VIII. Perspektiven

VIII. Perspektiven

Als Mrs. Lloyd George, die Frau des ehemaligen Premierministers, ihr kostbares Halsband verloren hatte, stellte das Organ der Arbeiterpartei, der „Daily Herald", Betrachtungen darüber an, dass die liberalen Führer zum Feinde überliefen und ihren Frauen kostbare Halsbänder schenkten. Im Verlauf dieser Betrachtungen zog der Leitartikel dieser Zeitung folgenden lehrreichen Schluss: „Die Existenz der Arbeiterpartei hängt vom Erfolg ihrer Bemühungen ab, die Arbeiterführer vom Betreten dieses verderblichen Weges fernzuhalten. Artur Ponsonby, der am Liberalismus verzweifelte, hat aber auch in der Arbeiterpartei nicht aufgehört, ein Liberaler zu sein, und stellt in derselben Nummer jener Zeitung eifrig Betrachtungen über die Vernichtung der großen Liberalen Partei durch ihre liberalen Führer Asquith und Lloyd George an. – Jawohl, sekundiert der Leitartikel – die liberalen Führer haben ihre einfachen Sitten und Manieren mit den Lebensgewohnheiten der Reichen vertauscht, mit denen sie mehr und mehr versippt sind; sie wurden im Verkehr mit den niederen Ständen hochmütig … usw. usw. Es scheint nichts Besonderes daran zu sein, dass die Führer einer liberalen d. h. einer jener beiden bürgerlichen Parteien, ein bürgerliches Leben führen. Aber den Liberalen in der Arbeiterpartei leuchtet der Liberalismus als ein abstraktes System hoher Ideen vor; und so erscheinen ihnen die liberalen Minister, die ihren Frauen Halsbänder kaufen, als Verräter an den Ideen des Liberalismus. Lehrreicher ist aber die Betrachtung darüber, wie man verhüten könne, dass die Arbeiterführer einen verderblichen Weg gehen. Es ist völlig klar, dass diese Betrachtungen zaghafte und stotternde Warnungen an die halbliberalen Arbeiterführer seitens der halbliberalen Journalisten der Arbeiterpartei sind, die mit den Stimmungen der Arbeiterleser rechnen müssen. Man kann sich ohne große Mühe die Demoralisation der Karrieremacher in jenen Kreisen der britischen Arbeiterpartei vorstellen, die die Minister stellen. Ein Hinweis auf den Protestbrief der Mrs. Lloyd George an die Redaktion des „Daily Herald" genügt, in dem sie auf einige Tatsachen anspielte, wie auf das „königliche" Geschenk, das MacDonald von seinem kapitalistischen Freund erhalten hat. Bei diesen Anspielungen biss sich die Redaktion sofort die Zunge ab. Eine klägliche Kinderei ist der Gedanke, dass man die Lebensweise der Führer der Arbeiterpartei durch moralisierende Erzählungen über das Halsband der Frau Lloyd George regulieren kann, als ob man überhaupt Politik mit abstrakten moralischen Maximen machen könnte. Die Moral einer Klasse, ihrer Partei, ihrer Führer ergibt sich vielmehr aus der Politik, wie sie im allgemeingeschichtlichen Sinne dieses Wortes verstanden wird. Die Organisationen der englischen Arbeiterklasse veranschaulichen am besten diesen Sinn. Der „Daily Herald" zog schließlich das Resümee und machte die Versippung mit der Bourgeoisie für die Lebensmoral der „Führer" verantwortlich. Aber diese Frage steht doch im engsten Zusammenhang mit den politischen Beziehungen zur Bourgeoisie! Vertritt man den Standpunkt des unversöhnlichen Klassenkampfes, so bleibt kein Platz für die Amicochonnerie: Das bürgerliche Milieu wird keinen Arbeiterführer locken, und die Bourgeoisie wird ihn auch gar nicht dort dulden. Aber die Führer der Arbeiterpartei verteidigen den Gedanken der gemeinsamen Arbeit der Klassen und der Annäherung ihrer Führer. „Gemeinsame Arbeit und gegenseitiges Vertrauen von Unternehmern und Arbeitern", lehrte Mr. Snowden in einer Parlamentssitzung dieses Jahres, „sind die Hauptbedingungen für den Wohlstand des Landes." Ähnliche Reden hören wir von Clynes, Webb und allen anderen Sternen. Denselben Standpunkt vertreten auch die Führer der Trade Unions: Immer wieder hören wir sie die Notwendigkeit häufigerer Begegnungen der Unternehmer und der Arbeitervertreter an einem gemeinsamen Tisch predigen. Dabei führt aber die Politik des permanenten „freundschaftlichen" Kontaktes der Arbeiterführer mit den bürgerlichen Geschäftemachern beim Suchen einer gemeinsamen Basis, d. h. beim Versuch zu eliminieren, was sie voneinander trennt, wie wir vom „Daily Herald "gehört haben, nicht nur zu einer Gefahr für die Moral der Führer, sondern auch für die Entwicklung der Partei. Was soll man also machen? Als John Burns das Proletariat verriet, erklärte er: „Ich will nichts von einem besonderen Arbeiterstandpunkt wissen, wie ich keine Arbeiterstiefel tragen und keine Arbeitermargarine essen will." Zweifellos brachte John Burns es mit solchen Anschauungen als bürgerlicher Minister so weit, dass er bedeutend bessere Butter aß und bessere Stiefel trug. Aber Burns' Evolution hat die Stiefel der Hafenarbeiter kaum verbessert, auf deren Schultern Burns hochstieg. Die Moral ergibt sich aus der Politik. Wenn Snowdens Budget der City gefallen soll, muss Snowdens Lebensführung und Moral den Bankmanagern näherstehen als den Bergarbeitern von Wales. Und wie verhält es sich mit Thomas? Wir haben schon früher vom Bankett der Eisenbahnunternehmer erzählt, auf dem der Sekretär des Verbandes der Eisenbahner, Thomas, schwor, dass seine Seele nicht der Arbeiterklasse gehöre, sondern „der Wahrheit", und dass er am Bankett teilnehme, um diese Wahrheit zu suchen. Aber es ist interessant, dass die „Times" einen ausführlichen Bericht über diese Niedertracht brachten, während sie mit keiner Silbe im „Daily Herald" erwähnt wurde. Das unglückliche Blättchen moralisiert ins Leere. Versucht doch, die Thomasse durch die Parabel vom Halsband der Frau Lloyd George zu zähmen. Aber das wird nichts helfen. Man muss diese Thomasse hinauswerfen. Aber dann darf man die Umarmungen Thomas' mit den Feinden auf den Banketts und anderswo nicht verschweigen, sondern muss schreien, muss sie entlarven und muss die Arbeiter auffordern, ihre Reihen erbarmungslos zu säubern. Um die Moral zu verändern, muss man die Politik ändern.

Als diese Zeilen geschrieben waren (im April 1925), stand die offizielle Politik Englands trotz der konservativen Regierung im Zeichen eines Kompromisses: Es ist notwendig, die „gemeinsame Arbeit" beider Industrieparteien zu verwirklichen, es sind Zugeständnisse auf beiden Seiten notwendig, man muss die Arbeiter in dieser oder jener Form an den Industrieeinkünften beteiligen.

Diese Äußerungen der Konservativen spiegeln die Macht des englischen Proletariats, aber auch seine Schwäche wider! Es hat die Konservativen zur Orientierung einer „Versöhnungspolitik" gezwungen durch Erschaffung seiner eigenen Partei. Aber das Proletariat gestattet den Konservativen noch, auf die „Versöhnung" zu hoffen, weil das Proletariat den MacDonalds, Thomas & Co. die Führerschaft der Arbeiterpartei belässt.

Baldwin hält eine Rede nach der anderen über die Notwendigkeit der gegenseitigen Toleranz, weil das Land sonst nicht ohne Katastrophe die augenblickliche schwierige Lage überwinden werde. Über diese Reden äußert sich der „Arbeiterführer" Robert Smillie vollauf befriedigt: „Welch schöner Aufruf zur Toleranz in beiden Lagern!" Smillie verspricht, mit Leib und Seele diesem Aufruf zu folgen. Er hofft, dass auch die Industriekapitäne den menschlicheren Weg zugunsten der Arbeiterforderungen beschreiten werden. „Ein völlig berechtigtes und vernünftiges Verlangen", bestätigt "mit ernstester Miene die führende Zeitung „Times". Und alle diese widerlich süßen Reden werden im Zeichen handelsindustrieller Schwierigkeiten, chronischer Arbeitslosigkeit, der Aufgabe britischer Schiffbaubestellungen in Deutschland und drohender Konflikte in einer ganzen Reihe von Industriezweigen gehalten – und wo? – in England mit seinen Erfahrungen in Klassenschlachten. Wahrhaftig – das Gedächtnis der arbeitenden Massen ist kurz, und ohne Beispiel ist die Scheinheiligkeit der Regierenden! Die Bourgeoisie hat ein gutes historisches Gedächtnis für ihre Herrschaftstraditionen, ihre Institutionen, für die Gesetze des Landes und für die Überlieferungen der Regierungskunst. Die Gedächtnisstärke der Arbeiterklasse offenbart sich in ihrer Partei. Die reformistische Partei ist die Partei des kurzen Gedächtnisses.

Wenn das Paktieren der Konservativen scheinheilig ist, so ist es doch durch ernste Ursachen erzwungen. Auf den regierenden Parteien Europas lastet jetzt vor allem die Sorge um die Erhaltung des äußeren und inneren Friedens. Die sog. „Reaktion" gegen den Krieg und gegen die Methoden der ersten Nachkriegsperiode ist nicht nur aus psychologischen Ursachen zu erklären. Das kapitalistische Regime hat sich während des Krieges so mächtig und so elastisch erwiesen, dass es besondere Illusionen des Kriegskapitalismus ins Leben gerufen hat. Die kühn zentralisierte Leitung des wirtschaftlichen Lebens, die kriegerische Eroberung der fehlenden wirtschaftlichen Güter, das Leben auf Kredit, die unbegrenzte Ausgabe des Papiergeldes, die Liquidierung der sozialen Gefahren mit Hilfe der blutigen Vergewaltigung einerseits und der verschiedensten Almosen andererseits – beim ersten Blick, in den Nachwehen des Krieges schien es, als ob diese Methode alle Fragen zu entscheiden und alle Schwierigkeiten zu besiegen vermöchten. Aber die wirtschaftlichen Realitäten haben sehr schnell den Illusionen des Kriegskapitalismus die Flügel beschnitten. Deutschland steht am äußersten Rand des Abgrundes. Der Staat des reichen Frankreich kommt aus dem maskierten Bankrott nicht heraus. Der englische Staat ist gezwungen, eine ganze Armee von Arbeitslosen zu unterhalten, die fast doppelt so, groß ist wie die Armee des französischen Militarismus. Es hat sich herausgestellt, dass der Reichtum Europas keineswegs unbegrenzt ist. Die Fortsetzung der Kriege und Erschütterungen hätte den unvermeidlichen Untergang des europäischen Kapitalismus bedeutet. Daraus resultiert die Sorge um die Herstellung der „normalen" Beziehungen zwischen den Staaten und Klassen. Mit der Angst vor Erschütterungen haben die englischen Konservativen während der letzten Wahlen sehr geschickt gespielt. Als sie zur Macht kamen, traten sie als die Partei der Versöhnung, der Verständigung, des sozialen Gönnertums auf. „Sicherheit ist der Schlüssel zur Position." Diese Worte des liberalen Lord Greys wiederholt der konservative Austen Chamberlain. Von der Wiederholung dieser Worte fristet die englische Presse beider bürgerlichen Lager ihr Leben. Die Bemühungen um Befriedung, Schaffung „normaler" Bedingungen, Sicherung der festen Valuta, Wiederherstellung der Handelsverträge lösen die Widersprüche nicht, die zum imperialistischen Kriege geführt und durch den Krieg nur noch eine Verschärfung erfahren haben. Aber nur diese Bemühungen und die neuen politischen Gruppierungen, die aus solchem Boden erwachsen, lehren einen die augenblicklichen Tendenzen der inneren und äußeren Politik der regierenden Parteien Europas verstehen.

Es ist nicht nötig, zu erklären, dass die friedlichen Tendenzen bei jedem Schritt auf den Widerstand der Nachkriegsökonomie stoßen. Die englischen Konservativen haben schon versucht, das Arbeitslosenversicherungsgesetz zu untergraben. Nur durch Senkung der Arbeiterlöhne vermag man die englische Industrie in ihrem heutigen Zustande konkurrenzfähiger zu machen; aber dies Ziel ist unerreichbar, solange man die heutige Arbeitslosenversicherung beibehält, die die Widerstandskraft der Arbeiterklasse erhöht. Um diese Position haben bereits die Vorpostengefechte begonnen. Sie können zu ernsten Kämpfen führen. Jedenfalls werden die Konservativen hier wie anderswo sehr bald gezwungen werden, in ihrer eigensten Sprache zu reden. Die führenden Kreise der Arbeiterpartei werden unter solchen Umständen in immer schwierigere Lage geraten.

Es ist hier ganz angebracht, an die Vorgänge zu erinnern, die sich im Unterhaus nach den Wahlen im Jahre 1906 abspielten, als eine bedeutende Arbeiterfraktion zum ersten Male die Parlamentsarena betrat, in den ersten beiden Jahren wurden die Arbeiterdeputierten besonders zuvorkommend behandelt. Im dritten Jahre begannen sich die Beziehungen bedeutend zu verschlechtern. Im Jahre 1910 hat das Parlament bereits die Arbeiterfraktion „ignoriert". Daran war keineswegs etwa eine unversöhnliche Haltung der Arbeiterfraktion schuld, vielmehr erhoben außerhalb des Parlaments die Arbeitermassen immer größere Forderungen. Da sie eine bedeutende Zahl von Abgeordneten gewählt hatten, erwarteten sie eingreifende Veränderungen ihrer Last. Diese Erwartungen rechnen zu jenen Faktoren, die die mächtigste Streikbewegung der Jahre 1911/1913 vorbereitet haben.

Dieser Rückblick gestattet einige Schlussfolgerungen für den heutigen Augenblick. Der Flirt der Baldwinschen Mehrheit mit der Arbeiterfraktion wird sich unweigerlich ins Gegenteil verkehren, je entscheidender der Druck der Arbeiter auf ihre Fraktion, auf das Kapital und das Parlament ausgeübt wird. Von einer solchen Entwicklung haben wir bereits im Zusammenhang mit der Frage der Rolle der Demokratie und der revolutionären Gewalt in den Wechselbeziehungen der Klassen gesprochen. Jetzt wollen wir dieselbe Frage vom Standpunkt der inneren Entwicklung der Arbeiterpartei selbst betrachten.

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Die führende Rolle in der britischen Arbeiterpartei spielen bekanntlich die Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei mit MacDonald an der Spitze. Die Unabhängige Arbeiterpartei hat nicht nur vor dem Kriege, sondern auch während des Krieges den pazifistischen Standpunkt eingenommen, den Sozialimperialismus „verurteilt" und gehörte überhaupt der zentristischen Strömung an. Das Programm der Unabhängigen Partei richtet sich „gegen den Militarismus, gleichgültig in welcher Form". Nach Kriegsende trat die Unabhängige Partei aus der 2. Internationale im Jahre 1920 laut Konferenzbeschluss aus. Die Unabhängigen haben sogar mit der 3. Internationale Fühlung genommen und ihr 12 Fragen gestellt, eine immer tiefsinniger als die andere. Die 7. Frage lautete: „Können Kommunismus und Diktatur des Proletariats nur durch die bewaffnete Macht verwirklicht werden, oder werden zum Anschluss an die 3. Internationale Parteien zugelassen, die diese Frage offen lassen?" Folgendes Bild ist sehr lehrreich: Der Schlächter ist mit einem krummen Messer bewaffnet, und das Kälbchen lässt die Frage offen. Aber trotzdem hat in jener kritischen Zeit die Unabhängige Partei die Frage des Eintritts in die Kommunistische Internationale offen gelassen, während sie jetzt die Kommunisten aus der Arbeiterpartei ausschließt. Der Widerspruch zwischen der gestrigen Politik der Unabhängigen Partei und der heutigen Politik der Arbeiterpartei besonders in jenen Monaten, in denen sie an der Macht war, fällt in die Augen. Und auch heute noch unterscheidet sich die Politik der Fabier in der Unabhängigen Arbeiterpartei von der Politik derselben Fabier in der Arbeiterpartei. In diesen Widersprüchen spiegelt sich matt der Kampf der Tendenzen des Zentrismus und des Sozialimperialismus wider. In MacDonalds Politik selbst kreuzen und kombinieren sich diese Tendenzen, so dass der christliche Pazifist leichte Kreuzer baut in Erwartung der Zeit, wo man schwere Kreuzer wird bauen müssen.

Der sozialistische Zentrismus zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass man nicht ausspricht, was ist, lückenhafte Beweise führt und sich in verschwommenen Redensarten gefällt. Er hält sich so lange, als er nicht die letzten Konsequenzen zieht und nicht gezwungen wird, positiv gestellte Grundfragen zu beantworten. In friedlichen „organischen" Epochen kann sich der Zentrismus halten, kann sogar als offizielle Doktrin einer großen und aktiven Arbeiterpartei gelten, wie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem Kriege, weil in einer solchen Periode die Entscheidung über die Grundfragen des staatlichen Lebens nicht von der Partei des Proletariats abhängt. Im Allgemeinen ist der Zentrismus eher eine Eigentümlichkeit kleiner Organisationen, die eben mangels eines Einflusses der Notwendigkeit enthoben werden, alle Fragen der Politik klar zu beantworten und ihre Entscheidungen praktisch zu vertreten. So sah der Zentrismus der Unabhängigen Arbeiterpartei aus.

Der imperialistische Krieg hat zu klar offenbart, dass die Arbeiterbürokratie und die Arbeiteraristokratie in der vorhergehenden Periode der kapitalistischen Blüte es fertiggebracht haben, der tiefen kleinbürgerlichen Degeneration in ihrer Lebensführung und ihrer gesamten geistigen Einstellung zu erliegen. Aber der Kleinbourgeois wahrt den Schein der Selbständigkeit bis zum ersten Stoß. Der Krieg hat mit einem Schlage die politische Abhängigkeit des Kleinbourgeois vom großen und größten Bourgeois offenbart und fixiert. Der Sozialimperialismus war der Ausdruck dieser Abhängigkeit innerhalb der Arbeiterbewegung. Im Zentrismus, soweit er sich während des Krieges und nach dem Kriege aufrecht erhält und sogar erst recht aufblühte, äußerte sich die Angst des Kleinbourgeois unter den Bürokraten der Arbeiterpartei vor der völligen und vornehmlich ganz offenen Aufsaugung durch den Imperialismus. Die deutsche Sozialdemokratie, die eine Reihe von Jahren, schon zu Zeiten Bebels, faktisch eine zentristische Politik getrieben hat, konnte in den Kriegsjahren diesen Standpunkt schon wegen ihrer Macht nicht aufrechterhalten: Hier musste man entweder gegen den Krieg auftreten, d. h. tatsächlich den revolutionären Weg betreten, oder für den Krieg sein, d. h. offen ins Lager der Bourgeoisie übergehen. Die Unabhängige Arbeiterpartei Englands, die eine propagandistische Organisation innerhalb der Arbeiterklasse war, konnte nicht nur ihre zentristischen Züge im Kriege bewahren, sondern sogar noch zeitweilig verstärken, indem sie „die Verantwortung von sich abwälzte", sich mit platonischen Protesten und pazifistischen Predigten begnügte, indem sie keinen einzigen ihrer Gedanken konsequent durchführte und dem kriegführenden Staate keine ernsten Schwierigkeiten machte. Einen zentristischen Charakter hatte die Opposition der Unabhängigen in Deutschland, die auch „die Verantwortung von sich abwälzte" und keineswegs die Scheidemänner und Eberte hinderte, die gesamte Macht der Arbeiterorganisation dem kriegführenden Kapital zur Verfügung zu stellen.

In England haben wir nach dem Kriege eine ganz außerordentliche „Zusammenfassung" der sozialimperialistischen und zentristischen Tendenzen in der Arbeiterbewegung beobachtet. Die Unabhängige Arbeiterpartei eignete sich, wie schon gesagt, am besten für die Rolle der verantwortungslosen zentristischen Opposition, die zwar kritisiert, aber den Herrschenden keinen großen Schaden zufügt. Jedoch waren die Unabhängigen gezwungen, für eine kurze Frist eine politische Macht zu werden, und dieser Umstand hat zugleich ihre Rolle wie ihre Physiognomie verändert.

Eine Macht wurden die Unabhängigen infolge der Kreuzung zweier Ursachen: Die Geschichte versetzte die Arbeiterklasse in die Notwendigkeit, eine selbständige Partei zu bilden, der Krieg und die Nachkriegsperiode weckten die Massen der Millionen und schufen in der ersten Zeit eine günstige Resonanz für die Ideen des Arbeiterpazifismus und Reformismus. Natürlich spukten auch vor dem Kriege nicht geringe demokratisch-pazifistische Illusionen in den Köpfen der englischen Arbeiter. Trotzdem war der Unterschied gewaltig: In der Vergangenheit brachte das englische Proletariat, soweit es am politischen Leben teilnahm, seine demokratisch-pazifistischen Illusionen in Einklang mit der Tätigkeit der liberalen Partei – besonders im Verlaufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Liberale Partei hat diese Hoffnungen „nicht erfüllt" und das Vertrauen der Arbeiter verloren. So entstand eine besondere Arbeiterpartei, eine unschätzbare geschichtliche Eroberung, die sich nicht wieder aus der Geschichte tilgen lässt. Aber man muss sich klar darüber Rechenschaft ablegen, dass die Arbeitermassen mehr durch Fehlen eines guten Willens des Liberalismus enttäuscht wurden als durch die demokratisch-pazifistischen Methoden der Lösung der sozialen Frage, um so mehr, als neue Generationen, neue Millionen zum ersten Male in die Politik kamen. Für diese neuen Massen ist die Arbeiterpartei der Hort ihrer Hoffnungen und Illusionen geworden. Eben deshalb, und nur deshalb haben die Unabhängigen die Möglichkeit gewonnen, der Kopf der Partei zu werden. Jenseits der demokratisch-pazifistischen Illusionen der Arbeitermassen ist der Klassenwille erwacht, die tiefe Unzufriedenheit mit der Lage, die Bereitschaft, ihre Forderungen mit allen Mitteln, die die Lage erfordert, zu unterstützen. Aber die Arbeiterklasse kann die Partei nur mit Hilfe jener ideologischen und persönlichen leitenden Elemente aufbauen, die durch die gesamte vorangegangene Entwicklung des Landes, durch seine ganze theoretische und politische Kultur für eine solche Aufgabe vorbereitet sind. Allgemein gesagt: Hier ist die Quelle des großen Einflusses der kleinbürgerlichen Intelligenz, natürlich einschließlich der Arbeiteraristokraten und Bürokraten. Die Bildung der britischen Arbeiterpartei ist eben deshalb notwendig, weil sich in den Massen des Proletariats ein gewaltiger Ruck nach links vollzog. Die äußere politische Form dieses Ruckes wurde das Los der Vertreter des kraftlosen konservativ-protestantischen Pazifismus, die im gegebenen Augenblick zur Stelle waren. Aber da sie ihren Stab auf Grund der Stimmen von mehreren Millionen organisierten Arbeitern aufgebaut haben, konnten die Unabhängigen sich nicht treu bleiben, d. h. sie konnten nicht glatt ihren zentristischen Charakter auf die Partei des Proletariats übertragen. Da sie zufällig Leiter einer Millionenarbeiterpartei wurden, konnten sie sich nicht mehr begnügen, nach zentristischer Methode nicht auszusprechen, was ist, oder in pazifistischer Passivität zu verharren. Sie waren gezwungen, zuerst als verantwortungsvolle Opposition, dann in ihrer Eigenschaft als Regierung, mit Ja oder Nein auf die schärfsten Fragen des Staatslebens zu antworten. Vom Augenblick an, wo der Zentrismus eine politische Kraft wurde, musste er den Rahmen des Zentrismus verlassen, musste entweder revolutionäre Schlüsse aus seiner Opposition gegen den imperialistischen Staat ziehen oder offen in seine Dienste treten. Natürlich geschah das letztere. Der Pazifist MacDonald begann Schlachtkreuzer zu bauen, Inder und Ägypter ins Gefängnis zu werfen, in der Diplomatie mit falschen Dokumenten zu operieren. Indem der Zentrismus eine politische Kraft wurde, wurde er als Zentrismus eine Null. Der scharfe Ruck der englischen Arbeiterklasse nach links, der überraschend schnell die Partei MacDonalds zur Macht brachte, bedingte ihren offenen Ruck nach rechts. So der Zusammenhang zwischen gestern und heute, daher betrachtet die kleine Unabhängige Arbeiterpartei mit saurer Miene zweifelnd ihre eigenen Erfolge und versucht sich das Ansehen einer zentristischen Partei zu geben.

Das praktische Programm der britischen Arbeiterpartei, die von den Unabhängigen geleitet wird, trägt faktisch liberalen Charakter und ist, besonders in der äußeren Politik, eine verspätete Wiederholung der Gladstoneschen Kraftlosigkeit. Gladstone war „gezwungen", Ägypten sich anzueignen, genau so, wie MacDonald „gezwungen" war, Schlachtkreuzer zu bauen. Beaconsfields Politik spiegelte besser als Gladstones Politik die imperialistischen Bedürfnisse des Kapitals wider. Die Handelsfreiheit löst jetzt keine einzige Frage mehr. Der Verzicht auf die Befestigung Singapores ist ein Nonsens vom Standpunkt des ganzen Systems des großbritannischen Imperialismus aus. Singapore ist ein Schlüssel zu zwei Ozeanen. Wer die Kolonien behalten will, d. h. wer die imperialistische Raubpolitik fortsetzen will, muss diesen Schlüssel in Händen haben, MacDonald verharrt auf der Grundlage des Kapitalismus, trifft aber feige Änderungen, die nichts lösen, kein Akt der Befreiung sind – im Gegenteil alle Schwierigkeiten und Gefahren vergrößern.

In der Frage des Schicksals der englischen Industrie besteht in der Politik der drei Parteien kein ernster Unterschied. Der Hauptzug dieser Politik ist Zerfahrenheit, die aus der Angst vor Erschütterungen geboren ist. Alle drei Parteien sind konservativ und fürchten Industriekonflikte am meisten. Das konservative Parlament hat sich geweigert, für die Bergarbeiter den Minimalarbeitslohn festzusetzen. Die von den Bergarbeitern gewählten Abgeordneten sagen, diese Auffassung des Parlaments wäre eine „direkte Aufforderung zu revolutionären Aktionen", obwohl kein Abgeordneter ernstlich an revolutionäre Aktionen denkt. Die Kapitalisten schlagen den Arbeitern vor, gemeinsam den Zustand der Gruben zu untersuchen, weil sie hoffen, zu beweisen, was keiner Beweise bedarf, nämlich, dass beim jetzigen System der Kohlenindustrie, des desorganisierten Privateigentums die Kohle auch bei niedriger Bezahlung der Lohnarbeit viel kostet. Die konservative und liberale Presse erblicken in dieser Untersuchung die Rettung. Die Arbeiterführer gehen denselben Weg. Alle fürchten die Streiks, die das Übergewicht der ausländischen Konkurrenten verstärken könnten. Wenn aber unter den Bedingungen des Kapitalismus irgendeine Rationalisierung der Produktion überhaupt möglich ist, so lässt sie sich ohne größten Streikdruck seitens der Arbeiter nicht erreichen. Die Führer unterstützen den Prozess des wirtschaftlichen Stillstandes und der Fäulnis, indem sie auf dem Wege über die Trade Unions die Arbeitermassen paralysieren.

Einer der ganz ausgesprochenen Reaktionäre in der britischen Arbeiterpartei, Dr. Chadden Guest, ein Chauvinist, Militarist und Protektionist, hat sich im englischen Parlament erbarmungslos über die Politik seiner eigenen Partei gegenüber dem Freihandel und Protektionismus lustig gemacht: Die Einstellung MacDonalds, sagt Guest, trägt rein negativen Charakter und zeigt keinen Ausweg aus der wirtschaftlichen Sackgasse. Die Unwirksamkeit des Freihandels ist gewiss ganz klar: Der Zusammenbruch des Freihändlertums hat auch den Zusammenbruch des Liberalismus bedingt. Aber ebenso wenig darf England einen Ausweg im Protektionismus suchen. Für ein junges, eben in Entwicklung begriffenes kapitalistisches Land kann der Protektionismus ein unvermeidliches und fortschrittliches Entwicklungsstadium sein. Aber für das älteste industrielle Land, dessen Industrie mit dem Weltmarkt rechnet und offensiven, eroberungslustigen Charakter trägt, ist der Übergang zum Protektionismus ein geschichtlicher Beweis für den Beginn des Absterbungsprozesses und bedeutet in Praxis die Unterstützung einzelner Industriezweige, die unter den gegebenen Verhältnissen der Weltlage weniger lebensfähig sind, auf Kosten anderer Zweige derselben englischen Industrie, die sich den Bedingungen des Binnen- und des Weltmarktes besser angepasst haben. Dem Programm des alternden Protektionismus der Partei Baldwins kann man keineswegs das Programm des senil-kraftlosen Freihandels gegenüberstellen, sondern einzig und allein das praktische Programm des sozialistischen Umsturzes. Aber um dies Programm aufzunehmen, muss man zuvor die Partei von reaktionären Protektionisten wie Guest und reaktionären Freihändlern wie MacDonald säubern.

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Woher und wie kann sich eine Änderung der Politik der Arbeiterpartei vollziehen, die ohne eine radikale Ablösung der Leitung undenkbar ist?

Da im Vollzugsausschuss und anderen wichtigen Institutionen der britischen Arbeiterpartei die Unabhängige Arbeiterpartei die absolute Mehrheit besitzt, bildet sie die regierende Fraktion in der Arbeiterpartei. Dies System der Wechselbeziehungen innerhalb der englischen Arbeiterbewegung liefert beiläufig sehr wertvolles Material zur Frage „der Diktatur der Minderheit". Denn als eine Diktatur der Minderheit definieren die Führer der britischen Partei die Rolle der Kommunistischen Partei in der Sowjetrepublik. Wir sehen aber, dass die Unabhängige Arbeiterpartei, die etwa 30.000 Mitglieder zählt, eine leitende Stellung in einer Organisation eingenommen hat, die durch die Trade Unions sich auf Millionen von Mitgliedern stützt. Und diese Organisation, d. h. die Arbeiterpartei, gelangt dank der Zahlenstärke und der Rolle des englischen Proletariats zur Macht.

So gewinnt also eine nichtige Minderheit von 30.000 Menschen die Macht in einem Land, das 40 Millionen Einwohner zählt und über hunderte Millionen von Menschen befiehlt.

So führt die waschechteste „Demokratie" zu einer Parteidiktatur der Minderheit. Gewiss, die „Diktatur" der Unabhängigen Arbeiterpartei ist vom Klassenstandpunkt aus kein ausgeblasenes Ei wert, aber das ist eine Frage ganz anderer Ordnung. Wenn aber eine Partei von 30.000 Menschen ohne ein revolutionäres Programm, ohne Kriegserfahrungen, ohne jede Traditionen mit Hilfe einer amorphen Arbeiterpartei, die sich auf die Trade Unions stützt, nach den Methoden der bürgerlichen Demokratie zur Macht kommen kann, warum sind dann diese Herren so entrüstet oder verwundert, wenn eine kommunistische Partei, die theoretische und praktische Erfahrungen besitzt, die jahrzehntelang heldenmütig an der Spitze der Volksmassen gekämpft hat, dass diese Partei die hunderttausende von Mitgliedern zählt, zur Macht kommt, sich auf Massenorganisationen der Arbeiter und Bauern stützt? Jedenfalls ist der Besitz der Macht der Unabhängigen Arbeiterpartei unvergleichlich weniger begründet und verwurzelt als die Machtergreifung durch die Kommunistische Partei in Russland.

Aber die schwindelerregend schnelle Karriere der Unabhängigen Arbeiterpartei ist nicht nur vom Standpunkte der Polemik gegen die Auffassung der Diktatur der kommunistischen Minderheit interessant. Unvergleichlich wichtiger ist es, den schnellen Aufstieg der Unabhängigen vom Standpunkte des künftigen Schicksals der englischen kommunistischen Partei zu werten. Einige Schlussfolgerungen ergeben sich von selbst.

Die Unabhängige Arbeiterpartei, die im kleinbürgerlichen Milieu entstanden ist und nach ihren Gefühlen und Stimmungen dem Milieu der Gewerkschaftsbürokratie nahesteht, wurde der Kopf der Arbeiterpartei, als die Massen durch ihren Druck ihre Sekretäre zwangen, diese Partei zu bilden. Aber die Unabhängige Arbeiterpartei bereitet durch ihren märchenhaften Aufschwung, durch ihre politischen Methoden, durch ihre ganze Rolle den Weg für die Kommunistische Partei vor und säubert ihn. Im Laufe von Jahrzehnten hat die Unabhängige Arbeiterpartei ungefähr nur 30.000 Mitglieder um sich geschart. Und als die tiefen Veränderungen in der internationalen Lage und in der inneren Struktur der englischen Gesellschaft die Arbeiterpartei schufen, stellte sich plötzlich unerwartet die Nachfrage nach der Leitung der Unabhängigen ein. Derselbe Gang der politischen Entwicklung bereitet in der nächsten Etappe eine noch stärkere „Nachfrage" nach dem Kommunismus vor. Im Augenblick ist die Kommunistische Partei zahlenmäßig sehr schwach. Bei den letzten Wahlen brachte sie es nur auf 53.000 Stimmen, eine Zahl, die im Verhältnis zu den Millionen Stimmen der Arbeiterpartei einen niederschmetternden Eindruck machen kann, wenn man sich die Logik der politischen Entwicklung Englands nicht vergegenwärtigt. Man würde sich von den kommenden Ereignissen ein völlig falsches Bild machen, wenn man etwa denken würde, die Kommunisten würden im Laufe der Jahrzehnte schrittweise wachsen, indem sie bei jeder neuen Parlamentswahl einige neue zehn- oder hunderttausende Stimmen erobern würden. Gewiss, im Laufe einer bestimmten, verhältnismäßig langen Periode wird sich der Kommunismus relativ langsam entwickeln. Aber dann tritt unvermeidlich ein Umschlag ein: Die Kommunistische Partei wird in der Arbeiterpartei den Platz einnehmen, den jetzt die Unabhängigen innehaben.

Was ist dazu notwendig? Im Allgemeinen ist die Antwort völlig klar. Die Unabhängige Arbeiterpartei erlebte deshalb einen so unerhörten Aufstieg, weil sie der Arbeiterklasse geholfen hatte, eine dritte, d. h. eine eigene Partei zu schaffen. Die letzten Wahlen zeigen, wie enthusiastisch die englischen Arbeiter ihre Schöpfung betrachten. Aber die Partei ist nicht Selbstzweck. Die Arbeiter erwarten von ihr Aktionen, sie wollen Resultate sehen. Die englische Arbeiterpartei ist beinahe plötzlich hochgeschossen, als eine Partei, die unmittelbar die Macht beansprucht, und es bereits so weit gebracht hat, diese Macht zu besitzen. Trotz dem stark kompromittierenden Charakter der ersten „Arbeiterregierung" hat die Partei in den Neuwahlen über 1 Million neuer Stimmen erobert. Innerhalb der Partei hat sich aber ein sog. linker Flügel gebildet, der amorph ist, kein Rückgrat und keine selbständige Zukunft besitzt. Aber die bloße Tatsache des Aufkommens einer Opposition legt Zeugnis von gesteigerten Forderungen der Massen und vom gleichzeitigen Wachstum der Unruhe in den führenden Parteikreisen ab. Man braucht nur etwas die Natur der MacDonald, Thomas', Clynes, Snowden und anderer zu kennen, um sich vorzustellen, wie katastrophal sich die Gegensätze zwischen den Forderungen der Massen und dem stumpfsinnigen Konservativismus der leitenden Spitzen der Arbeiterpartei zuspitzen werden, besonders im Falle einer neuen Machteroberung.

In der Schilderung dieser Perspektiven gehen wir von der Voraussetzung aus, dass die augenblickliche internationale und innere Lage des englischen Kapitalismus sich nicht nur nicht bessern, sondern sich im Gegenteil vielmehr noch verschlechtern wird. Sollte sich diese Prognose als unrichtig herausstellen, sollte es der englischen Bourgeoisie gelingen, das Imperium fest zusammenzuhalten, die alte Stellung auf dem Weltmarkte zurückzuerobern, die Industrie zu heben, den Arbeitslosen Arbeit zu geben und den Arbeitslohn zu erhöhen, so hätte die politische Entwicklung einen reaktionären Charakter angenommen: Wiederum hätte sich der aristokratische Konservativismus der Trade Unions verstärkt, die Arbeiterpartei wäre dem Niedergange geweiht, innerhalb der Partei wäre der rechte Flügel erstarkt und hätte sich dem Liberalismus genähert, der selbst wieder eine gewisse neue Lebenskraft verspürt hätte. Aber es liegt nicht die geringste Veranlassung vor, eine solche Prognose zu stellen. Vielmehr lässt sich folgendes sagen: Welche beiläufigen Schwankungen der wirtschaftlichen und politischen Konjunktur auch bevorstehen mögen, alles deutet auf eine weitere Verschärfung und Vertiefung der Schwierigkeiten hin, die England jetzt zu bestehen hat, und so spricht alles für eine weitere Beschleunigung des Tempos seiner revolutionären Entwicklung. Und unter solchen Bedingungen erscheint es sehr wahrscheinlich, dass die Arbeiterpartei in einer der kommenden Etappen die Regierung an sich reißen wird, und völlig unvermeidlich erscheint der Konflikt zwischen der Arbeiterklasse und den führenden fabischen Kreisen, die jetzt den Kopf der Arbeiterklasse darstellen.

Die Unabhängigen spielen deshalb heute eine solche Rolle, weil sich ihr Weg mit dem Wege des Proletariats getroffen hat. Aber dies soll absolut nicht heißen, dass diese Wege für alle Ewigkeit zusammengeflossen sind. Das rasche Steigen des Einflusses der Unabhängigen spiegelt nur die außerordentliche Stoßkraft der Arbeiterklasse wider; aber eben diese Stoßkraft, die durch die gesamte Lage bedingt ist, wird die englischen Arbeiter in einen Zusammenstoß mit den unabhängigen Führern verwickeln. Von der Stärke des Grades hängt es ab, ob die revolutionären Eigenschaften der britischen kommunistischen Partei – natürlich bei einer richtigen Politik – einen millionenfachen Widerhall finden werden.

Es gibt eine gewisse Analogie im Schicksal der Kommunistischen und der Unabhängigen Partei. Beide haben lange mehr als propagandistische Gesellschaft, denn als eine Partei der Arbeiterklasse existiert. Dann wurde, infolge der tiefgreifenden Umwälzung der geschichtlichen Entwicklung Englands, die Unabhängige Partei der Kopf des Proletariats. Nach einem gewissen Zwischenstadium wird, wie wir glauben, die Kommunistische Partei auch denselben Aufschwung erleben.A Ihr Weg wird in einem gewissen Augenblick mit dem großen, geschichtlichen Weg des englischen Proletariats zusammenlaufen. Doch wird diese Vereinigung sich völlig anders vollziehen, wie ehedem in der Unabhängigen Partei. In der Unabhängigen Partei stellte die Bürokratie der Trade Unions das bindende Glied dar. Die Unabhängigen können insofern den Kopf der Arbeiterpartei darstellen, als die Bürokratie der Gewerkschaften die selbständige vorwärts treibende Stoßkraft des klassenbewussten Proletariats schwächt, neutralisiert und abbiegt. Die Kommunistische Partei kann umgekehrt nur dann an die Spitze der Arbeiterklasse gelangen, wenn die Arbeiterklasse in unüberbrückbaren Gegensatz zur konservativen Bürokratie in den Trade Unions und der Arbeiterpartei gelangt. Die Kommunistische Partei kann sich auf die Führung der Arbeiterklasse nur durch die erbarmungslose Kritik der gesamten Leiter der englischen Arbeiterbewegung, nur durch tägliche Enthüllung ihrer konservativen, antiproletarischen, imperialistischen, monarchistischen Lakaienrolle auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens und der Klassenbewegung vorbereiten.

Die Politik des linken Flügels der Arbeiterpartei bedeutet den Versuch der Wiedergeburt des Zentrismus innerhalb der sozialimperialistischen Partei MacDonalds. Selbst noch in diesem Prozess spiegelt sich die Sorge eines Teiles der Arbeiterbürokratie um den Zusammenhang mit den nach links abströmenden Massen wider. Es wäre eine ungeheuere Illusion, wenn man etwa denken wollte, dass diese linken Elemente der alten Schule fähig wären, die Führung der revolutionären Bewegung des englischen Proletariats und seiner Kämpfe um die Macht zu übernehmen. Sie repräsentieren eine Formation, deren Entwicklung völlig abgeschlossen ist. Ihre Elastizität ist sehr beschränkt, ihre Linkstendenz ist rein opportunistisch. Sie führen weder die Massen zum Kampf, noch sind sie fähig, es zu tun. Im Rahmen ihrer reformistischen Beschränktheit erneuern sie den alten verantwortungslosen Zentrismus, ohne MacDonald zu hindern, oder richtiger gesagt: sie helfen ihm die Verantwortung für die Leitung der Partei und in manchen Fällen für die Schicksale des britischen Imperiums zu tragen.

Dies Bild trat völlig eindeutig auf dem Gloucester Parteitag der Unabhängigen Arbeiterpartei (Ostern 1925) in Erscheinung. Die Unabhängigen murrten gegen MacDonald, billigten aber doch die sog. „Tätigkeit" der Arbeiterregierung mit 398 gegen 139 Stimmen. Aber auch die Opposition konnte sich den Luxus der Nichtbilligung nur deshalb erlauben, weil MacDonalds Mehrheit gesichert war. Die Unzufriedenheit der Linken mit MacDonald ist die Unzufriedenheit des Zentrismus mit sich selbst. Die Politik MacDonalds kann man durch keine mosaikartigen Verschönerungen verbessern. Wird der Zentrismus zur Macht gelangen, so wird er unweigerlich eine MacDonaldsche, d. h. eine kapitalistische Politik treiben. In Wahrheit kann man der Linie MacDonalds nur die Linie einer sozialistischen Diktatur des Proletariates gegenüberstellen. Man gäbe sich der größten Illusion hin, wenn man etwa denken würde, die Partei der Unabhängigen wäre imstande, sich zur revolutionären Partei des Proletariats zu entwickeln. Die Fabier müssen verdrängt, von „ihren Sitzen heruntergeholt werden". Dies Ziel lässt sich aber nur im unversöhnlichen Kampf mit dem Zentrismus der Unabhängigen erreichen.

Je klarer und schärfer die Frage der Eroberung der Macht auftritt, desto mehr versucht die Unabhängige Arbeiterpartei sich um die Verantwortung zu drücken, sie lässt das revolutionäre Grundproblem verschwinden und schiebt die bürokratischen Erfindungen über die besten parlamentarischen und finanziellen Methoden der Nationalisierung der Industrie in den Vordergrund. Eine Kommission der Unabhängigen Arbeiterpartei kam zum Schluss, dass eine Expropriation von Grund und Boden, von Werken und Fabriken gegen Entschädigung der bloßen Konfiskation vorzuziehen sei, denn in England wird sich die Nationalisierung, wie die Kommission nach Baldwins Methode ahnt, schrittweise, graduell vollziehen, und so wäre es „ungerecht", diese Kapitalistengruppe zur gleichen Zeit ihrer Einkünfte zu berauben, wo die andere Gruppe noch Zinsen von ihrem Kapital erhält. „Etwas anderes", sagt der Bericht der Kommission (wir wiederholen die Wiedergabe der „Times"), „ist es, wenn der Sozialismus bei uns nicht allmählich käme, sondern plötzlich als Resultat einer jähen revolutionären Katastrophe: dann hätten die Einwände gegen eine Konfiskation den größten Teil ihrer Beweiskraft verloren. Aber wir glauben nicht, dass eine solche Situation wahrscheinlich ist. Und wir fühlen uns nicht berufen, darüber in diesem Bericht zu diskutieren." Grundsätzlich wäre gegen die Expropriation von Grund und Boden, Fabriken und Werken, gegen Entschädigung nichts einzuwenden. Zum Unglück treffen aber nie die politische und die finanzielle Möglichkeit einer solchen Operation zusammen. Der Zustand der Finanzen der nordamerikanischen Republik macht die Einlösungsoperation durchaus möglich. Aber in Amerika selbst wird die Frage praktisch nicht gestellt, und es gibt auch noch keine Partei, die sie ernstlich stellen könnte. Und bis eine solche Partei auf dem Plan erscheinen kann, wird die ökonomische Lage der Vereinigten Staaten noch sehr einschneidende Veränderungen erleiden müssen. Anders in England. Da bedeutet die Frage der Nationalisierung in aller Schärfe die Rettungsfrage der englischen Wirtschaft. Die Staatsfinanzen jedoch sind in einem solchen Zustande, dass die Möglichkeit einer Einlösung mehr als zweifelhaft erscheint. Aber die finanzielle Seite dieser Frage rangiert überhaupt an zweiter Stelle. Die Hauptaufgabe besteht in der Schaffung politischer Voraussetzungen für die Nationalisierung, ganz gleich, ob mit oder ohne Entschädigung. In Wahrheit geht es um Leben oder Tod der Bourgeoisie. Die Revolution ist eben deshalb unvermeidlich, weil die Bourgeoisie nie erlauben wird, sie in einer fabischen Bankoperation zu ersticken. Sogar auf eine Teilnationalisierung wird die bürgerliche Gesellschaft in ihrer jetzigen Lage nicht anders eingehen, als dass sie diese Nationalisierung mit solchen Bedingungen belasten wird, dass der Erfolg dieser Maßnahme bis zum äußersten erschwert, und das Nationalisierungsprinzip und mit ihm gleichzeitig die Arbeiterpartei kompromittiert wird. Auf jeden anderen tatsächlichen, rücksichtslosen Versuch einer Nationalisierung, wenn auch nur einer teilweisen, wird die Bourgeoisie als Klasse reagieren. Andere Industriezweige werden ihre Zuflucht zu Aussperrungen, zur Sabotage, zum Boykott der nationalisierten Zweige nehmen, sie werden einen Kampf auf Leben und Tod führen. Mag man auch noch so vorsichtig den Versuch betreiben, notwendig wird trotzdem die Aufgabe erwachsen, den Widerstand der Ausbeuter zu brechen. Wenn die Fabier uns erklären, dass sie sich nicht „berufen" fühlen „diesen Fall" ins Auge zu fassen, muss man sagen, dass diese Herren sich im allgemeinen über ihre Berufung täuschen. Es ist möglich, dass die Tüchtigsten unter ihnen in dieser oder jener Kanzlei des künftigen Arbeiterstaates sich nützlich machen können, mögen sie sich dort mit der Berechnung einzelner Posten der sozialistischen Bilanz beschäftigen. Aber sie taugen einen Pfifferling, solange es um die Frage der Bildung eines Arbeiterstaates geht, d. h. um die Grundvoraussetzung einer sozialistischen Wirtschaft.

MacDonald hat in einer Wochen-Rundschau im „Daily Herald" (am 4. April 1925) zufällig einige konkrete Worte gesprochen: „Die Lage der Parteien in unseren Tagen gestaltet sich derart, dass der Kampf immer heißer und stärker entbrennen wird. Die Konservative Partei wird einen Kampf auf Leben und Tod führen, und je mehr ihr die Machtergreifung seitens der Arbeiterpartei droht, desto stärker wird der Druck der reaktionären Mitglieder (der konservativen Partei) werden." Das ist sehr richtig. Je unmittelbarer die Gefahr der Machtergreifung der Arbeiterklasse drohen wird, desto stärker wird in der konservativen Partei der Einfluss von Leuten der Art Curzons wachsen. (Nicht umsonst hat MacDonald Curzon als ein „Musterbeispiel" für kommende Führer hingestellt.) Diesmal hat MacDonald anscheinend die Perspektive richtig eingeschätzt. Tatsächlich aber versteht der Führer der Arbeiterpartei weder die Bedeutung noch das Gewicht seiner eigenen Worte. Der Hinweis auf den erbitterten Kampf der Konservativen, der immer wütender toben wird, je weiter die Zeit fortschreitet, war für ihn nur deshalb notwendig, um die Unzweckmäßigkeit der parlamentarischen zwischenparteilichen Komitees zu beweisen. Tatsächlich aber äußert sich MacDonalds Prognose nicht nur gegen die zwischenparteilichen Parlamentskomitees, sondern protestiert auch schreiend gegen die Möglichkeit einer Lösung der gesamten heutigen sozialen Krise mit Hilfe parlamentarischer Methoden. „Die Konservative Partei wird bis zum Tode kämpfen." Richtig! Aber dieser Satz bedeutet, dass die Arbeiterpartei die Konservative Partei nur dann besiegen wird, wenn ihre Kampfentschlossenheit größer wird als die der Konservativen Partei. Es geht nicht um den Wettbewerb zweier Parteien, sondern um das Schicksal zweier Klassen. Und wenn zwei Klassen sich bis auf den Tod bekämpfen, wird die Frage nie durch Stimmenzählung entschieden. Noch nie hat es in der Geschichte einen solchen Fall gegeben. Und solange es Klassen gibt, wird es nicht anders sein.

Es geht aber nicht um die allgemeine Philosophie MacDonalds, es geht nicht um seine einzelnen glücklichen Zufallstendenzen, nicht darum, wie er seine Tätigkeit begründet, und nicht darum, was er will, sondern um das, was er tut, wohin seine Aktionen führen. Betrachtet man die Frage von diesem Standpunkte, so stellt sich heraus, dass die Partei MacDonalds durch ihre Tätigkeit einen gewaltigen Anlauf und eine ungewöhnliche Härte der proletarischen Revolution in England vorbereitet. Die Partei MacDonalds stärkt das Selbstbewusstsein der Bourgeoisie und stellt an die Geduld des Proletariats die äußersten Anforderungen. Und im Augenblick, wo dem Proletariat diese Geduld reißen wird, wird das sich aufbäumende Proletariat mit einer Bourgeoisie zusammenstoßen, deren Allmachtsbewusstsein durch die Politik der Partei MacDonalds nur noch verstärkt wurde. Je länger die Fabier die revolutionäre Entwicklung Englands aufhalten, desto wuchtiger und grimmiger wird die Revolution ausbrechen.

Die englische Bourgeoisie ist in Unbarmherzigkeit erzogen worden. Solche Gefühle erwuchsen ihr durch die Bedingungen ihrer insularen Existenz, die sittenstrenge Philosophie des Calvinismus, die koloniale Praxis und den nationalen Hochmut. England wird mehr und mehr auf den zweiten Platz gedrängt. Dieser unvermeidliche Prozess hat auch die revolutionäre Situation geschaffen. Die englische Bourgeoisie, die gezwungen ist, Amerika nachzugeben, zurückzugehen, zu lavieren, abzuwarten, wird von Gefühlen größter Erbitterung erfüllt, die sich in schrecklichster Weise im Bürgerkrieg offenbaren werden. So hat der im Kriege mit den Preußen geschlagene bürgerliche Pöbel Frankreichs sich an den Kommunarden gerächt. So hat sich das Offizierskorps der geschlagenen Hohenzollernarmee an den deutschen Arbeitern gerächt.

Die ganze kalte Grausamkeit, die das regierende England gegen Inder, Ägypter und Iren offenbart hat, und die hier nur als Rassenhochmut erscheint, wird im Bürgerkriege ihren Klassencharakter offenbaren und sich gegen das Proletariat richten.

Andererseits wird die Revolution unvermeidlich in der englischen Arbeiterklasse die heftigsten Leidenschaften entfesseln, die mit Hilfe der gesellschaftlichen Dressur der Kirche und der Presse geschickt gezügelt und unterdrückt und in künstliche Kanäle durch Boxkämpfe, Fußballspiele, Pferderennen usw. geleitet wurden.

Der eigentliche Verlauf des Kampfes, seine Dauer und sein Ausgang hängen ganz von inneren, besonders aber von den internationalen Bedingungen der Zeit ab, in der sich der Kampf entfalten wird. Im Entscheidungskampf gegen das Proletariat wird die englische Bourgeoisie die stärkste Unterstützung seitens der Bourgeoisie der Vereinigten Staaten erhalten, während das englische Proletariat sich in erster Linie auf die Arbeiterklasse Europas und die unterdrückten Volksmassen der britischen Kolonien stützen wird. Der Charakter des britischen Imperiums wird unvermeidlich diesem gewaltigen Kampf einen internationalen Maßstab geben. Er wird eines der größten Dramen der Weltgeschichte werden. Das Schicksal des englischen Proletariats verbindet sich in diesem Kampf mit dem Schicksal der ganzen Menschheit. Die Weltsituation und die Rolle des englischen Proletariats in der Produktion und in der Gesellschaft verbürgen ihm den Sieg – unter der Bedingung einer richtigen und entschlossenen revolutionären Leitung. Die Kommunistische Partei muss sich als die Partei der proletarischen Diktatur entwickeln und zur Macht kommen. Es gibt keinen Umgehungsweg. Wer an ihn glaubt und ihn verkündet, kann die englischen Arbeiter nur betrügen. Das ist die Quintessenz unserer Analyse.

A Natürlich besitzt eine solche Prognose einen bedingten, orientierenden Charakter und soll keineswegs mit den astronomischen Voraussagen der Mond- oder Sonnenfinsternisse konkurrieren. Der tatsächliche Gang der Entwicklung ist immer komplizierter als eine natürlich nur schematische Voraussage.

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