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Leo Trotzki 19260519 Fragen der englischen Arbeiterbewegung

Leo Trotzki: Fragen der englischen Arbeiterbewegung

[Nach Die Kommunistische Internationale 7. Jahrgang, Heft 5/6 (Mai-Juni 1926) S. 460-477]

Der nachfolgend abgedruckte Aufsatz besteht aus Bruchstücken, die zu verschiedener Zeit seit Ausgang vorigen Jahres niedergeschrieben wurden. Sie sollten nach der ursprünglichen Absicht als Material für eine abgeschlossenere Arbeit dienen. Der Generalstreik hat, wie jedes grandiose Ereignis, die Perspektiven mit einem Male verschoben, diese Fragen vorangestellt, andere zurückgedrängt. Unter dem Gesichtspunkt des Verständnisses und der Beurteilung des Generalstreiks und seines Ausganges erscheint es zurzeit zweckmäßiger, diese Bruchstücke so zu veröffentlichen, wie sie niedergeschrieben wurden, in lebendiger Folge der Tatsachen und Ereignisse, d. h. in chronologischer Reihenfolge.

22. Dezember 1925

Wir haben schon erwähnt, dass uns zwei Briefe eines englischen „linken" Sozialisten zur Verfügung stehen, die um einige Wochen voneinander zeitlich getrennt sind.*

Der erste Brief ist vor der Konferenz der Labour Party in Liverpool (September 1925), der zweite nach dieser Konferenz geschrieben.

Die dringlichste Tagesfrage in der politischen Welt, – schreibt unser Autor im ersten Briefe – bildet zweifelsohne die Frage, was in Liverpool auf der Konferenz der Labour Party geschehen wird … Diese Konferenz wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur von ihrer vorjährigen Resolution bezüglich des Ausschlusses der Kommunisten abrücken, sondern wird auch möglicherweise den Beginn einer entschiedenen Spaltung in den Reihen der Labour Party bringen."

Geschehen ist bekanntlich das gerade Gegenteil. Der rechte Flügel hat einen vollen Sieg davongetragen. Die Linken boten ein überaus klägliches. Bild der Hilflosigkeit und Verlorenheit. Der Ausschluss der Kommunisten wurde bestätigt.

In seinem zweiten, nach der Konferenz geschriebenen Briefe äußert unser Autor folgendes Bekenntnis:

Bezüglich der Konferenz in Liverpool, an der ich nicht teilgenommen habe, kann ich im Augenblick nur folgendes bemerken. Die Rechten haben gesiegt, und die Linken haben wiederum Mangel an Geschlossenheit gezeigt. Auch die Kommunisten konnten einen Sieg verzeichnen. Die Rechten haben ihnen kräftig in die Hände gespielt . …"

Unserem Autor ist es schwerlich ganz klar geworden, was dies bedeutet. Und doch ist die Logik der Tatsachen so einfach: wenn Ihr einen Sieg über den MacDonaldismus, über die organisierte Untreue, über den zum System erhobenen Verrat wünscht, so handelt nicht im Geiste der „Linken", sondern im Geiste der Bolschewiki. In diesem, und nur in diesem Sinne spielen die Rechten den Kommunisten in die Hände.

Die Arbeiterklasse empfindet nach den Worten desselben Kritikers die beiden äußeren Flügel als Bürde. Merkwürdiger Ausspruch! Was dieser „Linke" den rechten Flügel nennt, ist die offizielle Leitung der Labour Party. Der politische Wille des englischen Proletariats passiert mit oder ohne seinen Willen das Zollamt von Thomas-MacDonald. Der entgegengesetzte Flügel, d. h. die Kommunisten, stellen nur eine kleine gehetzte Minderheit in der Arbeiterbewegung dar. In welcher Weise kann die Arbeiterklasse an diesen eine „Bürde" empfinden? Es steht ihr ja frei, sie anzuhören oder nicht, denn die Kommunisten besitzen gar keine Mittel, um sich aufzuzwingen. Hinter Thomas und MacDonald steht die ganze Maschine des kapitalistischen Staates. MacDonald schließt die Kommunisten aus, Baldwin wirft sie ins Gefängnis. Eines ergänzt das andere. MacDonald wird die Arbeiterklasse erst dann stürzen können, wenn sie wirklich den Willen aufbringt, Baldwin zu stürzen. Es ist ganz richtig, dass die Arbeiterklasse ihre Abhängigkeit von den konservativen Fabianer-Bourgeois immer mehr als Bürde empfindet. Sie weiß noch nicht, wie sie sich von ihnen loslösen könnte, welcher Weg dazu zu wählen ist. Die Linken spiegeln das Unbehagen der englischen Arbeiterklasse wider. Deren noch unklares, jedoch tiefes und hartnäckiges Bestreben, sich von Baldwin-MacDonald zu befreien, verwandeln sie in links-oppositionelle Phrasen, die ihnen keinerlei Verpflichtungen auferlegen. Die politische Hilflosigkeit der erwachenden Massen wird bei ihnen zu ideologischem Wirrwarr. Sie sind der Ausdruck eines Wendepunktes, gleichzeitig aber auch ein Hemmnis desselben.

Wir haben schon die Prophezeiung gehört, dass die Konferenz in Liverpool der Beginn einer entschiedenen Spaltung in den Reihen der Labour Party sein werde, und haben gesehen, wie bitter das Leben diese Prophezeiungen Lügen gestraft hat. Das Wesen der Zentristen besteht darin, dass sie sich zu keinem Entschluss entschließen können. Es musste der imperialistische Krieg kommen, um die Zentristen zu veranlassen, sich zeitweilig von den Sozialimperialisten loszulösen. Sobald der Druck der Ereignisse nachließ, kehrten sie wieder zurück. Der Zentrismus ist einer selbständigen Politik nicht fähig. Er kann nicht zur leitenden Partei in der Arbeiterklasse werden. Das Wesen des Zentrismus liegt eben darin, dass er sich zu keinem Entschluss entschließen kann, – es sei denn, die Ereignisse griffen ihm grausam nach der Kehle. In England ist es aber dazu noch nicht gekommen: das ist auch der Grund, weshalb es in Liverpool zu keiner Spaltung gekommen ist.

Was wäre aber geschehen, wenn es dennoch zu einer Spaltung gekommen wäre? Auch darüber weiß der Autor uns etwas zu sagen.

Die Folge einer solchen Spaltung hätte letzten Endes die Entstehung zweier Parteien aus der Labour Party sein müssen: einer links-liberalen, und einer andern, – wahrhaft sozialistischen Partei. … Und selbst angenommen, die Entwicklung führte zu wirtschaftlichen Erschütterungen und zur Revolution, so könnte die aus der Spaltung hervorgegangene sozialistische Partei zur Führerin der Revolution werden, was aber gerade von Trotzki nicht in Betracht gezogen wird."

In dieser Erörterung gehen Splitter von Wahrheit im Wirrwarr unter. Gewiss wäre eine Lösung der Zentristen von der Art unseres Kritikers von den fabianischen Bourgeois für die Arbeiterbewegung nicht gleichgültig. Um jedoch jetzt eine solche Spaltung herbeizuführen, sind durchdringender Geist und Willenskraft vonnöten, d. h. gerade die Eigenschaften, die der britischen „Opposition" nicht im entferntesten eigen sind. Wenn sie sich spalten, dann eben erst in letzter Stunde, wenn es keinen andern Ausweg mehr gibt. Eine Partei aber, die erst in „letzter Stunde" aus dem Ei kriecht, kann keine Revolution leiten. Das will nicht besagen, dass die abgespaltenen Zentristen sich nicht eine Zeitlang als „an der Spitze" der Massen stehend erweisen könnten, ähnlich den deutschen Unabhängigen und selbst der Sozialdemokratie Ende 1918, ähnlich unseren Menschewiki und Sozialrevolutionären nach dem Februar 1917. Eine solche Etappe in der Entwicklung der englischen Revolution ist nicht ausgeschlossen. Diese wird sogar unvermeidlich sein, wenn die Verschärfung der sozialen Gegensätze in schnellerem Tempo vor sich gehen wird als die Formierung der Kommunistischen Partei. Unter dem Druck eines Generalstreiks und eines siegreichen Aufstandes kann ein gewisser Teil der „linken" Führer sogar zur Macht gelangen – ungefähr mit den Gefühlen und der Stimmung eines zur Schlachtbank geführten Kalbes. Von langer Dauer kann ein solcher Zustand allerdings nicht sein. Die Unabhängigen können ungeachtet ihrer gesamten Politik zur Macht gelangen. Sich an der Macht erhalten können sie aber nicht. Von den Zentristen muss die Macht entweder auf die Kommunisten übergehen oder wieder der Bourgeoisie zufallen.

Von der Revolution wider ihren Willen zur obersten Macht emporgehoben, gingen die deutschen Unabhängigen unverzüglich daran, sich in diese mit Ebert und Scheidemann zu teilen. Ebert trat sofort in Verhandlungen mit dem General Gröner über eine Niederzwingung der Arbeiter. Die Unabhängigen kritisierten die Spartakisten, die Sozialdemokraten hetzten sie, die Soldateska erschoss Liebknecht und Rosa Luxemburg. Dann gingen die Ereignisse ihren logischen Gang weiter. Die Koalition der Sozialdemokraten mit den Unabhängigen wurde von der Koalition der Kapitalisten mit den Sozialdemokraten abgelöst. Dann erwiesen sich die Sozialdemokraten als überflüssig. Ebert starb zur rechten Zeit. Die gegen Hindenburg begonnene Revolution endete mit der Wahl Hindenburgs zum Präsidenten der Republik. Um diese Zeit waren die Unabhängigen wieder zur Fahne Eberts zurückgekehrt.

In Russland waren die menschewistischen und Sozialrevolutionären Patrioten, die sich der Revolution im Namen der Landesverteidigung in jeder Weise widersetzten, durch die Revolution zur Macht gelangt. Die bolschewistische Partei war trotz ihrer in anderthalb Jahrzehnten betriebenen beispiellosen erzieherischen, organisatorischen und kämpferischen Tätigkeit in der ersten Zeit in unbedeutender Minderheit. Entschlossen, in jedem beliebigen Moment auf dem linken Flügel gegen jeden Versuch einer Konterrevolution den Kampf zu führen, verfolgte sie dennoch gleichzeitig den Kurs eines schonungslosen ideologischen Kampfes gegen die Parteien, die entgegen eigenem Willen „an die Spitze der Revolution" gelangt waren. Nur so ist der Oktober möglich geworden.

Eine Loslösung der britischen Unabhängigen von MacDonald und Thomas 5 Minuten vor Zwölf ist nicht ausgeschlossen. Ausgeschlossen ist auch nicht im Falle einer stürmischen Entwicklung der Ereignisse ein Emporsteigen der Zentristen zur Macht. Es unterliegt keinem Zweifel, dass sie in einem solchen Falle MacDonald und Webb eindringlichst darum ersuchen werden, mit ihnen die Bürde zu teilen. Es braucht auch keinem Zweifel zu unterliegen, dass MacDonald selbst oder durch Thomas' Vermittlung gleichzeitig Verhandlungen mit Joynson Hicks führen wird. Es wird ein mächtiger Apparat zur Liquidierung des proletarischen Halbsieges in Bewegung gesetzt werden. Es ist auch durchaus möglich, dass unter den Linken eine neue Spaltung beginnen wird. Die Entwicklung wird den „russischen" und nicht den „deutschen" Weg aber nur dann gehen, wenn eine kommunistische Massenpartei vorhanden sein wird, die mit einem klaren Verständnis für den ganzen Entwicklungsgang ausgerüstet ist.

28. Dezember

Der „linke" Kritiker macht es uns aber gerade zum Vorwurf, dass wir auf die englische Kommunistische Partei setzen. Doch besagt das nicht, dass er sie rundweg ablehnt. Nein, der Standpunkt des Linken – ohne Mast und Ruder – ist ja gerade, dass er nichts rückhaltlos anerkennt und auch nichts rundweg ablehnt. Hier sind wir genötigt, ein weiteres Zitat anzuführen.

Anstatt bemüht zu sein, die Massen umzuformen, versuchten sie (die Kommunisten) die Massen mit dem Stocke voranzutreiben, doch lehnen diese solches in entschiedener Weise ab. Ein erstaunliches Zeugnis für die Richtigkeit der von den Kommunisten verteidigten Prinzipien ist, dass sie ungeachtet all ihrer hoffnungslos unrichtigen Taktik, ungeachtet ihres niedrigen Verhaltens gegen Freund und Feind, ungeachtet ihrer tiefen Unkenntnis jener Massen, die sie leiten wollen, dennoch großen Einfluss besitzen. Wenn die Arbeiter sich ihnen anschließen, so tun sie das aus Verzweiflung, weil sie keinen anderen Ausweg sehen; nicht etwa, weil sie die Partei so gutheißen, wie zurzeit erscheint, sondern weil sie gezwungen sind, deren Schlussfolgerungen anzunehmen."

Diese Stelle ist als erzwungenes Zeugnis eines Gegners zugunsten der von ihm bekämpften Ideen und Methoden wirklich bemerkenswert. Die innere Kraft des Kommunismus erweist sich als so groß, dass eine wachsende Zahl von Arbeitern sich ihm anschließt, – ungeachtet des „niedrigen" Charakters der Kommunisten. Die Arbeiter tun es aber aus Verzweiflung! ruft unser Kritiker aus, – offenbar auch aus Verzweiflung. Es ist vollkommen richtig, dass die Arbeiter in steigendem Maße zu wirklicher „Verzweiflung" gelangen infolge der untauglichen, verräterischen, feigen und verkehrten Führung. Es ist aber auch gar nicht anzunehmen, dass die englischen Arbeiter mit ihren langjährigen Traditionen einer liberalen Politik, ihren Traditionen des Parlamentarismus, der Kompromisse, des nationalen Dünkels usw., bewusst auf einen revolutionären Weg anders geraten könnten als über den Weg vollkommener Verzweiflung an der gesamten Politik, die ihnen ehemals einiges gegeben, auf jeden Fall sie aber mit Erfolg betrogen hat. Hier ist der Kritiker an den Angelpunkt gelangt. Darin besteht eben die Kraft der Kommunistischen Partei, dass ungeachtet der zahlenmäßigen Schwäche der Kommunistischen Partei, ihrer Unerfahrenheit und Fehler die Verhältnisse die Arbeitermassen in steigendem Maße zwingen, ihr Gehör zu schenken.

Der australische Premier Bruce sagte bei der Verteidigung seiner Politik der Ausweisung der revolutionären Arbeiterführer am Vorabend der letzten Wahlen:

Die Kommunistische Partei Australiens hat weniger als tausend Mitglieder, sie ist aber fähig, 400.000 Arbeiter in der Republik zu leiten."

Die „Times" zitieren mit äußerst lobender Erwähnung diese Worte (siehe Leitartikel vom 12. November 1925). Die Londoner „Times" haben, wenn sie von Australien sprechen, natürlich auch England im Auge. Um dies zu unterstreichen, erklärt die Zeitung mit grober Offenheit:

Die Wahrheit ist, dass die Arbeiterführer Australiens in ihrer Mehrheit nicht nur in ihren Anschauungen, sondern auch in ihren Fähigkeiten mäßig sind. Die Führung der Partei geht immer mehr in die Hände der Zügellosen über."

Den Sack schlägt man und den Esel meint man. Wir sind durchaus bereit, der Zeitung darin beizupflichten, dass die Fähigkeiten der offiziellen Führer der englischen Labour Party (die „Times" spielen auf diese an) ebenso mäßig sind wie ihre Anschauungen. Letzten Endes wurden von ihnen selbständige Fähigkeiten ja auch nicht verlangt: sie führten den Willen und die Ideen der englischen Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterklasse aus. Sie galten als „hervorragend", solange die Bourgeoisie große Macht besaß. Wie müssen gestehen, dass selbst die weisen „Times", wenn sie mit flüsternder Stimme über die Wechselbeziehungen der Vereinigten Staaten und Englands sprechen, uns etwas dumm erscheinen. Dieser Eindruck entsteht aus dem inneren Bewusstsein der Schwäche, aus dem Bestreben, den Anschein der Kraft zu bewahren, aus dem verhaltenen Zähneknirschen. Letzten Endes liegt der Grund für die Verzagtheit der „Times" wie für die Erkenntnis der bescheidenen Fähigkeiten MacDonalds in der üblen Handels- und Zahlungsbilanz Großbritanniens. Soweit aber an der Störung der britischen Bilanz mächtige historische Kräfte selbst arbeiten, kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Arbeiter in steigendem Maße an ihren alten Führern verzweifeln und unter den Einfluss der „Zügellosen" gelangen werden.

5. Januar

In einer amerikanischen Zeitschrift, die Anspruch erhebt, als marxistisch und selbst kommunistisch zu gelten („Zukunft"), wird verurteilend darauf hingewiesen, dass ich bei meiner Kritik der englischen Zentristen die „Revolution" außer Betracht gelassen hätte, die in den englischen Trade Unions schon vor sich gegangen sei.

Es erübrigt sich, hier darauf hinzuweisen, dass die Ursachen und Perspektiven der Evolution der Trade Unions schon in dem Kapitel „Die Trade Unions und der Bolschewismus" besprochen sind. Es erübrigt sich hier, die Binsenwahrheit zu wiederholen, dass ohne eine Schwenkung der Arbeiterklasse und folglich auch ihrer Trade Unions in der Richtung der Revolution von einer Eroberung der Macht durch das Proletariat keine Rede sein könne. Es wäre aber die allergrößte Schmach, wollte man sich einem Kampfe mit dem Opportunismus der Spitze unter Berufung auf die tiefen revolutionären Prozesse entziehen, die in der Arbeiterklasse vor sich gehen. Eine solche, angeblich „vertiefte" Einstellung ist voll und ganz das Ergebnis des mangelnden Verständnisses für die Rolle und die Bedeutung der Partei in der Bewegung der Arbeiterklasse, besonders in der Revolution. Der Zentrismus ist es gerade, der die opportunistischen Sünden stets durch die tiefsinnige Berufung auf objektive Entwicklungstendenzen gedeckt hat und deckt. Verlohnt es sich etwa, Zeit und Energie auf den Kampf mit solchen Wirrköpfen zu vergeuden wie Wheatley, Brailsford, Purcell, Kirkwood u. a., wenn im Proletariat revolutionäre Bestrebungen emporwachsen, wenn die Trade Unions zur Zusammenarbeit mit den Sowjetgewerkschaften hinneigen usw.? In Wahrheit tritt im vermeintlichen revolutionären Objektivismus nur das Bestreben hervor, sich den revolutionären Aufgaben zu entziehen, indem man sie auf die Schultern des sogenannten historischen Prozesses abwälzt.

Die Gefahr derartiger Tendenzen ist gerade in England besonders groß. Gestern musste man beweisen, dass die objektiven Verhältnisse dort in revolutionärer Richtung arbeiten. Dies auch heute nochmals und nochmals zu wiederholen, hieße offene Türen einrennen. Das wachsende Übergewicht Amerikas, die Schuldenlast sowie die Heereslasten, die Industrialisierung der Kolonien, der Dominions sowie der rückständigen Länder überhaupt, die wirtschaftliche Festigung der Sowjetunion und die Steigerung ihrer revolutionären Anziehungskraft, die Freiheitsbewegung der unterdrückten Völker, das alles sind Faktoren, die im Wachsen begriffen sind. Über die unvermeidlichen Schwankungen der Konjunktur hinweg nähert der britische Kapitalismus sich einer Katastrophe. Es ist ganz klar, was das für einen Umschwung in den Wechselbeziehungen und im Bewusstsein der Klassen bedeutet. Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution bereiten sich viel schneller vor und reifen viel schneller heran als die subjektiven Voraussetzungen. Das ist es, was heute vor allem begriffen werden muss.

Die Gefahr ist nicht, dass die Bourgeoisie das Proletariat von neuem einlullen wird, dass sich den Trade Unions von neuem eine Epoche liberaler Arbeiterpolitik eröffnet; die Vereinigten Staaten haben die Möglichkeit einer privilegierten Stellung weiter Kreise des Proletariats für sich monopolisiert. Die Gefahr ist eine andere: die Formierung der proletarischen Avantgarde könnte hinter der Entwicklung der revolutionären Situation zurückbleiben. Vor die Notwendigkeit entscheidender Aktionen gestellt, könnte das Proletariat der nötigen politischen Führung entraten müssen. Es handelt sich um die Partei, das ist die Frage aller Fragen. Die reifste revolutionäre Situation ohne eine revolutionäre Partei von entsprechendem Umfange, ohne richtige Führung ist wie ein Messer ohne Klinge. Das haben wir im Herbst 1923 in Deutschland gesehen. Eine bolschewistische Partei kann sich in England nur in beständigem, unversöhnlichem Kampfe mit dem sich zur Ablösung der liberalen Arbeiterpolitik anschickenden Zentrismus bilden.

6. Januar 1926

Der Kampf um die Einheitsfront hat in England gerade deshalb eine solche Bedeutung, weil er dem elementaren Bedürfnis der Arbeiterklasse nach einer neuen Orientierung und Gruppierung der Kräfte entspricht. Gleichzeitig kehrt der Kampf um die Einheitsfront das Problem der Führung hervor, eines Programms und einer Taktik, und das bedeutet – der Partei. Der Kampf um die Einheitsfront allein löst diese Aufgabe nicht, er schafft nur gewisse Bedingungen für ihre Lösung. Eine ideelle und organisatorische Formierung einer wahrhaft revolutionären, d. h. kommunistischen Partei auf der Grundlage der Bewegung der Massen ist nur denkbar unter der Bedingung einer beständigen, systematischen, unentwegten, unermüdlichen und unversöhnlichen Entlarvung der pseudolinken Führer aller Schattierungen, ihrer Wirrnis, ihrer Kompromisse, ihrer Unterlassungen. Es wäre der gröbste Fehler, zu glauben – und dies kommt vor –, dass die Aufgabe des Kampfes für die Einheitsfront darin besteht, dass den Purcell, Lansbury, Wheatley und Kirkwood der Sieg ermöglicht werde über die Snowden, Webb und MacDonald. Ein solches Ziel würde einen inneren Widerspruch einschließen. Die linken Wirrköpfe sind unfähig zur Herrschaft, und wenn diese im Gange der Ereignisse in ihre Hände fiele, so würden sie sich beeilen, sie ihren älteren Brüdern von rechts zu übergeben. Sie würden im Staate das Gleiche tun, was sie jetzt in der Partei tun.

Die Geschichte der deutschen Unabhängigen – wir erwähnen es hier nochmals – zeigt in dieser Beziehung die lehrreichsten Beispiele. In Deutschland ist der Prozess entsprechend dem unmittelbar revolutionären Charakter der deutschen Geschichte in den letzten Jahren in schnellerem Tempo vor sich gegangen. Die allgemeinen Entwicklungstendenzen sind aber die gleichen, ob MacDonald – Ebert, ob die Wheatley – Crispien und Hilferding heißen. Der Umstand, dass der vulgäre Kleinbürger Hilferding sich nach wie vor auf Marx beruft, während Wheatley dem heiligen römischen Vater den Vorzug gibt, rührt von den Besonderheiten in der Vergangenheit Englands und Deutschlands her, ist aber für den heutigen Tag von absolut untergeordneter Bedeutung.

7. Januar 1926

Die linke Fraktion an der Spitze der Trade Unions ist in einer Reihe von Fragen im Generalrat ausschlaggebend. Besonders klar tritt das im Verhältnis zu den Sowjet-Gewerkschaften und zu Amsterdam hervor. Es wäre aber ein Irrtum, wollte man den Einfluss dieser Linken auf die Trade Unions, als auf Organisationen des Klassenkampfes, überschätzen. Nicht etwa, dass die Massen der Trade Unions nicht genügend radikal wären, im Gegenteil, die Massen sind ungleich linker eingestellt als die Linken selbst. Internationale Fragen waren in der englischen Arbeiterbewegung für die „Führer" stets die Linie des geringsten Widerstandes. Da sie die internationalen Dinge als eine Art Ventil für die radikale Stimmung der Massen ansehen, sind die Herren Führer bis zu einem gewissen Grade bereit, sich vor der Revolution (bei anderen) zu verbeugen, um eine um so sicherere Revanche in Fragen des inneren Klassenkampfes zu nehmen. Die linke Fraktion des Generalrates zeichnet sich durch vollkommene ideologische Formlosigkeit aus und ist eben deshalb unfähig, sich die Führung der Gewerkschaften organisatorisch zu sichern.

Damit erklärt sich auch die Ohnmacht der Linken innerhalb der Labour Party. Die letztere baut sich ja auf dieselben Trade Unions auf. Man sollte glauben, die linke Fraktion, die den Generalrat „hinter sich herführt", müsste auch die Hand auf die Labour Party legen können. In Wirklichkeit sehen wir etwas ganz anderes. Die Partei wird weiter von der äußersten Rechten geführt. Das ist damit zu erklären, dass die Partei sich nicht auf die einzelnen linken Vorstöße beschränken kann, sondern gezwungen ist, über ein abgeschlossenes politisches System zu verfügen. Die Linken besitzen ein solches System nicht und können es vermöge ihres ganzen Wesens auch nicht besitzen. Die Rechten verfügen über ein solches; sie besitzen Tradition, Erfahrung, Routine und, was die Hauptsache ist, für sie denkt die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und steckt ihnen fertige Beschlüsse zu. MacDonald braucht nur die Einflüsterungen Baldwins oder Lloyd Georges in die Sprache der Fabier zu übertragen. Die Rechten tragen den Sieg davon, obgleich die Linken die zahlreicheren sind. Die Schwäche der Linken rührt von ihrer Zerklüftung her, und ihre Zerklüftung von ihrer ideologischen Formlosigkeit. Um ihre Reihen zu sammeln, müssten die Linken vor allem erst ihre Gedanken sammeln. Dies zu tun vermögen die Besten unter ihnen nur unter den Schlägen einer sich auf die tägliche Erfahrung der Massen stützenden schonungslosen Kritik.

12. Januar

Nicht nur unser „linker" Kritiker in seinem Briefe, sondern auch verantwortlichere Führer der Linken, wie Purcell und Bromley, haben noch am 27. September prophezeit, dass der Kongress der Labour Party durch eine große Schwenkung nach links gekennzeichnet sein würde. Das Gegenteil ist eingetreten, der Parteikongress in Liverpool, den nur wenige Wochen vom Gewerkschaftskongress in Scarborough trennten, brachte MacDonald einen vollen Sieg. Diese Tatsache ignorieren, sie verschweigen, sie herabsetzen oder durch zufällige, nebensächliche Gründe erklären wollen, wäre närrisch, hieße Niederlagen entgegengehen.

Die Labour-Partei hat im Wesentlichen die gleiche Basis wie die Spitze der Trade Unions. Der Generalrat, dessen Vollmachten äußerst begrenzt sind, hat jedoch keine Gewalt über die einzelnen Trade Unions, geschweige denn über das Land. Die Labour Party dagegen ist schon an der Macht gewesen und schickt sich an, wiederum zur Macht zu gelangen. Und darin besteht eben das Wesentliche.

Der liberale „Manchester Guardian" schrieb anlässlich des Kongresses in Scarborough, dass der Einfluss Moskaus sich lediglich in linker Phraseologie kundtue, die Trade Unions in der Praxis jedoch unter der Leitung weiser und erfahrener Führer verblieben. Gewiss, die liberale Zeitung sucht Trost. Doch ist in ihrer Behauptung auch ein Kern von Wahrheit enthalten, und zwar kein geringer. Die Beschlüsse des Kongresses sind um so linker, je weiter sie von den praktischen Tagesaufgaben entfernt sind. Gewiss, der Radikalismus der Beschlüsse ist symptomatisch, da er eine Schwenkung im Bewusstsein der Massen anzeigt. Aber zu glauben, die führenden Kongressteilnehmer in Scarborough könnten Führer eines revolutionären Umschwunges werden, das hieße, sich in Illusionen wiegen. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass für das Recht der Selbstbestimmung der unterdrückten Völker bis zur Loslösung sich 3.802.000, dass sich dagegen nur 79.000 Stimmen ausgesprochen haben. „Welch kolossale revolutionäre Schwenkung", sollte man glauben. Demgegenüber wurden für die Schaffung von Fabrikkomitees – nicht etwa für einen bewaffneten Aufstand, nicht für einen Generalstreik, sondern alles in allem für die Schaffung von Fabrikkomitees, dazu lediglich „im Prinzip" – im ganzen 2.183.000 Stimmen und dagegen 1.787.000 Stimmen abgegeben; mit anderen Worten, der Kongress hatte sich hier fast in zwei Hälften geteilt; und in der Frage der Erweiterung der Vollmachten des Generalrats gar mussten die Linken eine vollkommene Niederlage hinnehmen. Es ist nicht verwunderlich, dass nach allen linken Resolutionen der neue Generalrat sich als mehr rechtsstehend erwies als der alte. Man muss es ganz klar begreifen: ein Radikalismus von solcher Art bleibt nur solange ein Radikalismus, wie er praktisch zu nichts verpflichtet. Sobald die Frage von Aktionen auftaucht, überlassen die Linken die Führung ehrfurchtsvoll den Rechten.

13. Januar

Die elementare Radikalisierung der Trade Unions, die eine tiefgehende Schwenkung in den Massen anzeigt, ist an sich vollkommen ungenügend, um die Arbeiterklasse von der Führung Thomas' und MacDonalds zu befreien. Die national-bürgerliche Ideologie stellt in England einen machtvollen Faktor dar, nicht nur in der öffentlichen Meinung, sondern auch in den jahrhundertealten Institutionen. An dieser Macht zerschellt und wird der „radikale" Trade Unionismus zerschellen, soweit er von den Zentristen geführt wird, die nicht wissen, was sie wollen.

Während die Trade Unions sich mit den unter der Führung von Kommunisten stehenden Gewerkschaften der Sowjetunion verbrüdern, vertreibt die britische Labour Party, die sich auf die gleichen Trade Unions stützt, in Liverpool die englischen Kommunisten aus ihrer Mitte und bereitet damit eine faschistisch-staatliche Zertrümmerung ihrer Organisationen vor. Es wäre ein Verbrechen, wollte man nur einen Tag vergessen, dass solche Linken, wie Brailsford und selbst Lansbury, im Wesentlichen den Beschluss des Liverpooler Kongresses gutgeheißen haben, indem sie den Kommunisten an allem die Schuld gaben. Als sich freilich von unten her Entrüstung gegen den reaktionären Polizeigeist von Liverpool kundtat, änderten die „linken" Führer ein wenig ihren Kurs. Für ihre Beurteilung müssen jedoch beide Momente herangezogen werden. Die Revolutionäre benötigen ein gutes Gedächtnis. Eine eigene Linie besitzen die Herren „Linken" nicht. Sie werden auch fürderhin unter dem Druck der bürgerlich-fabianischen Reaktion nach rechts und unter dem Druck der Massen nach links schaukeln. In schwierigen Minuten sind diese frommen Christen stets bereit, die Rolle wenn nicht eines Herodes, so doch eines Pontius Pilatus zu spielen. Der englischen Arbeiterklasse stehen aber viele schwere Minuten bevor.

In der Independent Labour Party existiert eine Bewegung zugunsten einer Vereinigung der II. und III. Internationale. Versucht man aber, dieselben Leute zu fragen, ob sie, von einer Vereinigung ganz abgesehen, mit einer Kampfvereinbarung mit den englischen Kommunisten einverstanden seien, so schrecken sie sofort zurück. In allem, was die Revolution betrifft, herrscht bei den englischen Linken „die Liebe zum Fernen". Sie sind für die Oktoberrevolution, für die Sowjetgewalt, für die Sowjetgewerkschaften, selbst für Annäherung an die Komintern, jedoch mit der unerlässlichen Bedingung, dass hierbei die britische Verfassung, das System des Parlamentarismus und das System der Labour Party keine Einbußen erleiden. Gegen diese widerliche doppelgesichtige Politik der Linken muss der Hauptschlag gerichtet werden.

Hierzu ist außerdem zu sagen: in den Sympathien vieler Linken für die Sowjetunion (bei der Feindseligkeit gegenüber den eigenen Kommunisten) ist ein groß Teil von Respekt des Kleinbürgers vor der starken Staatsgewalt enthalten. Das darf nicht vergessen werden. Gewiss ist der kleine Bourgeois, der sein Gesicht nach der Sowjetrepublik wendet, progressiver als der kleine Bourgeois, der vor den Vereinigten Staaten ins Knie sinkt. Es ist ein Schritt vorwärts. Revolutionäre Perspektiven dürfen jedoch auf diesem Respekt nicht aufgebaut werden.

25. Dezember 1925

Ein ausländischer Kommunist, der England gut kennt und es erst vor kurzem verlassen hat, schrieb mir vor einigen Tagen: „Während meines Aufenthalts in England hatte ich wiederholt Unterredungen über das Thema der englischen Revolution mit einigen prominenten linken Führern. Ich habe ungefähr folgenden Eindruck empfangen: Sie sind überzeugt, dass sie in nächster Zukunft die Mehrheit im Parlament gewinnen, und dann zu einer vorsichtigen aber entschlossenen Durchführung der maximalen Forderungen der Arbeiterklasse, wie Nationalisierung der Gruben, gewisser anderer Industriezweige, der Banken usw., schreiten werden. Wenn die Industriellen und Bankiers einen Widerstand wagen sollten, o, dann würden sie unverzüglich verhaftet und ihre Unternehmen nationalisiert werden. Auf meine Frage, was in einem solchen Falle die faschistische Bourgeoisie, in deren Hände sich Armee und Flotte befinden, tun würde, wurde mir erwidert: Im Falle eines bewaffneten Widerstandes seitens der Faschisten wird man sie als „außerhalb des Gesetzes" stehend erklären und das englische Volk wird in seiner überwältigenden Mehrheit der Labour Party zum Zwecke der Verteidigung der gesetzlichen Regierung folgen. Als ich darauf hinwies, man müsse, da ein Appell an die Waffen unvermeidlich sei, die Arbeiterklasse schon jetzt für eine solche Lösung vorbereiten, damit die bewaffneten Kräfte der Bourgeoisie sie nicht plötzlich überraschten, wurde mir geantwortet, eine solche Vorbereitung würde ein vorzeitiges Signal für den Bürgerkrieg sein und die Labour Party daran hindern, im Parlament eine Mehrheit zu erlangen. Auf meine Frage, auf welcher Seite der Barrikade wohl MacDonald, Snowden, Thomas und deren Freunde stehen würden, kam die Antwort: am wahrscheinlichsten auf der Seite der Bourgeoisie. Warum arbeiten sie dann mit ihnen gegen die Kommunisten zusammen zwecks Festigung einer Parteiführung, die im kritischen Moment die Arbeiterklasse verraten wird? Darauf erfolgt die Antwort: Wir sind der Ansicht, dass es uns auf alle Fälle (!) gelingen wird, die Mehrheit der Arbeiterklasse auf unserer Seite zu behalten, und dass ein Abfall MacDonalds und seiner liberalen Freunde eine glückliche Beendigung der Weltrevolution nicht verhindern könnte!

Dieses Blättchen persönlicher Eindrücke und Unterredungen ist in Wahrheit höchst wertvoll. Die Leute haben schon vorher fest beschlossen, zur Macht nicht anders zu gelangen, als durch die Eselspforte, die ihnen der bis an die Zähne bewaffnete, an dieser Pforte Wache haltende Feind gezeigt hat. Wenn sie, die Linken, die Macht (durch die erwähnte Pforte) übernehmen werden, so wird das gute englische Volk, falls die Bourgeoisie gegen die gesetzliche Macht sich erheben sollte, das nicht dulden. Wenn aber MacDonald und Thomas, die von den weisen Linken auf ihrem Rücken getragen werden, sich zufällig in einer gemeinsamen Verschwörung mit der bewaffneten Bourgeoisie gegen die unbewaffneten Arbeiter erweisen werden, so darf dieses niemandem Befürchtungen einflößen, denn bei der Linken ist der Sieg auch für solchen Fall vorgesehen. Mit einem Worte, die tapferen und weisen Leute haben fest beschlossen, die Bourgeoisie unter allen Kombinationen zu besiegen und dabei in den allerbesten Beziehungen zum Parlament, zum Gesetz, Gericht und Policeman zu bleiben. Es ist nur bedauerlich, dass die Bourgeoisie nicht die Absicht hat, den Linken den Vorzug einer legalen Expropriation der Macht einzuräumen. Indem sie den faschistischen Flügel um so energischer hervorkehrt, je unmittelbarer der Bürgerkrieg droht, wird die Bourgeoisie genügende Mittel der Provokation, der legalen Staatsumwälzung usw. finden. Die Frage dreht sich letzten Endes nicht darum, wer Gesetz und Tradition besser deutet, sondern darum, wer Herr im Hause ist.

Im höchsten Grade bezeichnend ist jene Diskussion, die vor kurzem in der englischen Arbeiterpresse bezüglich der Frage des Selbstschutzes entbrannt ist. Die Frage selbst ist nicht als Frage des bewaffneten Aufstandes zur Ergreifung der Gewalt entstanden, sondern als Frage der Abwehr seitens Streikender gegenüber Streikbrechern und Faschisten.

Wir haben schon seinerzeit nachgewiesen, wie der Trade Unionismus durch die Logik der Entwicklung – besonders unter den Bedingungen eines kapitalistischen Niedergangs – unvermeidlich den Rahmen der Demokratie zerschlägt. Man kann die Zusammenstöße der Klassen nicht willkürlich bis zur Eroberung der Parlamentsmehrheit hinausschieben. Durch die eigene Not gedrängt, bedrängt die Bourgeoisie das Proletariat. Dieses wehrt sich. Hieraus die unausbleiblichen Streikkämpfe. Die Regierung bildet in bisher ungekanntem Maße Streikbrecherorganisationen. Die Faschisten verquicken sich mit der Polizei. Die Arbeiter stellen die Frage des Selbstschutzes. Hierin ist der Bürgerkrieg in seinem vollen Umfange enthalten.

Ein Arbeiter schreibt in der Wochenschrift Lansburys:

Der Faschismus ist ganz einfach eine militärische Organisation und mit Beweisgründen ist ihm nicht beizukommen. Niederzwingen kann man ihn nur durch eine entsprechende Organisation unsererseits."

Der Autor empfiehlt, die militärische Organisation des Faschismus als Muster zu nehmen. Das ist richtig: das Proletariat kann und muss bei seinem Feinde das Kriegshandwerk lernen.

Aus derselben Quelle – der objektiven Verschärfung der Klassengegensätze – stammt das Bestreben der Arbeiter, die Soldaten auf ihre Seite zu ziehen. Die Agitation in Armee und Flotte ist das zweite machtvolle Element des Bürgerkrieges, dessen Entwicklung in keinem unmittelbaren Zusammenhange mit der Eroberung der Parlamentsmehrheit steht. Der Übergang eines bedeutenden Teiles der bewaffneten Kräfte auf die Seite der Arbeiter kann die Eroberung der Macht durch das Proletariat auch ohne Parlamentsmehrheit gewährleisten. Die allergrößte Arbeitermehrheit im Parlament kann aber andererseits zunichte gemacht werden, wenn die bewaffnete Macht sich in den Händen der Bourgeoisie befindet. Wer das nicht begreift, ist kein Sozialist, sondern ein Tölpel.

Gegen die Losung der Bewaffnung haben die linken Weisen alle Vorurteile und Banalitäten der verflossenen Jahrhunderte ausgraben: sowohl den Vorzug des moralischen Faktors gegenüber der Gewalt wie die Vorteile allmählicher Reformen und die anarcho-pazifistische Idee eines friedlichen Generalstreiks (die sie nicht als Kampfmittel benötigen, sondern als Beweismittel gegen einen Aufstand) und die heroische Bereitschaft, Gewaltanwendung in dem sogenannten „äußersten Falle zuzulassen, wenn man uns zwingen sollte", das ist offenbar, wenn der Feind uns Unbewaffnete plötzlich überraschen und an die Wand drücken sollte.

5. März (aus einem Briefe)

Mehr als im ganzen übrigen Europa bleibt in England das Bewusstsein der Arbeitermassen, besonders ihrer führenden Schichten, hinter den objektiven wirtschaftlichen Verhältnissen zurück. Und gerade auf dieser Linie liegen zurzeit die Hauptschwierigkeiten und Gefahren. Die Spitzen der englischen Arbeiterbewegung aller Schattierungen fürchten die Aktionen deshalb, weil die historische Ausweglosigkeit des englischen Kapitalismus eine jede halbwegs große Frage der Arbeiterbewegung in ihrer vollen Schärfe aufrollt. Ganz besonders bezieht sich dies auf die Kohlenindustrie. Die jetzige Lohnhöhe der Grubenarbeiter wird durch die Subventionen des Staates ermöglicht, die das ohnehin schon überlastete Budget noch mehr belasten. Die Subventionen fortsetzen, heißt die ökonomische Krisis steigern und vertiefen. Die Subventionen verweigern, heißt eine soziale Krisis hervorrufen.

Die Notwendigkeit eines technischen und wirtschaftlichen Umbaus der Kohlenindustrie ist ein tief revolutionäres Problem und erheischt deshalb den politischen „Umbau" der Arbeiterklasse. Zur Zerstörung des Konservativismus der englischen Kohlenindustrie, dieser Grundlage des englischen Kapitalismus, kann man jedoch nur durch die Zerstörung der konservativen Organisationen, der Traditionen und Gewohnheiten in der englischen Arbeiterbewegung gelangen. England tritt in einen ganzen historischen Abschnitt allergrößter Erschütterungen ein. Eine „ökonomische" Lösung der Frage können nur die konservativen englischen Trade Unionisten erwarten. Aber gerade deshalb, weil diese ihre Kräfte auf eine „ökonomische" (das heißt eine friedliche, kompromisslerische, konservative) Lösung der Frage richten, das heißt dem historischen Prozess entgegenarbeiten, wird in England die revolutionäre Entwicklung der Arbeiterklasse in der nächsten Epoche mehr Spesen erfordern als in irgendeinem anderen Lande. Sowohl die Rechten wie die Linken, Purcell natürlich mit eingeschlossen, fürchten den Beginn der Auseinandersetzung in allerhöchstem Maße. Selbst wenn sie in Worten die Unvermeidlichkeit eines Kampfes und der Revolution anerkennen, so hoffen sie in der Seele doch auf irgendein Wunder, das sie von dieser Perspektive befreien werde. Für jeden Fall werden sie selbst bremsen, Ausflüchte machen, abwarten, sich auf andere berufen und so Thomas faktisch in jeder wirklich großen Frage der englischen Arbeiterbewegung beistehen (in Bezug auf internationale Fragen sind sie weit kühner).

Man kann daher die allgemeine Lage folgendermaßen charakterisieren: Die wirtschaftliche Ausweglosigkeit des Landes, die sich am aller deutlichsten in der Kohlenindustrie kundtut, drängt die Arbeiterklasse auf die Suche nach einem Ausweg, das ist auf den Weg eines sich stetig verschärfenden Kampfes. Hierbei wird schon die erste Etappe unvermeidlich die Unzulänglichkeit der „gewohnten" Kampfmethoden dartun. Der gesamte gegenwärtige „Überbau" der britischen Arbeiterklasse – in ausnahmslos allen seinen Schattierungen und Gruppierungen – ist ein Apparat der revolutionären Hemmung. Dies kündet für eine lang andauernde Periode den Druck der spontanen und halb spontanen Bewegung gegen den Rahmen der alten Organisationen an und auf der Grundlage dieses Druckes die Formierung neuer revolutionärer Organisationen.

Eine der wichtigsten Aufgaben besteht darin, der britischen Kommunistischen Partei zu helfen, diese Perspektive voll und ganz zu verstehen und durchzudenken. Im Apparate der Trade Unions und innerhalb des linken Flügels müssen unvergleichlich energischer und entschiedener als bisher die Aktionselemente vorangestellt werden, das heißt die Elemente, die fähig sind, die Unvermeidlichkeit großer Massenkämpfe zu begreifen, und es nicht fürchten, ihnen ins Gesicht zu sehen. Die Taktik der Einheitsfront muss in steigendem Maße und entschlossener unter das Zeichen dieser Perspektive gerückt werden.

Was die Grubenarbeiter anbelangt, so handelt es sich hier natürlich nicht um einen isolierten Streik, wenn auch um einen großen, sondern um den Beginn einer ganzen Serie von sozialen Kämpfen und Erschütterungen. Unter diesen Verhältnissen sich nach den Anschauungen Purcells und anderer zu orientieren, ist natürlich unmöglich. Diese müssen mehr als alle den Kampf fürchten. Bestenfalls können ihre Gedanken und Worte in unseren Augen nur eine gewisse symptomatische Bedeutung besitzen.

Die englischen Gewerkschaften fürchten (in der Person ihrer Bürokratie, selbst der Linken) unsere „Einmischung" in ihre inneren Angelegenheiten nicht weniger als Chamberlain.

Hemmungselemente gibt es in den Apparaten der englischen Arbeiterklasse übergenug. Die ganze Situation kann dahin zusammengefasst werden, dass die Erregung, die Unzufriedenheit, der Vorstoß der englischen Arbeitermassen auf allen Linien auf die organisatorischen und ideologischen Hindernisse des konservativen Apparats stoßen. Unter solchen Bedingungen sich Sorgen zu machen, dass man den ungeduldigen Führern Vorschub leisten könnte, hieße wahrhaft Wasser in den Ozean gießen.

Alles spricht dafür, dass in der allernächsten Periode (ich denke da an ein, zwei bis drei Jahre) der Kampf in England gegen den Willen der alten Organisationen und bei vollkommenem Unvorbereitetsein der jungen Organisationen ausbrechen wird. Freilich, selbst bei entschieden revolutionärer (das heißt aktiver) Einstellung der Kommunistischen Partei und der besten „linken" Elemente darf nicht angenommen werden, dass das Proletariat gleich im Ergebnis des ersten Ansturms zur Macht gelangen werde. Die Frage ist aber: wird dieser linke Flügel in dieser ersten revolutionären Etappe an der Spitze der Arbeitermassen stehen, so wie wir es im Jahre 1905 getan haben, oder wird er die revolutionäre Situation versäumen, wie es die deutsche Partei im Jahre 1923 getan hat. Diese letztere Gefahr ist im höchsten Grade real. Man kann sie nur einschränken, indem man die aktive Orientierung des linken Flügels (des wirklichen linken Flügels, und nicht etwa Lansburys oder Purcells) fördert. Um diese Aufgabe jedoch zu lösen (die Aufgabe der Förderung einer richtigen Orientierung der revolutionären Elemente in England) muss man es klar begreifen, dass alle Traditionen, organisierten Gewohnheiten, sowie die Ideen aller bestehenden Gruppierungen der Arbeiterbewegung – in verschiedener Gestalt und unter verschiedenen Losungen – diese entweder zu direktem Verrat, zu Kompromissen oder zum Abwarten und zur Passivität unter Berufung auf die Kompromissler und Anklagen gegen Verräter prädisponieren.

6. Mai1

Es ist über ein Jahr verstrichen, seit dies Buch geschrieben wurde. Das konservative Ministerium durchlebte seine Flitterwochen. Baldwin predigte den sozialen Frieden. Da MacDonald nicht imstande war, dem Konservatismus irgendetwas gegenüberzustellen, wetteiferte er mit ihm im Hass gegen die Revolution, den Bürgerkrieg und den Klassenkampf. Die Führer aller drei Parteien proklamierten, dass die Institutionen Englands völlig genügten, um die friedliche Zusammenarbeit der Klassen zu sichern. Natürlich wurde die Prognose des morgigen Tages, die in dieser Schrift dem britischen Imperium gestellt wurde, von der gesamten britischen Presse – von der „Morning Post" bis zur Wochenschrift Lansburys – als hoffnungsloser Unsinn und Moskauer Phantasmagorie ausgegeben.

Jetzt sieht die Lage etwas anders aus. England wird vom größten Massenstreik erschüttert. Die konservative Regierung treibt die Politik eines wütenden Angriffs. Von oben wird alles getan, um den offenen Bürgerkrieg zu provozieren. Der Widerspruch zwischen den sozialen Grundfaktoren und der Lüge des überlebten Parlamentarismus offenbarte sich in England, wie noch nie.

Der Massenstreik erwuchs aus dem Widerspruch zwischen der jetzigen Lage der britischen Wirtschaft auf dem Weltmarkte und den traditionellen Produktions- und Klassenverhältnissen im Innern des Landes. Formell hieß die Frage: Verminderung der Löhne der Bergarbeiter, Verlängerung ihres Arbeitstages, Aufbürdung eines Teiles der Opfer, die für eine wirkliche Reorganisation der Kohlenindustrie notwendig sind, zu Lasten der Arbeiter. So formuliert, ist diese Frage unlösbar. Es ist vollkommen richtig, dass ohne Opfer, und zwar ohne ernste Opfer seitens des englischen Proletariats die Kohlenindustrie wie überhaupt die ganze britische Wirtschaft nicht reorganisiert werden kann. Aber nur ein bedauernswerter Narr kann glauben, dass das englische Proletariat damit einverstanden ist, sich dieser Opfer auf den alten Grundlagen des kapitalistischen Eigentums zu unterziehen.

Der Kapitalismus wurde ausgegeben als ein Regime des dauernden Fortschritts und der systematischen Verbesserung des Schicksals der arbeitenden Massen. Er war es wenigstens auch bis zu einem gewissen Grade für manche Länder im Laufe des 19. Jahrhunderts. In England war die Religion des kapitalistischen Fortschritts stärker als irgendwo anders. Eben sie bildete die Grundlage der konservativen Tendenzen in der Arbeiterbewegung selbst, besonders in den Trade Unions. Die Kriegsillusionen waren in England (1914–1918) mehr als in anderen Ländern Illusionen der kapitalistischen Macht und des „sozialen" Fortschritts. Im Siege über Deutschland sollten diese Hoffnungen ihre letzte Krönung finden. Und jetzt sagt die bürgerliche Gesellschaft den Bergarbeitern: „Wenn ihr euch wenigstens eine solche Existenz sichern wollt, wie ihr sie bis zum Kriege gehabt habt, müsst ihr euch unbestimmte Zeit lang mit der Verschlechterung aller eurer Lebensbedingungen abfinden." Statt der kürzlich noch verkündeten Perspektive des stetigen sozialen Fortschritts wird den Bergarbeitern der Vorschlag gemacht, heute eine Stufe niedriger zu steigen, um nicht gezwungen zu sein, morgen mit einem Schlage drei oder noch mehr Stufen herunterzufallen. Das ist die Bankrotterklärung des britischen Kapitalismus. Der Generalstreik ist die Antwort des Proletariats, das nicht zulassen will und kann, dass der Bankrott des britischen Kapitalismus den Anfang des Bankrotts der britischen Nation und britischen Kultur bedeutet.

Diese Antwort wird jedoch viel mehr von der Logik der Lage als von der Logik des Bewusstseins diktiert. Der englischen Arbeiterklasse blieb keine andere Wahl. Der Kampf – gleichgültig, wie die Mechanik hinter den Kulissen auch gewesen sein mag – wurde durch den mechanischen Druck der ganzen Lage aufgezwungen. Die Weltlage der britischen Wirtschaft hat keine materielle Basis für einen Kompromiss geduldet. Die Thomas, MacDonald u. a. sind in die Lage von Windmühlen geraten, die bei starkem Winde die Flügel bewegen, ohne aber ein Pfund Mehl zu liefern, da das Korn fehlt. Die hoffnungslose Leere des jetzigen britischen Reformismus offenbarte sich mit einer solchen überzeugenden Kraft, dass den Reformisten nichts übrig blieb, als am Massenstreik des britischen Proletariats teilzunehmen. Darin offenbarte sich die Stärke des Streiks. Aber auch seine Schwäche.

Der Generalstreik ist die schärfste Form des Klassenkampfes. Nach ihm kommt bereits der bewaffnete Aufstand. Eben deshalb verlangt der Generalstreik mehr als irgendeine andere Form des Klassenkampfes eine klare, entschlossene, feste, d. h. revolutionäre Leitung. Das britische Proletariat aber zeigte im jetzigen Streik keine Spur einer solchen Leitung, und man kann nicht erwarten, dass sie mit einem Male erscheint, in fertiger Form, wie aus der Erde gestampft. Der Generalrat der Gewerkschaften begann mit der lächerlichen Erklärung, dass der jetzige Generalstreik keinen politischen Kampf darstelle, geschweige denn einen Angriff gegen die Staatsgewalt der Bankiers, der Fabrik- und Gutsbesitzer und das heilige britische Parlament. Diese alleruntertänigste Kriegserklärung erschien jedoch der Regierung keineswegs überzeugend, die fühlt, wie ihr unter der Wirkung des Streiks die realen Machtinstrumente entgleiten. Die Staatsgewalt ist keine „Idee", sondern ein materieller Apparat. Wird der Apparat der Verwaltung und der Unterdrückung paralysiert, so wird auch die Staatsgewalt paralysiert. In der modernen Gesellschaft kann man nicht herrschen, ohne Eisenbahn, Schiffsverkehr, Post und Telegraph, elektrische Stationen, Kohle usw. in der Hand zu haben. Der Umstand, dass MacDonald und Thomas irgendwelche politischen Ziele abschwören, charakterisiert sie selbst, keineswegs aber die Natur des allgemeinen Streiks, der, wenn er bis ans Ende durchgeführt wird, die revolutionäre Klasse vor die Aufgabe der Organisation einer neuen Staatsgewalt stellt. Hiergegen jedoch kämpfen mit allen Kräften eben die, die durch den Gang der Ereignisse „an die Spitze" des allgemeinen Streiks gestellt sind. Und darin besteht die Hauptgefahr. Menschen, die den Generalstreik nicht wollten, die den politischen Charakter des Generalstreiks verneinen, die nichts so sehr fürchten wie die Folgen eines siegreichen Streikes, müssen unweigerlich alle ihre Bemühungen darauf richten, den Streik im Rahmen eines halb politischen Halbstreiks zu halten, d.h. ihn zu entkräften. Man muss den Tatsachen ins Auge sehen: Die Hauptbemühungen der offiziellen Führer der Arbeiterpartei und einer bedeutenden Anzahl der offiziellen Gewerkschaftsführer werden nicht darauf gerichtet sein, mit Hilfe des Streiks den bürgerlichen Staat, sondern mit Hilfe des bürgerlichen Staates den Generalstreik zu paralysieren. Die Regierung, in der Person ihrer hartnäckigsten Konservativen, will zweifellos einen Bürgerkrieg im kleinen Maßstabe provozieren, um die Möglichkeit zu besitzen, Schreckensmaßnahmen vor der Entwicklung des Kampfes zu ergreifen und die Bewegung zurückzuwerfen. Indem die Reformisten den Streik des politischen Programms berauben, den revolutionären Willen des Proletariats zersetzen und die Bewegung in eine Sackgasse treiben, stoßen sie auf diese Weise die einzelnen Arbeitergruppen auf den Weg vereinzelter Aufstände. In diesem Sinne begegnen sich die Reformisten mit den faschistischen Elementen der Konservativen Partei. Hier ist die Hauptgefahr des begonnenen Kampfes.

Es ist jetzt nicht angebracht, die Dauer des Kampfes, seine Entwicklung, geschweige denn seinen Ausgang zu prophezeien. Man muss im internationalen Maßstabe alles tun, um den Kämpfenden zu helfen und die Bedingungen ihres Erfolges zu erleichtern. Aber man muss sich klar darüber Rechenschaft ablegen, dass dieser Erfolg nur in dem Maße möglich ist, in dem die britische Arbeiterklasse im Prozess der Entwicklung und der Verschärfung des Generalstreiks in der Lage sein und es verstehen wird, ihre Führer zu erneuern. Ein amerikanisches Sprichwort sagt, dass man das Pferd nicht wechseln darf, wenn man einen reißenden Strom durchschwimmt. Aber diese praktische Weisheit ist nur in gewissen Grenzen richtig. Auf dem Pferde des Reformismus ist es noch nie gelungen, einen revolutionären Strom zu durchschwimmen. Und die Klasse, die unter der opportunistischen Leitung in den Kampf ging, ist gezwungen, sie im Feuer des Feindes zu wechseln. Damit wird die Stellung der wirklich revolutionären Elemente des britischen Proletariats, vor allem der Kommunisten, vorbestimmt. Sie werden mit allen Maßnahmen die Einheit der Massenaktion unterstützen, aber sie werden keinen Schein der Einheit mit den opportunistischen Führern der Arbeiterpartei und der Gewerkschaften zulassen. Der unversöhnliche Kampf gegen jeden verräterischen Akt oder Versuch und die erbarmungslose Entlarvung der reformistischen Illusionen werden der wichtigste Inhalt der Arbeit der wahrhaft revolutionären Teilnehmer des Generalstreiks sein. Damit dienen sie nicht nur der Haupt- und Daueraufgabe der Herausbildung der neuen revolutionären Kaders, ohne die der Sieg des britischen Proletariats überhaupt nicht möglich ist, sondern sie tragen unmittelbar zum Erfolg des jetzigen Streikes bei, indem sie ihn vertiefen, seine revolutionäre Tendenz offenbaren, die Opportunisten beiseite schieben und die Stellung der Revolutionäre stärken. Die Ergebnisse des Streikes – sowohl die unmittelbaren wie auch die mehr in der Ferne liegenden – werden um so bedeutender sein, je entschiedener der revolutionäre Wille der Massen die Barrieren und Hindernisse der konterrevolutionären Leitung niederreißen wird.

Der Streik an und für sich kann die Lage des britischen Kapitalismus und der Kohlenindustrie, insbesondere auf dem Weltmarkte nicht ändern. Dazu ist eine Reorganisation der ganzen britischen Wirtschaft notwendig.

Der Streik ist nur ein scharfer Ausdruck dieser Notwendigkeit. Das Programm der Reorganisation der britischen Wirtschaft ist ein Programm der neuen Macht, des neuen Staates, der neuen Klasse. Darin besteht auch die Grundbedeutung des Generalstreiks: Er stellt scharf die Machtfrage. Der wirkliche Sieg des Generalstreiks kann seinen Ausdruck nur in der Eroberung der Macht durch das Proletariat und in der Errichtung seiner Diktatur finden. Unter den Bedingungen der hoffnungslosen Lage des britischen Kapitalismus kann der Generalstreik noch weniger als sonst das Instrument der Reformen oder der Teileroberungen sein. Genauer gesagt: Wenn die Grubenbesitzer oder die Regierung auf diese oder jene Zugeständnisse unter dem Druck des Streiks eingegangen wären, so hätten diese Zugeständnisse infolge der ganzen Lage weder eine tiefe noch dauernde Bedeutung gehabt. Das soll keineswegs heißen, dass der jetzige Streik vor der Alternative steht: Alles oder nichts. Hätte das britische Proletariat eine Leitung besessen, die einigermaßen seiner Klassenstärke und der Reife der Bedingungen entsprochen hätte, so wäre die Gewalt im Laufe etlicher Wochen aus den Händen der Konservativen in die Hände des Proletariats übergegangen. Aber mit einem solchen Ausgang kann man schwerlich rechnen. Das heißt wiederum nicht, dass der Streik hoffnungslos ist. Je breiter er sich entfalten, je stärker er die Grundlagen des Kapitalismus erschüttern, je weiter er die verräterischen und opportunistischen Führer zurückwerfen wird, desto schwieriger wird für die bürgerliche Reaktion der Übergang zur Gegenoffensive sein, desto weniger werden die proletarischen Organisationen leiden, desto schneller wird die nächste entscheidende Etappe des Kampfes eintreten.

Die Lehren und Folgen des jetzigen Klassenzusammenstoßes werden gewaltig sein, sogar ganz unabhängig von seinem unmittelbaren Ergebnis. Jedem Proletarier Englands wird es klar werden, dass das Parlament die Grund- und Lebensaufgaben des Landes nicht zu lösen vermag. Die Frage der wirtschaftlichen Rettung Britanniens wird nunmehr seinem Proletariat als Frage der Eroberung der Macht gestellt werden. Allen vermittelnden, kompromisslerischen, pseudopazifistischen Zwischenelementen wird der Todesstoß versetzt werden. Die Liberale Partei, wie ihre Führer sich auch drehen und wenden mögen, wird aus dieser Prüfung noch bedeutungsloser hervorgehen, als sie es war, bevor sie in den Kampf ging. Innerhalb der Konservativen Partei werden die unerbittlichsten Elemente das Übergewicht erlangen. Innerhalb der Arbeiterpartei wird der revolutionäre Flügel an Einfluss gewinnen und einen vollkommeneren Ausdruck finden. Die Kommunisten werden entschlossen vorwärts stoßen. Die revolutionäre Entwicklung Englands wird einen gewaltigen Schritt in der Richtung der Entscheidung vorwärts machen.

Die Fragen, die vor einem Jahre in dieser Schrift aufgeworfen wurden, werden erst jetzt durch den Gang der Ereignisse ernstlich als politisch unaufschiebbar gestellt. Im Lichte des sich jetzt entwickelnden gewaltigen Streiks werden die Fragen der Evolution und Revolution, der friedlichen Entwicklung und der Gewaltanwendung, der Reformen und der Klassendiktatur in ihrer ganzen Schärfe das Bewusstsein von Hunderttausenden und Millionen britischer Arbeiter beschäftigen. Daran kann kein Zweifel sein. Das britische Proletariat, das durch die Bourgeoisie und ihre Fabianischen Agenten im Zustande einer erschreckenden ideologischen Rückständigkeit gehalten wurde, wird mit einigen Löwensprüngen nach vorwärts kommen. Die materiellen Bedingungen Englands sind längst für den Sozialismus reif. Der Streik hat die Ersetzung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen auf die Tagesordnung gestellt. Wenn der Streik selbst auch diese Ablösung nicht hervorrufen wird, so wird er sie äußerst nahe rücken. In welcher Zeitspanne, kann man selbstverständlich nicht sagen. Aber man muss sich auch auf kurze Termine vorbereiten.

13. Mai

Die Niederlage des Generalstreiks in der gegebenen Etappe erscheint „gesetzmäßig", d.h. sie ist die Folge aller Bedingungen seiner Entstehung und Entwicklung. Diese Niederlage war vorauszusehen. Es ist nichts darin enthalten, was uns den Mut nehmen könnte. Über die Lehren der Niederlage und über die Lehren des Generalstreiks selbst jedoch später.

Moskau, den 19. Mai 1926

* Siehe „Prawda" und „Iswestija" vom 11. Februar 1926 (Nr. 34).

1 Aus dem Vorwort zur 2. deutschen Auflage des Buches „Wohin treibt England?", Neuer Deutscher Verlag. 1926.

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