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Leo Trotzki 19260503 Über Pazifismus und Revolution

Leo Trotzki: Über Pazifismus und Revolution

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 6. Jahrgang Nr. 77 (26. Mai 1926), S. 1228-1231]

[Nachstehender Artikel ist ein Teil eines größeren Aufsatzes, den Genosse Trotzki als Antwort auf die Kritik des britischen Pazifisten Bertrand Russell über das Buch „Wohin treibt England?" geschrieben hat. Der Artikel wurde am 3. Mai, also unmittelbar vor dem Ausbruch des Generalstreiks geschrieben.]

Die Eigentümlichkeiten in der Entwicklung Großbritanniens werden hauptsächlich durch seine Insellage bestimmt. Die Rolle der britischen Flotte für das Schicksal des Landes bringt diese Eigentümlichkeit am klarsten zum Ausdruck. Indessen lassen die britischen Sozialisten, die uns des Unverständnisses für die verborgenen oder undefinierbaren Eigentümlichkeiten des britischen Geistes beschuldigen, bei der Erörterung der Frage der proletarischen Revolution eine so gut definierbare Größe wie die britische Flotte außer Acht. Russell, der so ironisch über die Unterstützung durch die Sowjetflotte spricht, sagt kein Wort über jene Flotte, die auch unter der Regierung MacDonald durch leichte Kreuzer vergrößert wurde.

Es handelt sich um die Eroberung der Macht in einem Lande, wo das Proletariat die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung darstellt. Die politische Voraussetzung des Erfolges muss der Wille des Proletariats selbst sein, die Macht um jeden Preis, also auch um den Preis großer Opfer, zu erobern. Die Arbeitermassen kann in diesem ihrem Bestreben mir eine Partei der Arbeiter vereinigen.

Die zweite Voraussetzung des Erfolges ist das klare Verständnis für die Wege und Methoden des Kampfes. Nur eine Partei, deren Auge vom pazifistischen Star befreit wird, kann selbst sehen und dem Proletariat klarmachen, dass ein wirklicher Übergang der Macht aus den Händen der einen Klasse in die der anderen in unvergleichlich größerem Maße von der britischen Armee und Flotte als vom Parlament abhängt. Der Kampf des Proletariats um die Macht muss daher ein Kampf um die Flotte sein.

Es Ist notwendig, dass die Seeleute – natürlich nicht die Admirale. sondern die Heizer, Elektrotechniker, Matrosen und andere Arbeiter, die Aufgaben und Ziele der Arbeiterklasse kennen und verstehen lernen. Man muss alle Schwierigkeiten überwinden, um den Weg zu ihnen zu finden. Nur durch eine systematische, zähe Vorbereitungsarbeit kann eine Lage geschaffen werden, in der die Bourgeoisie sich in ihrem Kampfe nicht mehr auf die Flotte wird stützen können. Ohne die Erfüllung dieser Bedingung ist es aber ein Unsinn, vom Siege auch nur zu sprechen.

Man kann sich natürlich die Sache nicht so vorstellen, dass die Flotte und die Armee schon in der ersten Periode der Revolution in geschlossenen Kampfreihen auf die Seite des Proletariats übergehen werden. Ohne tiefe innere Erschütterungen innerhalb der Flotte wird die Sache nicht gehen. Das beweist die Geschichte aller Revolutionen. Erschütterungen in der Flotte im Zusammenhange mit einer gründlichen Auffrischung des Kommandostabes bedeuten eine unvermeidliche allgemeine Schwächung der Flotte auf eine verhältnismäßig längere Periode. Das darf wiederum nicht außer Acht gelassen werden. Aber die Periode der Krise und der inneren Schwächung der Flotte wird um so schwerer überwunden, je entschlossener die führende Partei des Proletariats arbeiten wird. Je mehr Verbindung sie schon in der Vorbereitungsperiode mit der Flotte haben wird, um so mutiger wird sie in der Periode des Kampfes handeln, um so klarer wird sie allen Unterdrückten zeigen, dass sie fähig ist, die Macht zu erobern und zu behaupten.

Der Pazifismus kann der Kriegsmaschine der herrschenden Klasse nur sehr geringen Schaden zufügen. Das beweist am besten der mutige, aber ziemlich fruchtlose Versuch von Russell selbst während des Krieges. Die Sache wurde damit abgetan, dass einige Tausend junge Leute, die sich auf ihr „Gewissen" beriefen, ins Gefängnis geworfen wurden.

In der alten zaristischen Armee wurden die Sektierer und besonders die Tolstojaner oft Verfolgungen ausgesetzt, weil sie passiv gegen den Militarismus auftraten, aber nicht sie haben die Aufgabe des Sturzes des Zarismus gelöst. Auch in Großbritannien haben die Pazifisten nicht verhindert und nicht verhindern können, dass der Krieg zu Ende geführt werde. Der Pazifismus kehrt sein Gesicht nicht so sehr der militärischen Organisation des bürgerlichen Staates als eher den Arbeitermassen zu. Hier ist sein Einfluss wirklich verderblich, er lähmt den Willen jener Arbeiter, die auch ohnehin nicht an Überfluss daran leiden. Er predigt die Schädlichkeit der Rüstung jenen Leuten, die auch ohnehin unbewaffnet und Opfer der Klassengewalt sind. Unter den heutigen Verhältnissen des britischen Lebens, da die Machtfrage auf die Tagesordnung gerät, ist der Pazifismus Russells durch und durch reaktionär.

Unlängst hat Lansbury. wie die Zeitungen mitteilen, die britischen Soldaten aufgefordert, nicht auf die Streikenden zu schießen. Tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen, die der Versammlung beiwohnten, erhoben Ihre Hände als Zeichen der Solidarität mit dieser Aufforderung, die mit der Politik MacDonalds allerdings schwer vereinbar ist, dafür aber einen Schritt vorwärts auf dem Wege der Revolution bedeutet.

Es wäre sehr naiv zu denken, dass die Aufforderung Lansburys den Weg einer friedlichen blutlosen pazifistischen Lösung der Machtfrage eröffnete. Im Gegenteil. Wenn sich diese Aufforderung den Weg in die Wirklichkeit bahnt, dann wird sie unvermeidlich zu sehr scharfen bewaffneten Zusammenstößen führen. Man darf doch nicht glauben, dass sich alle Soldaten, alle Seeleute gleichzeitig weigern werden, auf Arbeiter zu schießen. In Wirklichkeit verläuft die Sache so, dass die Revolution einen Keil in die Armee und in die Fronten treibt. Die Spaltung wird in jeder Kompanie, jeder Eskadron, jedem Kriegsschiff auswirken. Der eine Soldat hat sich schon fest dazu entschlossen, nicht zu schießen, koste es auch sein Leben: der andere schwankt, der dritte ist bereit, auch auf jene Soldaten zu schießen, die das Schießen verweigern. In der ersten Periode ist die Zahl der Schwankenden am größten.

Wie war es bei uns in den Jahren 1905 und 1917? Die Soldaten oder Matrosen, die ihre Solidarität mit den Arbeitern in der Tat zum Ausdruck gebracht haben, gerieten unter das Feuer der Offiziere. In der nächstfolgenden Etappe gerät der Offizier unter das Feuer der Soldaten, die vom heldenhaften Beispiel ihrer fortschrittlichen Kameraden mitgerissen werden. Diese Konflikte dehnen sich aus. Ein Regiment, in dem die revolutionären Elemente herrschen, steht einem Regiment gegenüber, in dem die Macht sich noch in den Händen der alten Kommandeure befindet. Und zur gleichen Zeit bewaffnen sich die Arbeiter, sich auf die revolutionären Regimenter stützend. Ähnlich verläuft die Sache in der Flotte. Wir würden Russell und seinen Gesinnungsgenossen raten, sich den Film Panzerkreuzer Potemkin" anzusehen, der die Mechanik der Revolution innerhalb einer bewaffneten Menschenmenge mit genügender Anschaulichkeit zeigt. Es wäre noch wichtiger, diesen Film den britischen Arbeitern und Matrosen zu zeigen. Wir hoffen, dass die Arbeiterpartei es tun wird, wenn sie zur Macht gelangt.

Die bürgerlichen Heuchler und die zivilisierten Menschenfresser werden natürlich mit der größten Entrüstung darüber sprechen, dass wir bestrebt sind, Bruder gegen Bruder. Soldaten gegen Offiziere zu führen und aufzuhetzen. Die Pazifisten werden ihnen das nachsagen, sie werden wieder daran erinnern, dass wir alles in blutigem Lichte sehen und dass wir die Eigentümlichkeiten Großbritanniens nicht kennen, dass wir den fruchtbaren Einfluss der christlichen Moral auf die Marineoffiziere, Polizisten und auf Joynson-Hicks unterschätzen. Das kam uns aber nicht zurückhalten. Die revolutionäre Politik fordert vor allem, den Tatsachen offen ins Auge zu schauen und die Richtung der weiteren Entwicklung vorauszusehen. Den Philistern erscheint die revolutionäre Politik nur deshalb phantastisch, weil diese das Übermorgen sieht, während jene nicht einmal an das Morgen zu denken wagen.

In einer Periode, da der nationale Organismus in seiner Gesamtheit nicht durch eine konservative Tyrannei, sondern nur durch einen chirurgischen Eingriff gerettet werden kann, der das lebensunfähige Organ: die sich überlebende Klasse entfernt, entspringen die pazifistischen Predigten ihrem Wesen nach einer eitlen Gleichgültigkeit. Die größte „Barmherzigkeit" erfordert in einer solchen Lage größte Entschlusskraft, um die Fristen abzukürzen und die Leiden zu verringern.

Die amerikanische Bourgeoisie wird um so weniger Neigung haben, sich in den Kampf einzumischen, je energischer das britische Proletariat seine Hände auf die Mittel und Instrumente der britischen Bourgeoisie legt. Die amerikanische Flotte wird um so weniger Möglichkeit haben, eine proletarische Macht in Großbritannien zu stürzen, je rascher und vollständiger sich diese proletarische Macht die britische Flotte unterordnet.

Damit wollen wir keineswegs sagen, dass eine militärische Intervention der transatlantischen Republik ausgeschlossen ist Im Gegenteil, es ist sehr wahrscheinlich, und innerhalb gewisser Grenzen sogar unvermeidlich. Das Ergebnis dieses Eingriffes hängt aber Im hohen Grade mit unserer eigenen Politik vor und während der Revolution zusammen.

Für eine allseitige Blockade der britischen Inseln und vor allem für deren Isolierung vom europäischen Kontinent wird das Verhalten der französischen Kriegsmarine eine nicht geringe Bedeutung haben. Kann die französische Bourgeoisie ihre Schiffe gegen die proletarische Revolution in Großbritannien schicken?

Diesbezüglich haben wir bereits eine gewisse Erfahrung. In Jahre 1918 sandte Millerand französische Kriegsschiffe nach dem Schwarzen Meer gegen die Häfen der Sowjetrepublik. Die Resultate sind bekannt: der Kreuzer „Waldeck-Rousseau" erhob das Banner der Empörung. Bei den Briten ist im russischen Norden gleichfalls nicht alles glatt verlaufen: die Revolution ist sehr ansteckend und die Matrosen sind mehr als andere für revolutionäre Ansteckung empfänglich.

Damals, als die französischen Seeleute Marty und Badina Aufstand machten und sich weigerten, gegen die proletarische Revolution in Russland zu kämpfen, stand Frankreich auf der Höhe seiner Macht. Und jetzt hat auch für Frankreich die Epoche der Entgeltung für den Krieg nicht in geringerem Umfange als in England eingesetzt. Wenn jemand der Ansicht ist, dass die französische Bourgeoisie, nachdem in England die Monarchie, die Gutsbesitzer, Bankiers und Fabrikanten über Bord geworfen werden, die Möglichkeit haben werde, die Rolle des Gendarmen im Atlantischen Ozean oder wenn auch nur im La Manche Kanal zu spielen – der ist ungeheuerlich optimistisch gegenüber der Bourgeoisie und schändlich pessimistisch gegenüber dem Proletariat. Großbritannien, d. h. seine Bourgeoisie, war nicht umsonst der Beherrscher des Meeres, und die britische Revolution wird auf allen Meeren große Kreise ziehen. Das erste Ergebnis wird eine Erschütterung der Disziplin in allen Kriegsflotten sein. Wer weiß, ob nicht unter diesen Verhältnissen das amerikanische Marinekommando auf den Gedanken eines Krieges, einer scharfen Blockade wird verzichten und seine Schiffe soweit als möglich von der europäischen Ansteckung zurückziehen müssen.

Endlich ist die Flotte auch in Amerika selbst nicht die letzte Instanz. Das kapitalistische Regime in den Vereinigten Staaten ist mächtiger als je. Wir kennen nicht schlechter als Russell den konterrevolutionären Charakter der amerikanischen Arbeitsföderation, woran er uns erinnert. Ebenso wie die Bourgeoisie der Vereinigten Staaten die Macht des Kapitals zu einer noch nie dagewesenen Höhe erhob, ist auch die amerikanische Arbeitsföderation an der letzten Grenze der opportunistischen Methoden angelangt. Das bedeutet aber keinesfalls, dass die amerikanische Bourgeoisie allmächtig ist.

Sie ist unvergleichlich stärker gegen die europäische Bourgeoisie als gegen das europäische Proletariat. Unter dem Dache der amerikanischen Arbeiteraristokratie, dieser privilegiertesten Arbeiteraristokratie der Welt, schlummern und gären die revolutionären Instinkte und Stimmungen der den verschiedensten Rassen angehörenden Arbeitermassen Nordamerikas. Eine Revolution im anglosächsischen Lande jenseits des Ozeans wird auf das Proletariat der Vereinigten Staaten mehr als irgendeine andere Revolution wirken.

Das bedeutet nicht, dass die Herrschaft der amerikanischen Bourgeoisie am nächsten Tage nach der Eroberung der Macht durch das britische Proletariat gestürzt wird. Dem Sturz der Herrschaft des Dollars wird noch eine Reihe ernster wirtschaftlicher und militärischer Erschütterungen vorangehen müssen. Und die amerikanische Bourgeoisie selbst bereitet diese Erschütterung vor, indem sie in der ganzen Welt Kapital anlegt und ihre Macht dadurch mit dem europäischen Chaos, mit den Pulverfässern im Osten verbindet.

Die Revolution in England wird unvermeidlich einen mächtigen Widerhall jenseits des „großen Teiches", sowohl auf der New-Yorker Börse als auch in den Wohnungen von Chicago finden. Im Selbstgefühl der Bourgeoisie und des Proletariats der Vereinigten Staaten wird sofort ein Wandel vor sich gehen: die Bourgeoisie wird sich schwächer, die Arbeiterschaft stärker fühlen. Das Selbstgefühl der Klassen aber ist ein äußerst wichtiger Bestandteil der sogenannten Kräfteverhältnisse. Das bedeutet wiederum nicht, dass die amerikanischen Bankiers und Trustherren mit Hilfe Ihrer Flotte nicht Versuche werden machen können, die Revolution des amerikanischen Proletariats wirtschaftlich zu erwürgen. Aber solche Versuche bedeuten an sich schon eine weitere Erschütterung des inneren Regimes der Vereinigten Staaten. Schließlich werden sich im Innern jedes amerikanischen Schiffes und in seinem Maschinenraum nicht nur die revolutionären Ereignisse Großbritanniens, sondern auch die durch sie hervorgerufenen neuen Stimmungen innerhalb des Proletariats der Vereinigten Staaten widerspiegeln. All dies zusammen bedeutet noch nicht, dass die proletarische Revolution nicht mit Schwierigkeiten und Gefahren verbunden ist – im Gegenteil: beide sind ungeheuer groß. Aber – auf beiden Seiten. Darin besteht eigentlich auch das Wesen der Revolution. Je wichtiger die Stellung ist, die eine Nation in der Welt einnimmt, umso großzügiger werden jene Kräfte und Gegenkräfte wirken, die die Revolution erweckt und zur Entfaltung bringt. Und unsere „Sympathien" können unter diesen Verhältnissen auch manchen Vorteil bringen.

Revolutionen werden nicht derart gemacht, dass man zwischen verschiedenen Möglichkeiten die vorteilhaftesten auswählt. Wenn man die revolutionäre Marschroute rationalistisch vorschreiben könnte, dann könnte man wahrscheinlich auch überhaupt die Revolution vermeiden. Die Revolution ist doch gerade die Ausdrucksform der Tatsache, dass man die Klassengesellschaft nicht durch rationelle Methoden umgestalten kann. Die logischen Argumente, wenn sie auch von Russell auf die Stufe mathematischer Formeln erhoben wurden, sind machtlos gegenüber den materiellen Interessen. Die herrschenden Klassen werden lieber die ganze Zivilisation mit ihrer Mathematik zusammen untergehen lassen, als auf ihre Privilegien verzichten. Im Kampfe zwischen den Bergarbeitern und den Kohlenmagnaten Großbritanniens ist bereits die herannahende Revolution im Keimzustande vollkommen entfaltet. Die irrationellen Faktoren der menschlichen Geschichte wirken in der gröbsten Form durch die Klassengegensätze. Über diese irrationellen Faktoren kann man nicht hinweg springen Wie die Mathematik, die auch mit irrationalen Großen operiert, zu ganz rationellen Schlussfolgerungen gelangt, so kann man auch die Politik rationalisieren, d.h. die Gesellschaftsordnung in ein vernünftiges System bringen, aber nur, wenn sie die irrationellen Widersprüche der Gesellschaft voll anerkennt, um sie endgültig zu überwinden. Diese Überwindung ist nicht durch die Umgehung der Revolution, sondern nur mit deren Hilfe möglich.

Eigentlich könnten wir damit schließen. Die Einwände Russells haben es mir ermöglicht, nachträglich jene Seiten der Präge zu erörtern, die meine Broschüre („Wohin treibt England? Die Red.) übergangen hat. Es wird aber vielleicht nicht überflüssig sein, uns noch mit dem letzten und stärksten Argument unseres pazifistischen Kritikers zu beschäftigen Russell erklärt, dass unser Verhältnis zur britischen Revolution durch unseren russischen Patriotismus diktiert wird. Er sagt:

Ich bin entsetzt über den Gedanken, dass Trotzki, wie wir alle, ein Patriot ist. Die kommunistische Revolution in England wäre für Russland vorteilhaft; deshalb Ist er dafür ohne unparteiisch die Frage zu erwägen, ob sie für uns vorteilhaft sein würde."

Dieses Argument hat alle Vorzüge, nur ist es nicht neu Die Presse Chamberlains und Hicks' wiederholt das täglich Die „Morning Post" hat schon längst bewiesen, dass die internationale kommunistische Revolution den Zwecken des Sowjetimperialismus dient, der seinerseits die Traditionen der zaristischen Politik fortsetzt. Solche Beschuldigungen begann man uns seit jener Zeit anzuhängen, da sich die Bourgeoisie davon überzeugt hat, dass unsere Partei die Macht ernstlich erobert hat und nicht geneigt ist, sie an irgendjemand abzutreten. In der Periode vor und unmittelbar nach der Machteroberung wurden wir gerade des Gegenteils beschuldigt. Man hat die Bolschewiki beschuldigt, dass ihnen jedes nationale Empfinden und jede patriotische Erregung fremd sei, und dass ihre Führer Russland eine Hohenzollernpolitik aufzwingen. Und das war noch nicht so lange her. Arthur Henderson, Emil Vandervelde, Albert Thomas u. a. kamen nach Russland, um die Arbeiter davon zu überzeugen, dass die Bolschewiki bereit sind, die wichtigsten Interessen Russlands ihrer internationalen Chimären willen (oder nach anderen Versionen um das Gold des deutschen Kaisers) zu verraten. Auch diese Beschuldigung wurde am klarsten in der gleichen „Morning Post" entwickelt. Ebenso wie Russell uns dessen beschuldigt, dass wir bereit seien, die Bevölkerung Großbritanniens zugunsten des Sowjetimperialismus auf 20 Millionen zu reduzieren, hat man uns vor neun Jahren beschuldigt, wir seien in unserer Skrupellosigkeit bereit, Russlands Bevölkerung im Interesse seiner antinationalen Ziele auf die Hälfte oder auf ein Drittel zu verringern. Unsere Partei stand bekanntlich auf dem Standpunkte, dass die Niederlage des zaristischen Russland im Kriege sowohl für die russische als auch für die internationale Arbeiterklasse vorteilhaft sein würde. Die sozialistischen Lakaien der Entente konnten uns von diesem Standpunkte nicht abbringen. In der Epoche des Brest-Litowsker Friedens erreichten die Beschuldigungen einer anti-nationalen Politik (nach anderen Versionen einer Zusammenarbeit mit den Hohenzollern) ihren Höhepunkt. Dennoch ließ sich unsere Partei nicht in einen kapitalistischen Krieg hineinziehen. Das Hohenzollernregime ist gefallen, und bei seinem Sturze spielte die Oktoberrevolution eine nicht geringere Rolle als die Waffen der Entente.

Der Antagonismus der Sowjetrepubliken mit den Regierungen der siegreichen Entente rückte in den Vordergrund, und die reaktionärste Rolle spielen die herrschenden Schichten Großbritanniens in der ganzen Welt: in Europa, in Ägypten, in der Türkei, in Persien, in Indien, in China. Jede Änderung in der Weltlage, in Wirtschaft und Politik ist gegen das herrschende Großbritannien gerichtet. Deshalb führt die sich überhebende britische Bourgeoisie um ihre aus den Händen gleitende Macht einen wütenden Kampf gegen jede Änderung,

Die amerikanische Bourgeoisie ist mächtig. Ihr Kampf gegen die Revolution wird großzügiger sein. Amerika steht aber vorläufig noch in der zweiten Linie. Der aktivste, schlimmste Feind der revolutionären Bewegung in Europa, Asien und Afrika ist die herrschende Klasse Großbritanniens. Man würde glauben, dass für einen Sozialisten diese Tatsache mehr als genügend ist, um den Antagonismus zwischen der Sowjetunion und dem britischen Imperialismus zu erklären, „Sind wir Patrioten?" Wir sind es in dem gleichen Maße, wie wir während des imperialistischen Krieges „Antipatrioten“ waren. Durch die Methoden der Staatsmacht verteidigen wir, die gleichen Interessen, für die wir mit den Methoden des Aufstandes kämpften: die Interessen des Weltproletariats.

Wenn Russell sagt, dass wir im Interesse des Sowjetstaates bereit sind, die Interessen der britischen Arbeiterklasse zum Opfer zu bringen, so ist das nicht nur falsch, sondern es ist ein Unsinn. Jede Schwächung des britischen Proletariats, um so mehr seine Niederlage im offenen Kampfe, ist unvermeidlich ein schwerer Schlag gegen die außenpolitische und innere Lage der Sowjetunion. Als die deutschen Kommunisten Im März 1921 auf dem Dritten Kongresse der Komintern den Versuch machten, die proletarische Revolution In Deutschland zu forcieren, beriefen sie sich als Rechtfertigung auf die schwere Lage der Sowjetrepubliken und auf die Notwendigkeit, ihr zu helfen. Mit Lenin zusammen sagten wir ihnen: nicht heroisches Aufbrausen, umso weniger revolutionäre Abenteuer können der Sowjetrepublik helfen. Wir brauchen das gleiche, was das deutsche Proletariat braucht: eine siegreiche Revolution.

Es wäre grundfalsch, zu glauben, dass das Proletariat irgendeines Landes im Interesse des Sowjetstaates irgendwelche Schritte unternehmen müsste, die nicht seinen eigenen Interessen als Klasse entspringen, die für ihre volle Befreiung kämpft. Dieser Standpunkt, der uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, ist jenen Sozialisten fremd, die wenn auch nicht immer, doch wenigstens in der entscheidenden Minute an der Seite ihrer Bourgeoisie stehen. Auch Russell ist keine Ausnahme. Allerdings hat er während des Krieges seiner Regierung einen ziemlich mutigen, dennoch politisch ziemlich unwirksamen Widerstand entgegengesetzt. Das war eine individuelle Demonstration, ein Gewissensakt – aber das Schicksal des Regimes stand hier nicht im Geringsten auf dem Spiel. Wenn es sich aber um die Revolution des Proletariats handelt, findet Russell in seinem geistigen Arsenal keine anderen Argumente, als die ..Morning Post", und alle Churchills seines Landes.

Die größten Eigentümlichkeiten der britischen Politik – das ist das Ergebnis der vergangenen Geschichte des Landes – bestehen in dem schreienden Widerspruch zwischen dem revolutionären Reifegrad der objektiven ökonomischen Faktoren und der äußerst starken Rückständigkeit der ideologischen Formen besonders in den Reihen der Arbeitermassen. Am wenigsten begreifen diese Eigentümlichkeiten gerade jene Leute, die sie am klarsten verkörpern: die bürgerlichen Humanisten, verspäteten Aufklärer und die Pazifisten. Neben den reaktionären kleinbürgerlichen Reformisten halten sie sich für die berufenen Führer des Proletariats. Bertrand Russell ist nicht der schlimmste unter ihnen. Aber seine Schriften über gesellschaftliche und politische Themata, sein Aufruf gegen den Krieg, seine Polemik mit Scott Nearing über das Sowjetregime charakterisieren unfehlbar seinen oberflächlichen Dilettantismus, seine politische Blindheit, sein vollständiges Unverständnis gegenüber der historischen Entwicklung, d. h. dem Kampfe der lebendigen Klassen, die auf der Grundlage der Produktion entstanden sind. Er setzt der Geschichte die Propaganda einiger pazifistischer Losungen entgegen, die er selbst überaus schlecht formuliert. Dabei vergisst er, uns zu erklären, warum die pazifistische Aufklärungsarbeit uns vor Kriegen und Revolutionen nicht retten konnte, obwohl sich mit dieser Arbeit so hervorragende Leute beschäftigt haben, wie Robert Owen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die französischen Aufklärer im 18. Jahrhundert, die Quäker seit dem 17. Jahrhundert und viele andere. Russell ist ein verspäteter Aufklärer, der vom alten Aufklärertum nicht dessen Begeisterung, sondern dessen politische Vorurteile geerbt hat.

Russell ist durch und durch Skeptiker. Den Methoden der revolutionären Gewaltanwendung setzt er scheinbar die friedlichen und evolutionären Methoden der Wissenschaft und Technik entgegen. Er glaubt aber ebensowenig an die rettende Kraft des wissenschaftlichen Gedankens wie an die Kraft der revolutionären Aktion. In seiner Polemik gegen Nearing versucht er unter dem Deckmantel scheinsozialistischer Phrasen die revolutionäre Initiative des russischen Proletariats herabzusetzen, zu kompromittieren. In einer anderen Schrift spottet er über den wissenschaftlich-technischen Optimismus. Im Buche „Icar" gibt er seiner Überzeugung offen Ausdruck, dass der beste Ausweg der Untergang unserer ganzen Zivilisation wäre. Und dieser Mensch, der durch und durch von einer egoistischen, in sich verschlossenen aristokratischen Skepsis durchsetzt ist, hält sich für berufen, dem englischen Proletariat Ratschläge zu erteilen und es vor unseren kommunistischen „Intrigen" zu warnen. Die britische Arbeiterklasse steht vor einer Epoche, in der sie des stärksten Glaubens an ihre Mission und an ihre Kräfte bedarf. Hierzu sind keine künstlichen Stimulationen in der Art der Religion oder der idealistischen Moral notwendig. Notwendig ist. und das genügt, wenn das britische Proletariat die Lage seines Landes im Zusammenhange mit der gesamten Weltsituation begreift, sich über die Fäulnis der herrschenden Klasse klar wird und die karrieristischen Scharlatane und jene bürgerlichen Skeptiker, die sich einbilden. Sozialisten zu sein, nur weil es ihnen in der Atmosphäre der Fäulnis der bürgerlichen Gesellschaft von Zeit zu Zeit übel wird, aus dem Wege räumt.

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