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Leo Trotzki 19261208 Rede auf der VII. Tagung der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale

Leo Trotzki: Rede auf der VII. Tagung der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 6. Jahrgang Nr. 160 (30. Dezember 1926), S. 2936-2941

Genossen, zuerst möchte ich Sie ersuchen, mich in der Redezeit nicht zu beschränken. Denn die Frage, die auf der Tagesordnung steht, dreht sich, wie um ihre Achse, um den sogenannten Trotzkismus. Einer der jüngeren Genossen hat sehr passend die Liste derjenigen Genossen aufgestellt, – und diese Liste ist noch nicht vollständig –, die hier in diesem Saale über den sogenannten Trotzkismus gesprochen haben: Bucharin, Kuusinen, Treint, Pepper, Birch, Stern, Brand, Remmele, von dem dreistündigen Referat des Genossen Stalin ganz zu schweigen.

Die Diskussion, die hier abschließt, ist ja eine ziemlich eigenartige Diskussion. Unser Zentralkomitee hat im Januar dieses Jahres ein Rundschreiben an die Bruderparteien gerichtet. In diesem Schreiben hieß es: „Das ZK der KPdSU ist sich vollkommen einig darin, dass das Hineintragen der Diskussion der russischen Frage in die Reihen der Komintern nicht wünschenswert ist." Folglich hat diese internationale Diskussion offiziell nicht stattgefunden, wir zumindestens haben an ihr nicht teilgenommen. Hier will man also eine Diskussion abschließen, die offiziell nicht eröffnet worden ist, eine Diskussion, die in der Anklage des Trotzkismus gipfelt.

Die Theorie des Trotzkismus wird künstlich fabriziert – gegen meinen Willen, gegen meine Überzeugung, gegen meine wirkliche Auffassung. Um Ihnen zu beweisen, dass ich nicht der verantwortliche politische Redakteur der mir aufgehalsten Doktrin des Trotzkismus bin, möchte ich die Versammlung ersuchen, mir unbeschränkte Redezeit zu gewähren. (Minimum zwei Stunden.)

(Genosse Trotzki erhält eine Stunde Redezeit.)

Genossen, ich ergreife das Wort zu dieser wichtigen Frage, obwohl wir heute in unserem Zentralorgan, der „Prawda", einen Leitartikel gelesen haben, der ja schon die Tatsache allein, dass Genosse Sinowjew hier das Wort ergriffen hat, als einen Versuch der Fraktionstätigkeit charakterisiert. Ich glaube, das ist nicht richtig. Der Beschluss der Erweiterten Exekutive der KI über den Antrag des Genossen Riese, die Vertreter der Opposition in der KPdSU zu Worte kommen zu lassen, war nicht in diesem Geist gedacht und angenommen worden. Die Reden der Genossen Thälmann und Ercoli waren in einer ganz anderen Tonart gehalten, und das Schreiben unseres Zentralkomitees, das heute zur Verlesung kam, sagt nicht, dass wir durch unser Auftreten unsere Erklärung vom 16. Oktober verletzen. Dem ist auch nicht so. Würde aber das Zentralkomitee das sagen, so hätte Ich nie beim Präsidium um das Wort ersucht. Das Zentralkomitee sagte zwar, dass das Auftreten einen Anstoß zur Erneuerung des Fraktionskampfes geben kann, aber es überließ die Entscheidung darüber uns selbst. In dem Schreiben des ZK wird daran erinnert, dass ich auf dem V. Weltkongress ein Auftreten trotz Aufforderung ablehnte, aus dem Grund, weil der XIII. Parteitag unserer Partei über die damals schwebenden Fragen sich schon ausgesprochen hatte. Genossen, ich muss aber demgegenüber in Erinnerung bringen, dass der V. Weltkongress mich in einem Beschluss verurteilte, gerade deshalb, weil ich nicht auftreten wollte. In diesem Beschluss wurde gesagt, dass ich mich auf formelle Gründe berufe, anstatt vor dem höchsten Forum der Internationale aufzutreten und meine Meinung zum Ausdruck zu bringen.

Wenn Genosse Sinowjew und ich behaupten, dass unser Auftreten keine Appellation bedeutet, so ist es natürlich nur in dem ganz bestimmten Sinne gemeint, dass wir erstens keine Resolution einbringen, dass wir, insoweit es von unseren Absichten und unseren Handlungen abhängt, unsere Gedanken so zum Ausdruck bringen werden, dass sie diejenigen Genossen in der Internationale, die mit uns sympathisieren, nicht zum Fraktionskampf aufmuntern, sondern im Gegenteil vom Fraktionskampf abhalten sollen. Die Behauptung, dass unser Auftreten an sich eine Verletzung der Erklärung vom 16. Oktober sei. ist falsch, denn die Erklärung vom 16. Oktober und die Antwort des ZK darauf räumen uns die Möglichkeit ein, auf dem statutarisch zulässigen Wege unsere Ideen zu verteidigen.

Genossen, ich habe schon erwähnt, dass die Achse der Diskussion der sogenannte Trotzkismus ist. Unser verehrter Vorsitzender hat mich falsch interpretiert, als er die Sache so hinstellte, als ob ich persönlich darauf prätendiere, im Zentrum der Diskussion zu stehen.

Das ist keineswegs der Fall. Es handelt sich um eine politische und nicht um eine persönliche Frage. Es handelt sich um eine politische Frage, die aber, wie schon gesagt, gegen meinen Willen und mit Unrecht mit meiner Person und meinem Namen verknüpft wird, nicht von mir, sondern von den Genossen, die unsere Ansichten kritisieren.

Der Vortrag des Genossen Stalin, wenigstens in seiner ersten Hälfte – denn nur diese habe ich leider zu lesen bekommen in der heutigen Nummer der „Prawda" –, ist nichts anderes als eine einzige Anklage des „Trotzkismus" gegenüber der Opposition. Diese Anklage wird auf Zitaten aufgebaut, die aus einer jahrzehntelangen politisch-schriftstellerischen Tätigkeit herausgerissen werden, sie versucht, Antworten auf Fragen von heute, die aus einer neuen Etappe des wirtschaftlichen und sozialen Lebens bei uns und in der gesamten Internationale entstehen, aus alten durch die Tatsachen selber überwundenen Streitigkeiten vermittels aller möglichen logischen Manöver abzuleiten. Und wiederum dreht sich hier diese ganze künstlich fabrizierte Konstruktion um die Tatsache, dass ich in meinem politischen Leben, in meiner politischen Tätigkeit jahrelang außerhalb der bolschewistischen Partei stand und in gewissen Perioden ziemlich heftig die bolschewistische Partei und wichtige Ideen von Lenin bekämpfte. Das war ein Fehler von mir. Die Tatsache, dass ich in die bolschewistische Partei eingetreten war –, selbstverständlich ohne „Bedingungen" zu stellen, denn die bolschewistische Partei kennt keine Bedingungen in ihrem Programm, ihrer Taktik, ihrer Organisation und Zugehörigkeit zur Partei –, diese bloße Tatsache war ein Beweis dafür, dass das, was mich vom Bolschewismus trennte, an der Schwelle der Partei abgelegt worden ist.

(Zwischenruf Remmele: „Wie kann man so etwas ablegen an der Schwelle der Partei I")

Das ist, Genossen, selbstverständlich nicht in jenem formellen Sinne zu verstehen, in dem es Genosse Remmele aufzufassen scheint, sondern in dem Sinne, dass die Unterschiede und Differenzen in den Kämpfen und Erfahrungen des politischen Lebens überwunden worden sind, denn das Überschreiten der Schwelle der Partei bedeutete eben, dass das Nichtbolschewistische meiner Tätigkeit durch die Tatsachen und durch die aus ihnen erwachsenen geistigen Erfahrungen beseitigt worden war. Jedenfalls räume ich dem Genosse Remmele und jedem anderen gern das Recht ein, sich für einen besseren Bolschewisten. einen revolutionäreren Kommunisten, als meine Wenigkeit, zu halten. Es handelt sich ja auch nicht darum. Die Verantwortung für meinen politischen Lebensgang trage ich ganz allein. Die Partei kennt mich mir als ihr Mitglied, das seine Ideen hier jetzt vor diesem Forum verteidigt.

Die Differenzen jener Zeit, als ich außerhalb der bolschewistischen Partei stand, waren ziemlich wichtige. Sie bezogen sich in großen Umrissen auf die konkrete Einschätzung der Klassenverhältnisse innerhalb der russischen Gesellschaft und die daraus sich ergehenden Perspektiven in Bezug auf die nächste Revolution, auf den Übergang von der demokratischen zu der sozialistischen Revolution. Damit ist die Frage der sogenannten permanenten Revolution verbunden. Andererseits betrafen diese Differenzen die Methoden und Wege des Aufbaues der Partei und das Verhältnis zum Menschewismus. In diesen beiden Fragen – und das habe ich auch schriftlich erklärt, als eine solche Anforderung an mich gestellt wurde – in diesen beiden Fragen waren bei weitem nicht alle die Genossen, die hier sind, im Recht gegen mich, Genosse Lenin aber, seine Doktrin und seine Partei halten absolut Recht gegen mich. In einer Antwort an Genossen, die daran zweifelten, schrieb ich:

Wir gehen davon aus, dass, wie die Erfahrung gezeigt hat, in allen mehr oder weniger prinzipiellen Fragen, wenn einer von uns mit Lenin nicht übereinstimmte, das Recht unbedingt auf Seiten Lenins war."

Und weiter:

In der Frage der gegenseitigen Beziehungen des Proletariats und der Bauernschaft stehen wir vollkommen auf dem Boden der theoretischen und taktischen Lehren, die Lenin auf Grund der Erfahrungen der Revolution von 1905 und 1917, sowie der Erfahrungen des sozialistischen Aufbaues (Smytschka – die Verbindung der Arbeiter und-Bauern) aufgestellt hat."

Die Theorie, die jetzt – ganz künstlich, nicht Im Interesse, der Sache – in die Diskussion hineingezogen wird, – die Theorie der permanenten Revolution. – habe ich nie aufgefasst, auch damals nicht, als ich ihre Mängel noch nicht erkannt hatte, als eine universale Theorie, die überhaupt für alle Revolutionen gültig ist, als eine überhistorische Theorie, wie Marx sich in einem Briefe ausdrückte. Sie bezog sich nur auf eine bestimmte Entwicklungsetappe in der geschichtlichen Entwicklung Russlands. Ich kenne nur ein einziges literarisches Produkt – und das ist mir auch erst seit ein paar Wochen zur Kenntnis gekommen – in dem der Versuch unternommen wurde, aus dieser Theorie eine Universaltheorie zu machen, sie als eine Verbesserung der theoretischen Einstellung Lenins zu präsentieren. Ich werde Ihnen das Zitat vorlesen. Ich brauche nicht zu sagen, dass ich mit dieser Interpretation absolut nichts gemeinsam habe:

Der russische Bolschewismus, in der national begrenzten Revolution 1905/1906 geboren, musste das Reinigungsritual der Befreiung von allen typischen Zügen der nationalen Eigenart durchmachen, um alle Bürgerrechte der internationalen Ideologie zu erhalten. Theoretisch wurde diese Säuberung des Bolschewismus von dem ihm anhaftenden nationalen Anstrich von Trotzki im Jahre 1905 durchgeführt, der die russische Revolution mit der gesamten internationalen Bewegung des Proletariats in der Idee der permanenten Revolution im Zusammenhang zu bringen versuchte."

Das habe nicht ich geschrieben, das ist im Jahre 1918 geschrieben worden von einem Genossen, der den Namen Manuilski trägt.

(Zuruf Manuilski: Ich habe eben eine Dummheit gesagt, und Sie wiederholen sie!)

Eine Dummheit? Vollkommen einverstanden. (Heiterkeit.) Aber über den Genossen Manuilski brauchen Sie sich keine Besorgnisse machen, natürlich ist das eine peinliche Geschichte, denn er selber nennt es ja eine Dummheit. Aber Genosse Manuilski, der mir hier eine unverdiente gewaltige heroische Tat zugeschrieben hatte, wird mir sogleich zwei ebenso unverdiente Fehler zuschreiben und wird auf diese Weise seine Bilanz ziehen. (Heiterkeit.)

Genossen, noch einmal bin ich in den letzten Jahren auf die Theorie der permanenten Revolution In derjenigen Karikaturform gestoßen, die retrospektiv mir von Zeit zu Zeit zugeschrieben wird. Das war auf dem III. Kongress. Erinnern Sie sich an die Diskussion, die sich entsponnen hatte über meinen Vortrag über die internationale Lage und die Aufgaben der Komintern? Damals bin ich beschuldigt worden, dass ich fast liquidatorische Tendenzen verteidige, obwohl ich sie im vollständigen Einvernehmen mit Lenin gegen mehrere Genossen, verteidigte, die behaupteten, dass die Krise des Kapitalismus in Permanenz vor sich gehen werde und sich verschärfen werde. Meine Behauptungen, dass wir vor eventuellen Stabilisierungsmöglichkeiten, Konjunkturverbesserungen usw. stehen und dass daraus taktische Konsequenzen gezogen werden müssen, wurden von manchem dieser Ultralinken als fast halb menschewistische gebrandmarkt. Das hat in erster Linie Genosse Pepper getan, der, soweit ich mich erinnere, damals zum ersten Mal auf der Bühne der Internationale auftrat. (Zwischenruf Pepper: Sie waren gezwungen, meine Vorschläge für die Resolution anzunehmen!)

So? Da Genosse Pepper mich trotz meiner beschränkten Redezeit vom Präsidium aus unterbricht, so muss ich daran erinnern, dass ich drei Evangelien des Genossen Pepper kenne. Das erste Evangelium auf dem III. Weltkongress war folgendes: Die russische Revolution braucht eine permanente, d. h. ununterbrochene revolutionäre Aktivität im Westen, und darum verteidigte er die falsche Taktik der Märzaktion (1921 in Deutschland).

Dann ging Genosse Pepper nach Amerika und brachte nach seiner Rückkehr eine zweite Freudenbotschaft mit: Die Internationale muss die bürgerliche La Follette-Partei unterstützen, denn in Amerika wird die Revolution nicht von den Arbeitern, sondern von den ruinierten Farmern zustande gebracht werden. Das war sein zweites Evangelium.

Sein drittes Evangelium hören wir von ihm jetzt: nämlich, dass die russische Revolution weder die Farmer-Revolution in Amerika noch die Märzaktion in Deutschland braucht, sondern, dass sie ganz von selbst im eigenen Hause den Sozialismus aufbauen werde. Also eine Art Monroe-Doktrin für den Aufbau des Sozialismus in Russland. Das war das dritte Evangelium des Genossen Pepper. Trotz meiner grauen Haare bin ich bereit, auch vom Genossen Pepper zu lernen, aber ich kann unmöglich alle zwei Jahre so radikal umlernen.

Genossen, ich glaube überhaupt nicht, dass die biographische Methode uns in prinzipiellen Fragen zu einer Entscheidung bringen kann. Selbstverständlich habe ich Fehler in vielen Fragen begangen, insbesondere in der Zeit meines Kampfes gegen den Bolschewismus. Wenn daraus folgen soll, dass politische Fragen überhaupt nicht nach ihrem inneren Gehalt, sondern nach Biographien zu diskutieren sind, so müsste man eine Liste der Biographien sämtlicher Delegierten aufstellen … Ich persönlich könnte mich auf einen Präzedenzfall berufen. Es lebte in Deutschland ein Mann, der Franz Mehring hieß und der nach einem langen und energischen Kampf gegen die Sozialdemokratie als ein ziemlich reifer Mann in die Sozialdemokratische Partei eintrat, der zuerst eine Geschichte der deutschen Sozialdemokratie als Feind schrieb – nicht als Knecht des Kapitals, sondern als prinzipieller Feind, – und dann schrieb er sie in ein ausgezeichnetes Werk über die deutsche Sozialdemokratie als Freund um. Andererseits sind da Kautsky und Bernstein, die niemals Marx offen bekämpften und die beide unter der Fuchtel von Friedrich Engels standen; Bernstein ist außerdem als derjenige bekannt, der über die literarische Erbschaft von Engels verfügt. Trotzdem ist Franz Mehring als Marxist, als Kommunist zu Grabe gegangen, während die beiden anderen als reformistische Lakaien des Kapitals immer noch leben. Das Biographische ist also zwar wichtig, aber nicht ausschlaggebend.

Niemand von uns hat eine lückenlose und fehlerlose Biographie. Lenin hat die wenigsten Fehler in seinem Laben begangen, aber ganz ohne Fehler war auch er nicht. Wir waren in unserem Kampfe gegen ihn immer im Unrecht, wenn es sich um wichtigere prinzipielle Fragen handelte.

Genosse Stalin, der hier fremde Fehler aufzählte, sollte nicht vergessen, die seinigen mit aufzuzählen. Wenn die permanente Revolution, soweit sie sich von den leninistischen Auffassungen unterschied, falsch war, so war doch manches richtige an ihr, das mich eben zum Bolschewismus führte. Die Permanente Revolution hat mich nicht verhindert, nach den Erfahrungen des Kampfes mit dem Bolschewismus, bei dem ich im Unrecht war, im Jahre 1917 in Amerika prinzipiell dieselbe Taktik einzuschlagen, die Genosse Lenin der Partei vorschlug und durchführte. Genosse Stalin hat nach der Februar-Revolution eine falsche Taktik eingeschlagen, die Lenin als eine Kautskysche Abweichung charakterisierte (in einem Artikel in der „Prawda" und in der Resolution über die bedingte Unterstützung der provisorischen Regierung). In der nationalen Frage, in der Frage des Außenhandelsmonopols, in der Frage der Diktatur der Partei und in anderen Fragen beging Stalin auch später ziemlich wichtige Fehler, aber ich glaube, der wichtigste Fehler, den er jetzt begeht, ist seine Theorie vom Sozialismus in einem einzelnen Lande.

Die Geschichte dieser Frage ist von Genossen Sinowjew hier ausgezeichnet vorgetragen worden, und ich bin vollkommen überzeugt, dass jeder Genosse, der sich die Mühe gibt, die Frage sorgfältig zu studieren – natürlich nicht formell nach den Zitaten, sondern dem Geiste der Schriften nach, denen diese Zitate entnommen wurden – unbedingt zur Schlussfolgerung kommen wird, dass die Tradition des Marxismus und Leninismus vollkommen auf unserer Seite ist. Die Tradition allein entscheidet freilich nicht. Man kann sagen: vom marxistischen Standpunkt aus sind wir jetzt verpflichtet, die früheren Entscheidungen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Aufbaues des Sozialismus in einem einzelnen Lande einer Revision zu unterwerfen. Möge man das nur sagen! Ich sehe aber keinen Grund für eine solche Revision. Die alte Losung behält ihre vollständige Berechtigung. Und ich glaube, dass je weiter sich dieses Thema entwickelt – es ist ein sehr wichtiges Thema für die gesamte Internationale, und gerade das hat mich bewogen, hier das Wort zu ergreifen –, je mehr sich dieses Thema entwickelt, desto mehr geraten die Verkünder der neuen Theorie in Widerspruch nicht nur mit den fundamentalen Grundsätzen unserer Lehre, sondern auch mit den politischen Interessen unserer Sache.

Genossen, die Voraussetzung der Theorie ist das Gesetz von der Ungleichmäßigkeit der imperialistischen Entwicklung. Genosse Stalin klagt mich an wegen der Nichtanerkennung oder nicht genügenden Anerkennung dieses Gesetzes. Mit Unrecht! Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung ist nicht das Gesetz des Imperialismus, sondern das Gesetz der gesamten menschlichen Geschichte. Die kapitalistische Entwicklung in ihrer ersten Epoche hat die wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede zwischen verschiedenen Nationen außerordentlich gesteigert; die imperialistische Entwicklung, d. h. die neueste Phase des Kapitalismus hat diese Differenzen im Niveau nicht vergrößert, sondern im Gegenteil zu einer ziemlich großen Nivellierung geführt. Diese Nivellierung wird niemals vollständig sein. Sie wird das verschiedene Tempo der Entwicklung immer wieder durchbrechen, und dadurch den auf einem bestimmten Niveau stabilisierten Imperialismus unmöglich machen.

Lenin hat die Ungleichmäßigkeit im Großen und Ganzen auf zwei Dinge bezogen: erstens auf das Tempo und zweitens auf das Niveau der ökonomischen und kulturellen Entwicklung der verschiedenen Länder. Was das Tempo anbetrifft, so hat der Imperialismus die Ungleichmäßigkeit bis aufs Höchste gesteigert; was aber das Niveau der verschiedenen kapitalistischen Länder betrifft, so hat er gerade wegen der Verschiedenheit des Tempos eine nivellierende Tendenz hervorgerufen. Wer das nicht versteht, versteht den Kern der Frage nicht. Nehmen Sie England und Indien. Die kapitalistische Entwicklung in gewissen Teilen Indiens ist viel rascher als die kapitalistische Entwicklung Englands in ihren Anfängen. Die Differenz, die wirtschaftliche Distanz zwischen England und Indien – ist sie heute größer oder kleiner als vor fünfzig Jahren? Sie ist kleiner. Nehmen Sie Kanada, Südamerika, Südafrika einerseits und England andererseits. Die Entwicklung von Kanada, Südamerika, Südafrika ist in der letzten Periode in einem Riesentempo vor sich gegangen Die „Entwicklung" Englands ist eine Stagnation, ja sogar ein Niedergang. Also, das Tempo ist so ungleichmäßig wie niemals in der Geschichte, aber das Niveau der Entwicklung dieser Länder hat sich heute mehr angenähert als vor 30 oder 50 Jahren.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Sehr wichtige! Gerade die Tatsache, dass in manchen zurückgebliebenen Ländern in der letzten Zeit das Entwicklungstempo sich immer fieberhafter gestaltete, während andererseits in manchen alten kapitalistischen Ländern die Entwicklung sich verlangsamt oder sogar rückwärts geht, gerade diese Tatsache macht die Kautskysche Hypothese von einem planmäßig organisierten Hyperimperialismus ganz unmöglich und gerade deshalb, weil verschiedene Länder, die ihrem Niveau nach sich annähern – ohne jemals einander zu erreichen –, dieselben Bedürfnisse nach Absatzmärkten, nach Rohmaterialien, dieselbe Eifersucht entwickeln. Eben deswegen wird wieder die Gefahr des Krieges immer schärfer und die Kriege müssen immer gigantischere Formen annehmen. Gerade dadurch wird der internationale Charakter der proletarischen Revolution sichergestellt und vertieft.

Die Weltwirtschaft ist kein leerer Begriff, Genossen, sondern eine Realität, die als Realität sich in den letzten 20 bis 30 Jahren immer mehr befestigte durch das beschleunigte Tempo der Entwicklung zurückgebliebener Länder und ganzer Kontinente. Das ist eine Tatsache von grundlegender Bedeutung, und gerade deshalb ist es grundfalsch, das ökonomische und politische Schicksal eines einzelnen Landes ohne Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Ganzen zu betrachten.

Was war der imperialistische Weltkrieg? Er war ja der Aufstand der Produktivkräfte nicht nur gegen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, sondern auch gegen den nationalen Rahmen des kapitalistischen Staates. Der imperialistische Krieg war ein Beweis für die Tatsache, dass es den Produktivkräften in diesem Rahmen zu enge geworden war.

Wir behaupten immer, dass der kapitalistische Staat nicht imstande ist, die von ihm entwickelten Produktivkräfte zu beherrschen und dass nur der Sozialismus diese Produktivkräfte, die über den Rahmen der kapitalistischen Staaten hinausgewachsen sind, in ein höheres und mächtigeres wirtschaftliches Ganze einzuordnen vermag.

Zum isolierten Staat führt kein Weg mehr zurück! Was war Russland vor der Revolution, vor dem Kriege? War es ein isolierter kapitalistischer Staat? Nein, es war ein Bestandteil der kapitalistischen Weltwirtschaft. Das ist der Kern der Dinge. Wer das ignoriert, der ignoriert die Grundlagen einer jeden sozialen und politischen Betrachtung. Warum hat Russland trotz seiner ökonomischen Zurückgebliebenheit in den Weltkrieg eingegriffen? Weil es sein Schicksal mit dem europäischen Kapitalismus durch das Finanzkapital verbunden hatte. Es konnte nicht anders. Und ich frage Sie, Genossen, was war es, das der Arbeiterklasse Russlands die Möglichkeit gab, die Macht zu ergreifen? Vor allen Dingen die Agrarrevolution. Ohne Agrarrevolution, ohne „Bauernkrieg" – und das hat eben Lenin mit seiner Genialität vorausgesagt und theoretisch ausgearbeitet –, wäre die Ergreifung der politischen Macht in unserem Lande für das Proletariat unmöglich gewesen. Hat der Bauernkrieg auch in anderen Revolutionen die Voraussetzungen der Machteroberung für das Proletariat geschaffen? Nein, im besten Falle für die Bourgeoisie.

Warum hat unsere Bourgeoisie die Macht nicht ergriffen? Weil sie ein Grundbestandteil der Weltbourgeoisie war, weil sie mit der gesamten imperialistischen Bourgeoisie auf die absteigende Linie geriet, bevor sie die Macht an sich gerissen hatte, weil das kapitalistische Russland ein Bestandteil des Weltimperialismus war, und zwar das schwächste Glied der imperialistischen Kette. Wenn der alte russische Staat ein isolierter Staat gewesen wäre, wenn Russland abseits von der Weltentwicklung gestanden wäre, abseits vom Imperialismus, abseits von der Bewegung des internationalen Proletariats, wenn es weder die Herrschaft des Finanzkapitals in seiner Wirtschaft, noch die geistige Herrschaft des Marxismus in den Vortruppen des Proletariats gekannt hätte, so hätte es „aus eigener Kraft" nicht so schnell zur proletarischen Revolution kommen können. Und wer glaubt, dass, nachdem die Arbeiterklasse die Macht ergriffen hatte, sie das Land aus der Weltwirtschaft ausschalten kann, wie man das Licht durch den elektrischen Knopf ausschaltet, der hat, Genossen, eine grundverkehrte Vorstellung von den Dingen.

Die Voraussetzung für den Sozialismus ist die Schwerindustrie und der Maschinenbau. Das ist der wichtigste Hebel des Sozialismus, nicht wahr? Wie steht es nun mit der technischen Ausrüstung unserer Fabriken und Werkstätten? Nach den statistischen Berechnungen des Sachverständigen Warzar ergibt sich, dass wir vor dem Kriege unsere technische Auslastung, unsere Werkzeuge, unsere Maschinen zu 63 Prozent aus dem Auslande bezogen haben. Bloß ein Drittel war heimischer Herkunft. Aber selbst dieses Drittel stellte die einfachsten Maschinen dar, die komplizierteren, die wichtigsten Maschinen bezogen wir aus dem Auslande. Wenn Sie also die technische Ausrüstung in unseren Fabriken betrachten, werden Sie die kristallisierte Abhängigkeit Russlands, auch der Sowjetunion, von der Weltwirtschaft erblicken. Wer das nicht beachten will, wer über die Sache spricht, ohne den ökonomisch-technischen Grund der Frage in seinen Zusammenhängen mit der Weltwirtschaft und Weltpolitik überhaupt nur zu berühren, der bleibt in der nackten Abstraktion und inmitten von zufällig zusammen geschleppten Zitaten stehen.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben wir das Grundkapital unserer Industrie fast gar nicht erneuert; im Laufe des Bürgerkrieges und des Kriegskommunismus haben wir gar keine Maschinen aus dem Auslande bezogen. Das könnte allmählich die Vorstellung erzeugen, als ob diese Ausrüstung unserer Industrie sozusagen zu den „Naturschätzen" unseres Landes gehöre und dass man auf dieser „natürlichen" Grundlage isoliert den Sozialismus bis zur Vollendung aufbauen könne.

Aber das sind Illusionen. Wir sind am Ende der sogenannten Wiederherstellungsperiode. Wir haben jetzt ungefähr das Vorkriegsniveau erreicht. Das Ende der Wiederherstellungsperiode ist aber gleichzeitig der Beginn der Wiederherstellung unseres materiellen Zusammenhanges mit der Weltwirtschaft. Wir müssen unser Grundkapital, das jetzt eine Krise durchmacht, erneuern; und wer da meint, dass wir bereits in den nächsten Jahren aus eigenen Kräften die gesamte Ausrüstung oder einen großen Teil dieser Ausrüstung werden produzieren können, ist ein Phantast. Die Industrialisierung unseres Landes, die von unserem XIV. Parteitag als die wichtigste Aufgabe der Partei auf die Tagesordnung gesetzt worden ist, bedeutet für die nächste, ziemlich lange Zukunft nicht die Verminderung, sondern im Gegenteil das Anwachsen unseres Zusammenhanges mit der Außenwelt, d. h. auch unserer (gegenseitigen natürlich) Abhängigkeit vom Weltmarkt, vom Kapitalismus, von seiner Technik und Wirtschaft und gleichzeitig das Anwachsen des Kampfes gegen die internationale Bourgeoisie. Das bedeutet, dass man die Frage des Aufbaues des Sozialismus bei uns nicht trennen kann von der Frage, was während der Zeit des Aufbaus in der kapitalistischen Wirtschaft vor sich geht. Diese beiden Fragen stehen im engsten Zusammenhang miteinander.

Wenn man sagt: aber, liebe Freunde, Ihr könnt doch selber Maschinen bauen, so antworten wir: „Natürlich, wenn die gesamte kapitalistische Welt zum Teufel geht, werden wir in ein paar Jahrzehnten viel mehr Maschinen bauen können als heute." Aber wenn wir von der kapitalistischen Welt „abstrahieren" – die ja doch existiert – und uns jetzt zum Vorhaben machen, mit eigenen Händen alle Maschinen, oder wenigstens die wichtigsten, schon in der nächsten Zeit zu erzeugen, d. h. wenn wir versuchen wollten, die Arbeitsteilung in der Weltwirtschaft zu ignorieren, unsere ökonomische Vorgeschichte, die unsere Industrie zu dem gemacht hat, was sie jetzt ist, zu überspringen, mit einem Wort, wenn wir nach der berühmten „sozialistischen" Monroe-Doktrin, die uns jetzt gepredigt wird, alles selbst schaffen wollen, so würde das unvermeidlich bedeuten eine außerordentliche Verringerung des Tempos unserer ökonomischen Entwicklung. Denn es ist vollkommen klar, dass ein Verzicht darauf, den Weltmarkt für sich auszunützen zur Ausfüllung der Lücken unserer Ausrüstungen, unsere eigene Entwicklung furchtbar langsam gestalten würde. Das Tempo der Entwicklung ist aber ein ausschlaggebender Faktor, denn wir sind nicht allein auf der Welt: der isolierte sozialistische Staat existiert zunächst nur in der Einbildungskraft der Journalisten und der Verfasser von Resolutionen. In Wirklichkeit steht unser sozialistischer Staat immer – direkt oder indirekt – unter der vergleichenden Kontrolle des Weltmarktes. Das Tempo der Entwicklung ist kein willkürliches. Es ist durch die gesamte Weltentwicklung gegeben, denn in letzter Instanz kontrolliert die Weltwirtschaft jeden ihrer Bestandteile, auch wenn der betreffende Bestandteil unter der proletarischen Diktatur steht und die sozialistische Wirtschaft aufbaut.

Um unser Land zu industrialisieren, müssen wir aus dem Ausland Maschinen einführen, und der Bauer muss Getreide nach dem Ausland ausführen. Ohne Ausfuhr keine Einfuhr! Andererseits kann ja auch der innere Markt nicht alle Erzeugnisse der Bauernwirtschaft verbrauchen. Also durch die Bedürfnisse der Bauernschaft einerseits, durch die Bedürfnisse der Industrie andererseits, sind wir der Weltwirtschaft eingegliedert worden, und unser Zusammenhang mit ihr, folglich auch der Kampf mit ihr wird von Monat zu Monat immer stärker werden. Aus der Isolierung des Kriegskommunismus kommen wir immer mehr heraus und gliedern uns immer mehr und mehr dem System der weltwirtschaftlichen Verbindungen und Abhängigkeiten ein. Und wenn man über die Theorie des Sozialismus in einem Lande spricht und die Tatsache der „Zusammenarbeit" und des Kampfes unserer Wirtschaft mit der kapitalistischen Weltwirtschaft außer acht lässt, so ist das, glaube ich, metaphysisches Spintisieren.

Genossen, die ziemlich einseitige Diskussion, die bis jetzt über diese Frage stattgefunden hat, hat jedenfalls schon das Gute zur Folge gehabt, dass sie Genossen Stalin bewog, seine Ideen etwas klarer und schärfer auszudrücken und gerade dadurch ihre vollständige Unhaltbarkeit zu zeigen.

Ich nehme die wichtigste Stelle aus der ersten Hälfte des Vortrages des Genossen Stalin, wo die Unhaltbarkeit der gesamten Theorie sozusagen schwarz auf weiß vor uns steht.

Genosse Stalin fragt: „Ist der Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion möglich? Aber was heißt das. ,den Sozialismus aufbauen', wenn man diese Formel in die konkrete Klassensprache übersetzt? Das heißt aus eigenen Kräften im Laufe des Kampfes unsere Sowjetbourgeoisie überwinden. (Man beachte diesen Gedanken! L. T.), wenn man also davon spricht, ob es möglich ist. den Sozialismus in der Sowjetunion aufzubauen, so will man damit sagen: Ist das Proletariat der Sowjetunion imstande, aus eigener Kraft die Bourgeoisie der Sowjetunion zu überwinden? So und nur so steht die Frage bei der Lösung des Problems vom Aufbau des Sozialismus in unserem Lande. Die Partei erteilt auf diese Frage eine bejahende Antwort."

Hier wird also die ganze Frage darauf reduziert, ob wir imstande sind, die eigene Bourgeoisie zu überwinden, als ob darin schon die ganze Lösung des Aufbaues des Sozialismus bestehe. Nein, das ist nicht der Fall! Der Aufbau des Sozialismus setzt voraus die Vernichtung der Klassen, die Ersetzung der Klassengesellschaft durch die sozialistische Organisation der gesamten Produktion und Distribution. Es handelt sich hier um die Überwindung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, was wiederum eine tiefgehende Industrialisierung der Landwirtschaft selbst erfordert. Und das alles, während wir auch weiterhin uns in einer kapitalistischen Einkreisung befinden. Man bedarf diese Frage mit dem bloßen Sieg über die Bourgeoisie im Innern nicht identifizieren.

Man muss immer beachten, dass wir in verschiedenen Fällen die Worte „Sieg des Sozialismus" verschieden verstanden haben. Wenn wir nämlich sagen, wie das Lenin 1915 tat, dass das Proletariat eines einzelnen Landes die Macht ergreifen, die sozialistische Produktion organisieren, und den Kampf gegen die Bourgeoisie der Nachbarländer aufnehmen kann, – was verstand er da unter der Organisation der sozialistischen Produktion? Das, was bei uns in den letzten Jahren bereits vorhanden ist: die Fabriken und Werke, die den Händen der Bourgeoisie entrissen worden sind, die notwendigen Schritte zur Sicherstellung der Produktion auf Staatskosten sind getan, so dass das Volk leben, aufbauen und sich gegen die kapitalistischen Staaten usw. verteidigen kann. Das ist freilich auch ein Sieg des Sozialismus, das ist ebenfalls eine Organisation der sozialistischen Produktion, aber das ist eben nur der erste Anfang. Von hier bis zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft ist noch ein sehr weiter Weg.

Ich wiederhole: wenn wir vom Aufbau des Sozialismus im vollen Sinne dieses Wortes sprechen, so bedeutet das die Vernichtung der Klassen und ferner auch das Absterben des Staates. Nun sagt Genosse Stalin, wir werden den sozialistischen Aufbau im vollen Sinne des Wortes durchführen, wenn wir unsere Bourgeoisie im Innern überwinden werden. Aber Genossen, den Staat und die Armee brauchen wir doch gegen den auswärtigen Feind. Diese Dinge bleiben bestehen, Genossen, solange die Weltbourgeoisie bestehen wird. Kann man ferner glauben, dass wir aus eigenen inneren Hilfsquellen, – sowohl den ökonomischen als auch den kulturellen, – die Klassen: das Proletariat und die Bauernschaft, in einer einheitlichen sozialistischen Planwirtschaft auflösen werden, bevor noch das europäische Proletariat die Macht erobern wird? Zu diesem Zwecke müssen wir doch unsere Technik außerordentlich weit entwickeln, und die Voraussetzung dafür ist wachsende Getreideausfuhr und eine wachsende Maschineneinfuhr. Die Maschinen aber sind einstweilen in den Händen der Weltbourgeoisie, und sie ist ja auch die Käuferin unseres Getreides. Sie diktiert uns einstweilen die Preise, und so geraten wir in eine gewisse Abhängigkeit von ihr und in einen Kampf mit ihr.

Um diese Abhängigkeit zu überwinden, genügt es keineswegs, die eigene Bourgeoisie zu überwinden, denn es handelt sich ja nicht um die politische Beseitigung der Bourgeoisie – politisch haben wir sie in unserem Lande im Jahre 1917 schon beseitigt – es handelt sich darum, in der kapitalistischen Einkreisung, d. h. im (wirtschaftlichen, politischen und militärischen) Kampfe gegen die Weltbourgeoisie den isolierten, sozialistischen Staat aufzubauen. Das kann nur dadurch geschehen, dass die Produktivkräfte dieses isolierten und einstweilen noch sehr rückständigen Staates stärker, mächtiger werden als die des Kapitalismus. Insofern es sich aber nicht um ein Jahr oder zehn Jahre oder sogar zwei Jahrzehnte handelt, sondern um eine Reihe von Jahrzehnten, die für den vollen Aufbau des Sozialismus notwendig sind, so kann man das nur erreichen, wenn unsere Produktivkräfte sich als mächtiger erweisen werden, als die Produktivkräfte des Kapitalismus. Die Frage läuft also nicht auf den Kampf des Proletariats gegen die eigene Bourgeoisie hinaus, sondern auf den Entscheidungskampf der isolierten neuen sozialistischen Gesellschaft gegen das kapitalistische Weltsystem. Nur so kann man die Frage stellen.

Hören wir jetzt weiter: „Wenn das falsch wäre – sagt Stalin –, wenn die Partei keinen Grund hätte, zu behaupten, dass das Proletariat der Sowjetunion imstande ist, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, trotzdem unser Land technisch relativ rückständig ist, so hätte die Partei keine Ursache (keine Ursache! L. T.), länger die Macht zu behalten, sie wäre gezwungen, die Macht aufzugeben und als oppositionelle Partei weiterzuwirken"

Daun wiederholt er:

Eins von beiden: Entweder – sagt Genosse Stalin – sind wir imstande, den Sozialismus zu bauen und endgültig aufzubauen, unsere nationale Bourgeoisie zu überwinden –, und dann muss die Partei die Macht behalten und im Namen des Sieges des Sozialismus in der ganzen Welt den sozialistischen Aufbau des Landes leiten. Oder wir sind nicht imstande, aus eigener Kraft unsere Bourgeoisie zu überwinden, da wir auf sofortige (warum „sofortige"?! L.T.) Hilfe von auswärts durch die siegreiche Revolution anderer Ländern nicht rechnen können, und dann müssen wir offen und ehrlich von der Regierung zurücktreten und eine neue Richtung einschlagen zur Organisierung einer neuen künftigen Revolution in der Sowjetunion. Darf die Partei ihre eigene Klasse und in diesem Falle die Arbeiterklasse betrügen? (Warum „betrügen"?! L.T.) Nein, sie darf das nicht. Eine solche Partei verdient, gerädert zu werden. Gerade weil unsere Partei kein Recht hat, die Arbeiterklasse zu betrügen, so müsste sie offen gestehen, dass der Mangel an Gewissheit (nicht eine Niederlage, sondern nur der Mangel an Gewissheit?! L. T.) in Bezug auf die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in unserem Lande zur Aufgabe der Macht führt, und zum Übergang unserer Partei von der Stellung einer führenden Partei zu der einer oppositionellen Partei."

Das alles ist vollständig falsch.

Nun, Genossen, was hat Lenin darüber gesagt?

(Der Vorsitzende. Genosse Kolarow. macht den Redner darauf aufmerksam, dass seine Redezeit abgelaufen ist.)

Man sagte mir, ich hätte eine Stunde Redezeit bekommen, genau so wie Genosse Sinowjew. Die Stunde des Genossen Sinowjew dauerte aber eine Stunde 35 Minuten. (Heiterkeit.) Ich hoffe also, dass man mir die gleiche Redezeit gibt.

Ich habe kaum die Hälfte dessen gesagt, was ich Ihnen sagen wollte. Selbstverständlich haben Sie vollkommen die Möglichkeit, mir jetzt das Wort wegzunehmen. Das hängt von Ihnen ab. Aber an die brennendsten Fragen komme ich erst jetzt heran.

Nun, Genossen, wir haben ja immer behauptet, unsere Revolution sei ein Bestandteil der proletarischen Weltrevolution, die sich auch langsamer entwickeln kann, deren Sieg aber sicher ist – und mit diesem auch der unsrige Sieg. Wir haben immer die patriotischen Opportunisten gebrandmarkt, die das Schicksal des Sozialismus nur in der isolierten Perspektive ihres Staates betrachteten, ganz gleich, ob sie mit der Idee der Revolution kokettieren, oder, wie die meisten von ihnen, diese Idee vollkommen aufgaben und offen den reformistischen Standpunkt einnahmen. Wir haben immer behauptet, dass das Proletariat eines einzelnen Landes nicht das Recht hat, auf das andere Land zu warten, wenn es nur die Möglichkeit hat, vorwärts zu schreiten, die Macht zu ergreifen, den sozialistischen Aufbau zu entfalten oder einen militärischen Druck auszuüben, oder genauer: Sowohl. das eine, wie das andere, denn nur so entwickelt sich eben die Weltrevolution. Dass unsere Partei als Führerin des Proletariats die Macht ergriff, dass wir am Sozialismus erfolgreich bauen, dass wir eben dadurch dem Weltproletariat ein großes Beispiel geben, dass wir unser Land wirtschaftlich und polltisch immer mehr auf sozialistischem Wege festigen, – das alles versteht sich von selbst – geht etwa darum der Streit?

Aber gerade, weil wir ein Bestandteil des Weltproletariats, der Weltrevolution sind, und durch unseren sozialistischen Aufbau ihre siegreiche Entwicklung fördern, gerade deshalb dürfen wir keine besondere Garantie dafür fordern, dass wir in unserem Lande den Sozialismus aufbauen werden unabhängig von der Weltrevolution. Hier aber stellt sich heraus, dass wir, wenn wir diese Garantie forderten (von wem?) und hätten sie nicht erhalten, dann abdanken, eine ministerielle Krise machen und in Opposition zum Sowjetstaat übergehen müssten? Ist das etwa nicht eine grundfalsche Fragestellung?

Stalin selber denkt wohl kaum so, wie er es in seinem Vortrag formuliert hat. Sonst hätte auch er längst abdanken müssen. Wie stand es noch bis vor kurzem? Genosse Sinowjew hat hier bereits ein Zitat von Stalin aus dem Jahre 1924 verlesen. Ich muss es jedoch wiederholen. Denn, wenn die Sache so steht, dass wir ohne eine Garantie im Voraus für die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem einzelnen Lande die Macht freiwillig aufgeben müssen, so frage ich: Wie stand es mit dem Genossen Stalin im Jahre 1924, nicht vor Christi Geburt, und nicht vor der imperialistischen Epoche, wo das Gesetz von der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung noch unbekannt gewesen sein soll, sondern erst vor zwei Jahren? Ich erinnere nochmals daran, dass Genosse Stalin damals folgendes schrieb:

Um die Bourgeoisie zu stürzen, genügen die Anstrengungen eines Landes. Das zeigt uns die Geschichte unserer Revolution. Zum endgültigen Sieg des Sozialismus, zur Organisierung der sozialistischen Produktion sind aber die Anstrengungen eines Landes, und namentlich eines Bauernlandes wie Russland, ungenügend. Dazu bedarf es der Anstrengungen der Proletarier einiger hochentwickelter Länder."

Ja, aber im Jahre 1924 haben wir doch die Macht nicht aufgegeben, sind nicht in Opposition zum Arbeiterstaate getreten! Überlegen Sie sich das einmal. Wenn die Tradition unserer Partei, wenn der Bolschewismus, wenn der Leninismus wirklich stets forderte den Glauben an die Möglichkeit des endgültigen Sieges des Sozialismus in einem einzigen und dazu noch in einem rückständigen Lande, ohne Weltrevolution – wenn jeder, der das nicht anerkennt, Sozialdemokrat gescholten wird, wie konnte es dann kommen, dass Genosse Stalin, der doch die Traditionen unserer Partei aus eigener Erfahrung kennen musste, im Jahre 1924 diese Zeilen niederschreiben konnte?! Bitte, erklären Sie mir das!

Und noch ein anderes Rätsel. Ich zeige Ihnen hier das Programm und die Statuten des Russischen Leninistischen Kommunistischen Jugendverbandes. Wenn man es fordert, werde ich dieses Büchlein auf den Tisch des Präsidiums niederlegen. Dieses Programm wurde im September 1921 von unserer Partei als Leitfaden zur Erziehung unserer gesamten Jugendbewegung beschlossen. Im vierten Paragraph des Programms der Arbeiterjugendbewegung heißt es (ich bitte um Aufmerksamkeit, insbesondere die Genossen von der Kommunistischen Jugendinternationale, denn unser russischer Jugendverband ist ja ein Bestandteil der Kommunistischen Jugendinternationale): „In der Sowjetunion befindet sich die Staatsmacht bereits in den Händen der Arbeiterklasse. In dreijährigem heldenhaften Kampf gegen den Weltkapitalismus hat die Arbeiterklasse ihre Sowjetmacht behauptet und befestigt. Obwohl Russland enorme natürliche Reichtümer besitzt, ist es dennoch ein industriell rückständiges Land, in dem eine kleinbürgerliche Bevölkerung vorherrscht. Das Land kann zum Sozialismus nur durch eine proletarische Weltrevolution kommen. In die Epoche dieser Entwicklung sind wir bereits eingetreten."

Was Ist das? Etwa Pessimismus? Kleinmut? Vielleicht sogar Trotzkismus? Das bin ich jetzt nicht imstande zu beurteilen. Aber das steht im Programm unserer Jugendorganisation, die über zwei Millionen junge Arbeiter und Bauern umfasst und wenn man zur Verteidigung der neuen Theorie vom Sozialismus in einem einzelnen Lande sagt: ja, man muss doch unserer Jugend eine Perspektive geben – das ist ein beliebtes Argument des Genossen Stalin –, sonst kann sie in Pessimismus, Kleinglauben, oder – der Himmlische bewahre uns davor, besonders in dieser späten Stunde! – in Trotzkismus verfallen, so frage ich: warum ist dieses Unglück nicht über unser Haupt gekommen, wenn die Jugend bereits seit fünf Jahren so ein trotzkistisches Programm hat! …

(Der Vorsitzende, Genosse Kolarow, macht Genossen Trotzki durch ein Klingelzeichen darauf aufmerksam, dass seine Redezeit abgelaufen ist.)

Man unterbricht mich immer an den interessantesten Stellen. Ich ersuche das Präsidium und das Plenum, mir noch die erwähnten 35 Minuten zu gewähren.

Vorsitzender Genosse Kolarow: Ihre Zeit ist abgelaufen.

Genosse Trotzki: Ich bedaure das außerordentlich, aber kann natürlich nichts anderes tun, als die Resolution, die Sie verfassen wollen, über mich ergehen lassen. Die wichtigen Argumente jedoch, die ich vorbringen wollte, werden auch unausgesprochen doch ihre objektive Gültigkeit behalten.

Denn das ist nicht die letzte Tagung unserer Internationale. Und obwohl die Resolution hier einstimmig angenommen werden wird – dessen sind wir ganz sicher –, insbesondere nach der heutigen Rede des Genossen Smeral, der uns sachkundig der sozialdemokratischen Abweichung anklagte –, die Tatsachen bleiben dennoch bestehen. Die Tatsachen werden ihre Stärke offenbaren, und die Stärke der Tatsachen wird unseren Argumenten neue Kraft geben. Diese Frage wird noch auf den Tagungen unserer Internationale auftauchen, und ich bin fest überzeugt, dass, wenn nicht ich, so doch ein anderer, vor der Kommunistischen Internationale die Argumente vorbringen wird, die Sie mir heute untersagten auseinanderzusetzen und die trotz alledem für diese überaus wichtige Frage ihre Gültigkeit behalten.

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