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Leo Trotzki 19260506 Vorwort zur zweiten deutschen Ausgabe von „Wohin treibt England?“

Leo Trotzki: Vorwort zur zweiten deutschen Ausgabe von „Wohin treibt England?

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 6. Jahrgang Nr. 78 (28. Mai 1926), S. 1251 f.]

Es ist über ein Jahr verstrichen, seit dies Buch geschrieben wurde. Das konservative Ministerium durchlebte seine Flitterwochen. Baldwin predigte den sozialen Frieden. Da MacDonald nicht imstande war, dem Konservatismus irgend etwas gegenüberzustellen, wetteiferte er mit Ihm im Hass gegen die Revolution, den Bürgerkrieg und den Klassenkampf. Die Führer aller drei Parteien proklamierten, dass die Institutionen Englands völlig genügten, um die friedliche Zusammenarbeit der Klassen zu sichern. Natürlich wurde die Prognose des folgenden Tages, die in dieser Schrift dem britischen Imperium gestellt wurde, von der gesamten britischen Presse – von der „Morning Post" bis zur Wochenschrift Lansburys – als hoffnungsloser Unsinn und Moskauer Phantasmagorie ausgegeben.

Jetzt sieht die Lage etwas anders aus. England wird vom größten Massenstreik erschüttert. Die konservative Regierung treibt die Politik eines wütenden Angriffs. Von oben wird alles getan, um den offenen Bürgerkrieg zu provozieren. Der Widerspruch zwischen den sozialen Machtfaktoren und der Lüge des überlebten Parlamentarismus offenbarte sich in England wie noch nie.

Der Massenstreik erwuchs aus dem Widerspruch zwischen der jetzigen Lage der britischen Wirtschaft auf dem Weltmarkte und den traditionellen Produktions- und Klassenverhältnissen im Innern des Landes. Formell hieß die Frage: Verminderung der Löhne der Bergarbeiter, Verlängerung ihres Arbeitstages, Aufbürdung eines Teiles der Opfer, die für eine wirkliche Reorganisation der Kohlenindustrie notwendig sind, zu Lasten der Arbeiter. So formuliert Ist diese Frage unlösbar. Es ist vollkommen richtig, dass ohne Opfer, und zwar ohne ernste Opfer seitens des englischen Proletariats die Kohlenindustrie wie überhaupt die ganze britische Wirtschaft nicht reorganisiert werden kann. Aber nur ein bedauernswerter Narr kann glauben, dass das englische Proletariat damit einverstanden ist, sich dieser Opfer auf den alten Grundlagen des kapitalistischen Eigentums zu unterziehen.

Der Kapitalismus wurde ausgegeben als ein Regime des dauernden Fortschritts und der systematischen Verbesserung des Schicksals der arbeitenden Massen. Er war es wenigstens auch bis zu einem gewissen Grade für manche Länder im Laufe des 19. Jahrhunderts. In England war die Religion des kapitalistischen Fortschritts stärker als irgend anderswo. Eben sie bildete die Grundlage der konservativen Tendenzen in der Arbeiterbewegung selbst, besonders in den Trade Unions. Die Kriegsillusionen waren in England (1914-1918) mehr als in anderen Ländern Illusionen der kapitalistischen Macht und des „sozialen" Fortschritts. Im Siege über Deutschland sollten diese Hoffnungen ihre letzte Krönung finden. Und jetzt sagt die bürgerliche Gesellschaft den Bergarbeitern: „Wenn ihr euch wenigstens eine solche Existenz sichern wollt, wie ihr sie bis zum Kriege gehabt habt, müsst ihr euch unbestimmte Zeit lang mit der Verschlechterung aller eurer Lebensbedingungen abfinden." Statt der kürzlich noch verkündeten Perspektive des stetigen sozialen Fortschritts wird den Bergarbeitern der Vorschlag gemacht, heute eine Stufe niedriger zu steigen, um nicht gezwungen zu sein, morgen mit einem Schlage drei oder noch mehr Stufen herunterzufallen. Das ist: die Bankrotterklärung des britischen Kapitalismus. Der Generalstreik ist die Antwort des Proletariats, das nicht zulassen will und kann, dass der Bankrott des britischen Kapitalismus den Anfang des Bankrotts der britischen Nation und britischen Kultur bedeutet.

Diese Antwort wird jedoch viel mehr von der Logik der Lage als von der Logik des Bewusstseins diktiert Der englischen Arbeiterklasse blieb keine andere Wahl. Der Kampf – gleichgültig wie die Mechanik hinter den Kulissen auch gewesen sein mag – wurde durch den mechanischen Druck der ganzen Lage aufgezwungen. Die Weltlage der britischen Wirtschaft bat keine materielle Basis für einen Kompromiss geduldet. Die Thomas, MacDonald u. a. sind in die Lage von Windmühlen geraten, die bei starkem Winde die Flügel bewegen, ohne aber ein Pfund Mehl zu liefern, da das Korn fehlt. Die hoffnungslose Leere des jetzigen britischen Reformismus offenbarte sich mit einer solchen überzeugenden Kraft, dass den Reformisten nichts übrig blieb, als am Massenstreik des britischen Proletariats teilzunehmen. Darin offenbarte sich die Stärke des Streiks. Aber auch seine Schwäche.

Der Generalstreik ist die schärfste Form des Klassenkampfes. Nach ihm kommt bereits der bewaffnete Aufstand. Eben deshalb verlangt der Generalstreik mehr als irgendeine andere Form des Klassenkampfes eine klare, entschlossene, feste, d. h. revolutionäre Leitung. Das britische Proletariat aber zeigt im jetzigen Streik keine Spur einer solchen Leitung, und man kann nicht erwarten, dass sie mit einem Male erscheint, in fertiger Form, wie aus der Erde gestampft. Der Generalrat der Gewerkschaften begann mit der lächerlichen Erklärung, dass der jetzige Generalstreik keinen politischen Kampf darstelle, nun aber schon gar nicht einen Angriff auf die Staatsgewalt der Bankiers, der Fabrik- und Gutsbesitzer und auf das heilige britische Parlament bedeute. Diese Kriegserklärung der treuen Untertanen erscheint aber der Regierung keineswegs überzeugend, die fühlt, wie ihr unter der Wirkung des Streiks die realen Machtinstrumente entgleiten. Die Staatsgewalt ist keine „Idee", sondern ein materieller Apparat. Wird der Apparat der Verwaltung und der Unterdrückung paralysiert, so wird auch die Staatsgewalt paralysiert. In der modernen Gesellschaft kann man nicht herrschen, ohne Eisenbahnen, Schiffsverkehr, Post und Telegraph, elektrische Stationen, Kohle usw. in der Hand zu haben. Der Umstand. dass MacDonald und Thomas irgendwelche politischen Ziele abschwören, charakterisiert sie selbst, keineswegs aber die Natur des allgemeinen Streiks, der, wenn er bis ans Ende durchgeführt wird, die revolutionäre Klasse vor die Aufgabe der Organisation einer neuen Staatsgewalt stellt. Hiergegen jedoch kämpfen mit allen Kräften eben die, die durch den Gang der Ereignisse „an die Spitze" des allgemeinen Streiks gestellt sind. Und darin besteht die Hauptgefahr. Menschen, die den Generalstreik nicht wollten, die den politischen Charakter des Generalstreiks verneinen, die nichts so sehr fürchten als die Folgen eines siegreichen Streikes, müssen unweigerlich alle ihre Bemühungen darauf richten, den Streik im Rahmen eines halb politischen Halbstreikes zu halten, d. h. ihn zu entkräften. Man muss den Tatsachen ins Auge sehen: Die Hauptbemühungen der offiziellen Führer der Arbeiter-Partei und einer bedeutenden Anzahl der offiziellen Gewerkschaftsführer werden nicht darauf gerichtet sein, mit Hilfe des Streiks den bürgerliches: Staat, sondern mit Hilfe des bürgerlichen Staates den Generalstreik zu paralysieren. Die Regierung in der Person ihrer hartnäckigsten Konservativen, will zweifellos einen Bürgerkrieg im kleinen Maßstabe provozieren, um die Möglichkeit zu besitzen, Schreckensmaßnahmen vor der Entwicklung des Kampfes zu ergreifen und die Bewegung zurückzuwerfen. Indem die Reformisten den Streik des politischen Programms berauben, den revolutionären Willen des Proletariats zersetzen, die Bewegung in eine Sackgasse treiben, stoßen sie auf diese Weise die einzelnen Arbeitergruppen auf den Weg vereinzelter Aufstände. In diesem Sinne begegnen sich die Reformisten mit den faschistischen Elementen der konservativen Partei. Hier Ist die Hauptgefahr des begonnenen Kampfes.

Es ist jetzt nicht angebracht, die Dauer des Kampfes, seine Entwicklung, geschweige denn seinen Ausgang zu prophezeien. Man muss im internationalen Maßstabe alles tun, um den Kämpfenden zu helfen und die Bedingungen ihres Erfolges zu erleichtern. Aber man muss sich klar darüber Rechenschaft ablegen, dass dieser Erfolg nur in dem Maße möglich ist, in dem die britische Arbeiterklasse im Prozess der Entwicklung und der Verschärfung des Generalstreiks in der Lage sein und es verstehen wird, ihre Führer zu erneuern. Ein amerikanisches Sprichwort sagt, dass man das Pferd nicht wechseln darf, wenn man einen reißenden Strom durchschwimmt. Aber diese praktische Weisheit ist nur in gewissen Grenzen richtig. Auf dem Pferde des Reformismus ist es noch nie gelungen, einen revolutionären Strom zu durchschwimmen. Und die Klasse, die unter der opportunistischen Leitung in den Kampf ging, ist gezwungen, sie im Feuer des Feindes zu wechseln. Damit wird die Stellung der wirklich revolutionären Elemente des britischen Proletariats, vor allem der Kommunisten, vorausbestimmt Sie werden mit allen Maßnahmen die Einheit der Massenaktion unterstützen, aber sie werden keinen Schein der Einheit mit den opportunistischen Führern der Arbeiterpartei und der Gewerkschaften zulassen. Der unversöhnliche Kampf gegen jeden verräterischen Akt oder Versuch und die erbarmungslose Entlarvung der reformistischen Illusionen werden der wichtigste Inhalt der Arbeit der wahrhaft revolutionären Teilnehmer des Generalstreiks sein. Damit dienen sie nicht nur der Haupt- und Daueraufgabe der Herausbildung der neuen revolutionären Kaders, ohne die der Sieg des britischen Proletariats überhaupt nicht möglich ist, sondern sie tragen unmittelbar zum Erfolg des jetzigen Streikes bei, indem sie ihn vertiefen, seine revolutionäre Tendenz offenbaren, die Opportunisten beiseite schieben und die Stellung der Revolutionäre stärken. Die Ergebnisse des Streikes – sowohl die unmittelbaren wie auch die mehr in der Ferne liegenden – werden um so bedeutender sein, je entschiedener der revolutionäre Wille der Massen die Barrieren und Hindernisse der konterrevolutionären Leitung niederreißen wird.

Der Streik an und für sich kann die Lage des britischen Kapitalismus und der Kohlenindustrie insbesondere auf dem Weltmarkt nicht ändern. Dazu ist eine Reorganisation der ganzen britischen Wirtschaft notwendig. Der Streik ist nur ein scharfer Ausdruck dieser Notwendigkeit. Das Programm der Reorganisation der britischen Wirtschaft ist ein Programm der neuen Macht, des neuen Staates, der neuen Klasse. Darin besteht auch die Grundbedeutung des Generalstreikes: Er stellt scharf die Machtfrage. Der wirkliche Sieg des allgemeinen Streiks kann seinen Ausdruck nur in der Eroberung der Macht durch das Proletariat und in der Errichtung seiner Diktatur finden. Unter den Bedingungen der hoffnungslosen Lage des britischen Kapitalismus kann der Generalstreik noch weniger als sonst das Instrument der Reformen oder der Teileroberungen sein. Genauer gesagt: Wenn die Grubenbesitzer oder die Regierung auf diese oder jene Zugeständnisse unter dem Druck des Streikes eingegangen wären, so hätten diese Zugeständnisse infolge der ganzen Lage weder eine tiefe noch dauernde Bedeutung gehabt. Das soll keineswegs heißen, dass der jetzige Streik vor der Alternative steht: Alles oder nichts. Hätte das britische Proletariat eine Leitung besessen, die einigermaßen seiner Klassenstärke und der Rolle der Bedingungen entsprochen hätte, so wäre die Gewalt in Laufe etlicher Wochen aus den Händen der Konservativen in die Hände des Proletariats übergegangen. Aber mit einen solchen Ausgang kann man schwerlich rechnen. Das heißt wiederum nicht, dass der Streik hoffnungslos ist. Je breiter er sich entfalten, je stärker er die Grundlagen des Kapitalismus erschüttern, je weiter er die verräterischen und opportunistischen Führer zurückwerfen wird, desto schwieriger wird für die bürgerliche Reaktion der Übergang zur Gegenoffensive sein, desto weniger werden die proletarischen Organisationen leiden, desto schneller wird die nächste entscheidende Etappe des Kampfes eintreten.

Die Lehren und Folgen des jetzigen Klassenzusammenstoßes werden gewaltig sein, sogar ganz unabhängig von seinem unmittelbaren Ergebnis. Jedem Proletarier Englands wird es klar werden, dass das Parlament die Grund- und Lebensaufgaben des Landes nicht zu lösen vermag. Die Frage der wirtschaftlichen Rettung Britanniens wird nunmehr seinem Proletariat als Frage der Eroberung der Macht gestellt werden. Allen vermittelnden, kompromissbereiten, pseudopazifistischen Zwischenelementen wird der Todesstoß versetzt werden. Die Liberale Partei, wie ihre Führer sich auch drehen und wenden mögen, wird aus dieser Prüfung noch bedeutungsloser hervorgehen, als sie es war, bevor sie in den Kampf ging. Innerhalb der konservativen Partei werden die unerbittlichsten Elemente das Übergewicht erlangen. Innerhalb der Arbeiterpartei wird der revolutionäre Flügel an Einfluss gewinnen und einen vollkommneren Ausdruck finden. Die Kommunisten werden entschlossen vorwärts stoßen. Die revolutionäre Entwicklung Englands wird einen gewaltigen Schritt vorwärts machen.

Die Fragen, die vor einem Jahre in dieser Schrift aufgeworfen wurden, werden erst jetzt durch den Gang der Ereignisse ernstlich als politisch unaufschiebbar gestellt. Im Lichte des sich jetzt entwickelnden gewaltigen Streiks werden die Fragen der Evolution und Revolution, der friedlichen Entwicklung und der Gewaltanwendung, der Reformen und der Klassendiktatur in ihrer ganzen Schärfe das Bewusstsein von Hunderttausenden und Millionen britischer Arbeiter beschäftigen. Daran kann kein Zweifel sein. Das britische Proletariat, das durch die Bourgeoisie und ihre Fabianischen Agenten im Zustande einer erschreckenden ideologischen Rückständigkeit gehalten wurde, wird mit einigen Löwensprüngen nach vorwärts kommen. Die materiellen Bedingungen Englands sind längst für den Sozialismus reif. Der Streik hat die Ersetzung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen auf die Tagesordnung gestellt. Wenn der Streik selbst auch diese Ablösung nicht hervorrufen wird, so wird er sie äußerst nahe rücken. In welcher Zeitspanne kann man selbstverständlich nicht sagen. Aber man muss sich auch auf kurze Termine vorbereiten.

Am 6. Mai 1926, Krim

L. D. Trotzki.

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