein. Netz von Bevollmächtigten, eine Zeitung und einen bevollmächtigten Abgeordneten im Parlament. Die Ausgabe für die Wahl des Abgeordneten ist für sie eine ebenso gesetzlich notwendige und obligatorische Ausgabe, wie die Ausgabe für die Unterhaltung eines Verwaltungsapparates. Ein liberales oder konservatives Mitglied der Trade Unions kann sagen: Ich zahle ordnungsmäßig meinen regelrechten Mitgliedsbeitrag für die Trade Union, aber die Beiträge für die Arbeiterpartei lehne ich ab, da ich kraft meiner politischen Überzeugungen für einen Liberalen stimme (oder für einen Konservativen). Darauf kann ihm der Vertreter der Trade Union antworten: Im Kampfe um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen – und das ist doch das Ziel unserer Organisation – sind wir auf die Unterstützung der Arbeiterpartei angewiesen, wir brauchen ihre Presse, ihre Abgeordneten; indessen fällt aber die Partei, für die du stimmst (die Liberalen oder die Konservativen) in solchen Fällen stets über uns her und versucht, uns zu kompromittieren, Zwietracht in unseren Reihen zu erregen oder direkt die Streikbrecher zu organisieren; solche Mitglieder aber, die Streikbrecher unterstützen, brauchen wir nicht. So stellt sich heraus, dass das, was vom Standpunkte der kapitalistischen Demokratie als Freiheit der Person erscheint, vom Standpunkt der proletarischen Demokratie die Freiheit des politischen Streikbrechertums ist. Der Rabatt von 10%, den die Bourgeoisie erzwang, ist keineswegs eine unschuldige Sache. Er bedeutet vielmehr, dass in den Trade Unions unter 10 Mitgliedern ein Mitglied ein bewusst politischer Gegner, d. h. ein Klassengegner, ist. Gewiss, einen Teil wird man vielleicht gewinnen können, aber die anderen können im Falle eines scharfen Kampfes unschätzbare Hilfstruppen der Bourgeoisie gegen die Arbeiter werden. So ist im weiteren Verlauf ein Kampf gegen die Bresche unvermeidlich, die der Parlamentsbeschluss des Jahres 1913 in die Mauern der Trade Unions geschlagen hat.

Ganz allgemein gesagt: wir Marxisten stehen auf dem Standpunkt, dass jeder ehrliche, unbescholtene Arbeiter, unabhängig von seinen politischen, religiösen und anderen Überzeugungen, Mitglied einer Gewerkschaft sein kann. In Gewerkschaften sehen wir einmal wirtschaftliche Kampforganisationen, dann aber Schulen der politischen Erziehung. Indem wir im Allgemeinen für die Zulassung der rückständigen und indifferenten Arbeiter in die Gewerkschaften eintreten, gehen wir nicht vom abstrakten Prinzip der Gesinnungs- und Gewissensfreiheit aus, sondern von Beweggründen revolutionärer Zweckmäßigkeit. Aber dieselben Erwägungen sagen uns, wenn in England 90% gewerkschaftlich organisierter Arbeiter politische Beiträge zahlen, die einen bewusst, die anderen, weil sie die Solidarität nicht verletzen wollen, und nur 10% eine offene Herausforderung der Arbeiterpartei wagen, ist es notwendig, gegen diese 10% einen systematischen Kampf zu führen, sie zu zwingen, sich als Abtrünnige zu fühlen und den Trade Unions das Recht zu sichern, sie als Streikbrecher auszuschließen. Wenn der Normalbürger das Recht hat, für eine beliebige Partei zu stimmen, haben die Arbeiterorganisationen das Recht, solche Bürger in ihrer Mitte nicht zu dulden, deren politische Einstellung die Interessen der Arbeiterklasse schädigt. Der Kampf der Gewerkschaften für die Nichtzulassung unorganisierter Arbeiter in die Fabriken gilt seit langem als Zeichen des „Arbeiterterrors" oder nach der modernen Sprechweise, des Bolschewismus. Gerade in England kann und muss man diese Methoden in der Arbeiterpartei einbürgern, die als eine direkte Fortsetzung der Trade Unions herangewachsen ist.

Die von uns oben erwähnten Debatten, die im englischen Parlament am 7. März 1925 anlässlich der politischen Beiträge geführt wurden, sind für die Charakteristik der parlamentarischen Demokratie ungewöhnlich interessant. Nur in der Rede des Premierministers Baldwin hörte man vorsichtige Anspielungen auf die realen Gefahren, die in der Klassenstruktur Englands wurzeln. Die alten Beziehungen sind verschwunden, die alten guten englischen Unternehmen mit patriarchalischen Sitten bestehen nicht mehr – ein solches Unternehmen hat Mr. Baldwin in seiner Jugend geleitet. Die Industrie schließt sich in Konzernen und Kombinaten zusammen. Die Arbeiter sammeln sich in den Trade Unions, und diese Organisationen können für den Staat selbst eine Gefahr bedeuten. Baldwin sprach sowohl von den vereinigten Unternehmern wie von den Arbeiterverbänden. Aber es ist natürlich, dass er die reale Gefahr für den demokratischen Staat nur in den Trade Unions sieht. Worum es im letzten Grund im sog. Kampf gegen die Trusts geht, wissen wir zu gut aus dem Beispiel Amerikas. Die schreiende Antitrustorganisation Roosevelts war eine Seifenblase. Die Trusts sind schon in seinen Tagen und später noch stärker geworden, und die amerikanische Regierung ist weit unmittelbarer ihr Exekutivorgan, als die Arbeiterpartei das politische Organ der Trade Unions ist. Wenn die Trusts als eine Vereinigungsform in England keine so große Rolle spielen wie in Amerika, so spielen dort die Kapitalisten keine kleinere Rolle. Die Gefahr der Trade Unions besteht gerade darin, dass sie, vorläufig tastend, unentschieden, mit halben Maßnahmen das Prinzip einer Arbeiterregierung aufstellen, die ohne den Arbeiterstaat unmöglich ist, ganz im Gegensatz zur kapitalistischen Regierung, die jetzt nur unter der Flagge der Demokratie existieren kann. Baldwin ist völlig mit dem Prinzip der „individuellen Freiheit" einverstanden, auf dem jener Verbotsgesetzentwurf basiert, den seine Parlamentsfreunde eingebracht hatten. Auch er betrachtet die politischen Beiträge der Trade Unions als ein „moralisches Übel". Aber er will den Frieden nicht stören. Denn wenn der Kampf einmal ausgebrochen ist, kann er schwere Folgen zeitigen: „Wir wollen keineswegs den ersten Schuss abgeben." Und Baldwin schließt: „Schenk' uns Frieden in unserer Zeit, o Herr!" Fast das ganze Haus einschließlich vieler Arbeiterabgeordneten, begrüßte diese Rede: Der Premier machte, wie er selbst erklärte, „eine Friedensgeste". Unmittelbar darauf steht der Arbeiterdeputierte Thomas auf, der immer erscheint, wenn eine Lakaiengeste zu machen ist: Er begrüßt Baldwin und unterstreicht die echt menschliche Note seiner Rede; er erklärt, dass die feste Gemeinschaft der Unternehmer und Arbeiter beiden Parteien Gewinn bringen wird; er beruft sich stolz darauf, dass nicht wenige linke Arbeiter in seiner eigenen Gewerkschaft sich weigern, politische Beiträge zu zahlen, weil sie einen solchen reaktionären Sekretär wie ihn, Mr. Thomas, haben. Und alle Debatten über eine Frage, in der sich die Lebensinteressen der kämpfenden Klassen treffen, werden in demselben konventionellen Tone des Nichtaussprechens geführt, sind offizielle Lügen des echt englischen parlamentarischen Cants. Es ist Macchiavellismus, wenn die Konservativen nicht aussprechen, was ist; es zeugt von verächtlicher Feigheit, wenn die Arbeiterpartei nicht ausspricht, was ist. Der Vertreter der Bourgeoisie erinnert an einen Tiger, der die Krallen einzieht und lieblich mit den Augen zwinkert; aber solche Arbeiterführer wie Thomas gleichen einem geprügelten Hunde, der mit eingezogenem Schwanze herumkriecht.

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An den Trade Unions ersieht man am besten, dass es für die ökonomische Lage Englands keinen Ausweg mehr gibt. Als am zweiten Tag nach dem Kriegsende ein oberflächlicher Blick zur Annahme verführte, Großbritannien könnte uneingeschränkt über das Weltschicksal entscheiden, stürzten sich die Arbeitermassen, vom Krieg aufgeweckt, zu Hunderttausenden und Millionen in die Gewerkschaften. Ihren höchsten Stand erreichten die Gewerkschaften im Jahre 1919. Dann setzte die Ebbe ein. Jetzt ist die Zahl der Mitglieder der Gewerkschaftsorganisationen stark gefallen und fällt immer noch. Das linke Mitglied des Ministeriums MacDonalds, John Wheatley, gab in einer Märzversammlung in Glasgow seiner Meinung Ausdruck, dass die Trade Unions jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst wären und weder imstande wären, zu kämpfen, noch Verhandlungen zu führen. Dieser Einschätzung trat Fred Bramley, der Generalsekretär des Trade-Union-Kongresses, mit aller Entschiedenheit entgegen. Die Polemik zwischen diesen beiden Gegnern, mögen sie auch theoretisch gleich hilflose Gegner sein, ist aber symptomatisch und von außerordentlichem Interesse. Bramley beruft sich darauf, dass die politische Bewegung „dankbarere", will sagen: größere Karrieremöglichkeiten eröffnet und deshalb den Trade Unions die wertvollsten Funktionäre entzieht. „Andererseits," fragt Bramley, „was wäre die Partei ohne die politischen Beiträge der Trade Unions?" Zum Schlusse bestreitet Bramley nicht den Niedergang der wirtschaftlichen Macht der Trade Unions, den er durch einen Hinweis auf die ökonomische Lage Englands erklärt. Aber vergeblich können wir in der Rede des Generalsekretärs des Trade-Union-Kongresses irgendeinen Hinweis suchen, wie man aus dieser Sackgasse herauskommt. Seine Auffassung geht nicht über den Rahmen des geheimen Wettbewerbes zwischen dem Apparat der Trade Unions und dem Parteiapparat heraus. Aber hier ruht ja auch gar nicht die entscheidende Frage. Die Radikalisierung der Arbeiterklasse, also auch das Wachstum der Arbeiterpartei, basiert auf denselben Ursachen, die der wirtschaftlichen Macht der Trade Unions die brutalsten Schläge versetzt haben. Das eine entwickelt sich unzweifelhaft auf Kosten des anderen. Aber es wäre sehr leichtsinnig, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Trade Unions ihre Rolle ausgespielt haben. Die Produktionsverbände der englischen Arbeiterklasse haben vielmehr noch eine große Zukunft. Eben weil sich im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft den Trade Unions unter den heutigen Verhältnissen Großbritanniens keine großen Perspektiven mehr öffnen, sind die Produktionsverbände der Arbeiter gezwungen, den Weg der sozialistischen Reorganisation der Wirtschaft zu betreten. Indem sie sich notgedrungen selbst reorganisieren, werden die Trade Unions zum Haupthebel der ökonomischen Reorganisation des Landes. Aber die unbedingte Voraussetzung für die Übernahme einer solchen Aufgabe ist die Eroberung der Macht durch das Proletariat, nicht im Sinne der kläglichen und faden Farce der MacDonald-Regierung, sondern im realen materiellen revolutionären Klassensinne. Der gesamte Staatsapparat muss unbedingt ein Apparat im Dienste des Proletariats werden Es ist notwendig, dass die Arbeiterklasse, die allein am sozialistischen Umsturz interessiert ist, in die Lage versetzt wird, der ganzen Gesellschaft ihren Willen zu diktieren. Es ist notwendig, dass die gesamte Verwaltung, sämtliche Richter und alle Beamten ebenso stark vom sozialistischen Geist des Proletariats erfüllt sind, wie die heutigen Beamten und Richter vom Geist der Bourgeoisie erfüllt sind. Nur die Trade Unions sind imstande, die geeigneten Personen für einen solchen neuen Apparat zu liefern. Endlich werden die Trade Unions selbst die Verwaltungsorgane der nationalisierten Industriezweige. Ferner werden die Trade Unions zu Erziehungsschulen des Proletariats im Geiste der sozialistischen Produktion. Ihre künftige Rolle ist also unübersehbar. Aber jetzt sind sie zweifellos in einer Sackgasse aus der sich aber kein Ausweg mit Palliativmitteln und halben Maßnahmen finden lässt. Die Fäulnis des englischen Kapitalismus ruft unvermeidlich die Machtlosigkeit der Trade Unions hervor Nur die Revolution kann die englische Arbeiterklasse und so ihre Organisationen retten. Um die Macht zu erobern, muss das Proletariat von einer revolutionären Partei geführt werden. Damit die Trade Unions fähig sind, weitere Aufgaben zu übernehmen, muss man sie von den konservativen Beamten, abergläubischen Dummköpfen die von irgendwoher „friedliche" Wunder erwarten endlich von den ganz offenen Agenten des Großkapitals und Renegaten in der Art eines Thomas befreien. Die reformistische, opportunistische, liberale Arbeiterpartei kann nur die Trade Unions schwächen und so die Aktivität der Massen lähmen. Die revolutionäre Arbeiterpartei, die sich auf die Trade Unions stützt, wird gleichzeitig zum mächtigen Werkzeug der Gesundung und des Wachstums der Trade Unions.

Die antiliberale „despotische" Zwangseinziehung der politischen Beiträge enthält alle Methoden des Bolschewismus so, wie sich in einem Saatkorn Stängel und Ähre befinden, gegen die MacDonald nicht müde wird, das heilige Wasser seiner entrüsteten Beschränktheit auszusprengen. Die Arbeiterklasse hat das Recht und die Pflicht, ihren durchdachten Klassenwillen über alle Fiktionen und Sophismen der bürgerlichen Demokratie zu stellen. Sie muss im Geiste desselben revolutionären Selbstbewusstseins handeln, das Cromwell der jungen englischen Bourgeoisie eingeimpft hat. Seinen Puritanerrekruten hat Cromwell, wie wir bereits gehört haben, eingehämmert: „Ich will euch nicht betrügen, ich will euch nicht überzeugen, wie es mir in der Instruktion befohlen ist, dass ihr für König und Parlament in den Kampf geht. Welcher Feind mir auch Angesicht in Angesicht gegenüberstehen mag, wer er auch immer sei, ich werde die Pistole gegen ihn abfeuern, wie gegen jeden anderen Feind; wenn euch das Gewissen verbietet, ebenso zu handeln, geht und dient einem anderen." Aus diesen Worten sprechen weder Blutdurst noch Despotismus, sondern das Bewusstsein einer großen geschichtlichen Mission, die das Recht verleiht, alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Die junge fortschrittliche Klasse, die sich zum ersten Male berufen fühlt, spricht aus Cromwells Mund. Wenn man nationale Traditionen sucht, soll das englische Proletariat diesen Geist des revolutionären Selbstbewusstseins und der tapferen Offensivlust den alten Independenten entleihen. Die MacDonalds, Webbs und Snowden und andere übernehmen von Cromwells Mitstreitern nur ihren religiösen Aberglauben und vermengen ihn mit echt fabischer Feigheit. Die proletarische Avantgarde muss den revolutionären Mut der Independenten mit der materialistischen Klarheit der Weltanschauung verbinden.

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Die englische Bourgeoisie ist sich völlig darüber klar, dass ihr die Hauptgefahr von den Trade Unions droht, und dass nur unter dem Druck dieser Massenorganisationen die Arbeiterpartei sich in eine revolutionäre Kraft verwandeln kann, nachdem sie ihre Leitung radikal erneuert hat. Eine der neuen Kampfmethoden gegen die Trade Unions ist der selbständige Zusammenschluss des administrativ-technischen Personals (der Ingenieure, Direktoren, Meister usw.), sie bilden „die dritte Partei in der Industrie". Die „Times" bekämpfen sehr geschickt und sehr kundig die Theorie der „Interessengemeinschaft von Hand- und Kopfarbeitern". Hier, wie auch in anderen Fällen machen sich die bürgerlichen Politiker mit großem Geschick die von ihnen selbst suggerierten fabischen Ideen zunutze. Die Gegenüberstellung von Arbeit und Kapital bringt der nationalen Entwicklung Schaden, sagen die „Times", wie alle Führer der Arbeiterpartei, und ziehen folgenden Schluss: Die Ingenieure, Direktoren, Administratoren, Techniker, die zwischen dem Kapital und der Arbeit stehen, wissen am besten die Interessen der Industrie „im Ganzen" zu würdigen und Frieden zwischen den Unternehmern und Lohnarbeitern zu stiften. Ebendeshalb muss das administrativ-technische Personal sich als „dritte Partei der Industrie" konstituieren. In der Sache selbst kommen hier die „Times" voll und ganz den Fabiern entgegen. Die prinzipielle Lage der letzteren ist reaktionär-utopisch gegen den Klassenkampf gerichtet und trifft vollkommen mit der gesellschaftlichen Lage des kleinbürgerlichen und mittelbürgerlichen Intellektuellen, Ingenieurs, Administrators zusammen, der zwischen Kapital und Arbeit steht und tatsächlich ein Werkzeug in den Händen des Kapitals ist, sich aber als unabhängig betrachten möchte, obwohl, je stärker er seine Unabhängigkeit von den proletarischen Organisationen unterstreicht, desto tiefer in die Sklaverei der kapitalistischen Organisationen gerät. Man kann ohne besonderes Risiko voraussagen, dass das Fabiertum in dem Maße, wie es unweigerlich aus den Trade Unions und der Arbeiterpartei heraus gedrängt wird, sein Schicksal immer mehr mit dem Schicksal der Zwischenelemente des industriellen, staatsbürokratischen und Handelsapparates verbinden wird. Die Unabhängige Arbeiterpartei wird von der Höhe ihrer zeitweiligen Erfolge innerhalb einer gewissen Zeit notwendig gestürzt, die „dritte Partei in der Industrie" werden und während des Kampfes der Kapitalisten und Arbeitern zwischen ihren Beinen herumlaufen.

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