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Leo Trotzki 19260211 Wohin treibt England?

Leo Trotzki: Wohin treibt England?

Über das Tempo und die Fristen

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 6. Jahrgang Nr. 34 (2. März 1926), S. 467-470]

In dem Jahre, das seit der Niederschrift des Buches Wohin treibt England?" verstrichen ist, haben sich die Ereignisse durchaus nicht nach der Marschroute Baldwins oder MacDonalds entwickelt.

Der Edelmut des konservativen Ministerpräsidenten ist sehr schnell vergangen. Die Richter des Königs Georg setzen die von MacDonald aus der Arbeiterpartei ausgeschlossenen Kommunisten ins Gefängnis und überführen die Partei in den illegalen Zustand. Die gleichen Richter klopfen den jungen faschistischen Tollköpfen aufmunternd auf die Schulter, wobei sie den Gesetzesverletzern empfehlen, in die Polizei einzutreten, die dazu berufen ist, die Gesetze zu schützen. Dadurch bezeugen die Richter, dass der Unterschied zwischen der faschistischen Verletzung und dem polizeilichen Schutze des Gesetzes nur die Form betrifft, aber durchaus nicht das Wesen. Die Faschisten sind prächtige Bürger, aber zu ungeduldig; ihre Methoden sind verfrüht. Der Klassenkampf ist noch nicht zum Bürgerkrieg gelangt. MacDonald und Lansbury leisten noch ihren Dienst, indem sie das Proletariat mit den Fiktionen der Demokratie und den Mythen der Religion zurückhalten. Der Faschismus aber bleibt in der Reserve. Aber die kapitalistischen Politiker verstehen, dass sich die Sache nicht auf die Methoden der Demokratie beschränkt und Mr. Joynson-Hicks probiert, wenn er allein ist, die Maske Mussolinis an.

Die polizeiliche Entschlossenheit der Regierung Baldwins ergänzt notwendigerweise ihre klägliche wirtschaftliche Verworrenheit. Der Protektionismus der Konservativen Partei ist ebenso ohnmächtig gegenüber den neuen Tatsachen, wie der Freihandel der Liberalen. Es war von allem Anfang an klar, dass die protektionistischen Anstrengungen auf die Interessengegensätze der Hauptzweige der britischen Wirtschaft stoßen werden. Wir hatten aber dennoch vor einem Jahre nicht gedacht, dass das Schutzzollprogramm zu einer solchen Posse ausarten würde. In dieser Zeit wurden Zölle auf Spitzen, Handschuhe, Musikinstrumente, Gaszünder, Federmesser und Klosettpapier eingeführt. In diesen Industriezweigen sind nicht mehr als 10.000 Arbeiter beschäftigt. Dabei gibt es aber 1.231.900 Bergarbeiter. Nach den offiziellen Angaben gibt es 1.215.900 Arbeitslose. Treibt Mr. Baldwin nicht allzu sehr mit dem „schrittweisen Vorgehen" Missbrauch?

Die Liberale Partei, deren Zusammenbruch nach wie vor eine der hervorstechendsten politischen Ausdrucksformen des sozialen Rückganges Großbritanniens bleibt, hat in ihrer Mehrheit auf die Hoffnungen auf eine selbständige Regierung verzichtet und träumt auf ihrem rechten Flügel von einer Rolle eines linken Hemmschuhs bei den Konservativen, während ihr linker Flügel von rechts her MacDonald unterstützen möchte, der immer mehr einer solchen Unterstützung bedarf. Wenn der alte Asquith sich mit Ironie über die Ausführungen Snowdens und Churchills äußert, von denen der erste die Liberalen in die Arbeiterpartei ruft und der zweite in die Konservative Partei, so hat Mr. Asquith in seiner Art recht: Als Anhängsel der alten politischen Feinde zu sterben oder auf den Grundlagen der Unabhängigkeit zu sterben, ist bereits kein so großer Unterschied mehr.

Die Rolle der Clique MacDonalds in diesem Zeitraume ist durch eine einfache Nebeneinanderstellung von Tatsachen hinreichend gekennzeichnet. Im Jahre 1924 zog die Regierung MacDonald die Kommunisten nach dem Zuchthausgesetz des Jahres 1797 (der Epoche der Großen französischen Revolution!) zur Verantwortung. Ende 1925 führte MacDonald die Verjagung der Kommunisten aus der Arbeiterpartei durch. Der reaktionärste Minister der konservativen Regierung, der schon oben erwähnte Benito Hicks, brachte die Kommunisten nach dem gleichen Gesetze des Jahres 1797 vor Gericht und steckte die Führer der Partei ins Gefängnis. Die Arbeitermassen protestieren. Unartikulierte Protestrufe musste auch die Clique MacDonalds ertönen lassen. Wogegen? Offenbar dagegen, dass ihnen der Konkurrent Hicks ihren Verdienst abjagt.

Weder die Wirtschaft noch die Politik Englands im letzten Jahre bieten dazu Anlass, in die Schlussfolgerungen unseres Buches irgendwelche Änderungen einzuführen. Es besteht kein Grund, auf das Zähneknirschen der bürgerlichen Presse, der englischen und besonders der amerikanischen, zu reagieren. „Unter der Maske eines neuen Buches" – heult eine der New Yorker Zeitungen – „unterrichtet der Verfasser die Amerikaner und die Engländer, wie ein Aufstand zu machen ist." Und die Zeitung verlangt entschiedene Maßnahmen gegen das Buch, weil der Verfasser in der weiten Ferne ist. Hier ist alles in Ordnung. Es ist nicht notwendig, zu antworten. Antworten werden die Ereignisse. Das einzige, was ich aus der Kritik der bürgerlichen britischen Presse lernte, ist, dass Mr. Winston Churchill noch nicht Lord ist, wie ich irrtümlicherweise oder zumindest vorzeitig angenommen hatte.

Die offizielle menschewistische Presse spricht dem Wesen nach das gleiche, nur hat der Ruf nach der bürgerlichen Polizei gegen „das Predigen der Gewalt" etwas maskiertere Formen. Auch hier ist eine Polemik nicht am Platze. Weit interessanter ist für uns im gegebenen Stadium der Entwicklung die linke britische Opposition. Von ihren literarischen Vertretern jedoch vernehmen wir wenig: „Wenn die unvernünftigen Moskauer Tendenzen bei uns einen Boden finden können, so nur dank dem Eigennutze unserer Bourgeoisie, der übermäßigen Nachgiebigkeit der Führer der Arbeiterpartei" usw., das ist der Sinn der Artikel von Lansbury, Brailsford und anderer. Das ist eine fertige zentristische Stampiglie, bei der man Gedanken und Wendungen vorhersagen kann. Von diesen Herren einen wirklichen Versuch zu einer Analyse der Tatsachen und der Beweisgründe zu finden, ist ungefähr ebenso, wie von einem Bock Milch zu erwarten.

Glücklicherweise haben wir ein Dokument in Händen, das sich durch eine beträchtlich größere Unmittelbarkeit und sozusagen Frische auszeichnet. Ein russischer Genosse, der sich in einem Briefwechsel mit Führern der englischen Arbeiterbewegung befindet, übersandte mir zwei Briefe eines „linken" Mitgliedes der Unabhängigen Arbeiterpartei, die gegen mein Buch „Wohin treibt England?" gerichtet sind. Diese Briefe schienen mir interessanter als die Artikel der britischen und anderer „Führer", von denen die einen das Denken verlernt und die anderen es nie vermocht haben.

Damit will ich durchaus nicht sagen, dass der Verfasser der Briefe richtig urteilt. Im Gegenteil, man kann sich schwer ein größeres Chaos vorstellen als jenes, das in seinen Gedanken herrscht, worin er übrigens selbst seinen größten Vorzug vor den vollendeten Kompromisslern von der Art MacDonalds und vor unseren „Dogmatikern" der Revolution erblickt. Wir kennen aus den russischen und internationalen Erfahrungen gut genug Konfusionisten dieser Art. Wenn wir trotzdem die nicht für die Presse bestimmten kritischen Briefe des „Linken" für lehrreicher halten als die geleckten Artikel der Spezialisten des Zentrismus, so gerade deshalb, weil in der gewissenhaften eklektischen Verworrenheit der Briefe die politischen Verschiebungen in den Massen unmittelbarer widergespiegelt werden. Überflüssig zu sagen, dass wir die Briefe mit der liebenswürdigen Einwilligung beider Korrespondenten, des russischen und des englischen, benützen.

Die ideologischen Gruppierungen in der englischen Arbeiterbewegung und besonders in ihrer führenden Schicht kann man nach drei Grundlinien teilen. Die führende Stellung in der Arbeiterpartei nehmen, wie dies die Konferenz von Liverpool von neuem bewiesen hat, die Rechten ein. Die schäbigen Reste der bürgerlichen Theorien des 19. Jahrhunderts, besonders seiner ersten Hälfte, bilden die offizielle Ideologie dieser Herren die bei der Verteidigung der Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft! vor nichts stehen bleiben. Auf dem anderen Pole steht die kleine Minderheit der Kommunisten. Zum Siege wird die englische Arbeiterklasse nur unter der Führung einer bolschewistischen Partei gelangen. Heute steht die Partei noch in den Kinderschuhen Aber sie wächst und kann schnell wachsen.

Zwischen diesen beiden Randgruppen befindet sich wie zwischen zwei Ufern, die zahllose Menge von Schattierungen und Strömungen, die an sich keine Zukunft hat, aber sie vorbereit. Die „Theoretiker" und „Politiker" dieser breiten mittleren Strömung rekrutieren sich aus Eklektikern, Sentimentalisten, hysterischen Menschenfreunden, allen möglichen Wirrköpfen überhaupt. Die Eklektik ist bei den einen ausgesprochener Lebensberuf bei den anderen eine Entwicklungsetappe. Die von Linken, Halblinken und äußersten Linken geführte Oppositionsbewegung spiegelt eine tiefe soziale Verschiebung in den Massen wider. Aber die Halbschlächtigkeit der englischen „Linken", ihre theoretische Ungeformtheit, ihre politische Unentschlossenheit, um nicht zu sagen Feigheit, machen zum Herren der Lage die Clique MacDonalds, der Webbs und Snowdens, die ihrerseits ohne Thomas unmöglich ist. Wenn die Spitze der englischen Arbeiterpartei die Zügel sind, die der Arbeiterklasse angelegt werden, so ist Thomas das Gespann, in das die Bourgeoisie den Wagen hängt.

Das jetzige Stadium in der Entwicklung des englischen Proletariats, da sich seine überwiegende Mehrheit gegenüber den Reden der „Linken" zustimmend verhält und MacDonald und Thomas an der Macht unterstützt, ist natürlich kein zufälliges. Dieses Stadium kann nicht übersprungen werden. Der Weg der Kommunistischen Partei, als der kommenden großen Massenpartei, führt nicht nur über den unversöhnlichen Kampf gegen die Agentur des Kapitals in Gestalt der Clique Thomas-MacDonald, sondern auch über die systematische Entlarvung der linken Wirrköpfe, mit deren Vermittlung allein die MacDonald-Thomas ihre Stellungen halten können. Damit ist unsere Aufmerksamkeit für die linke Kritik gerechtfertigt.

Es ist überflüssig, davon zu sprechen, dass der Kritiker unsere Broschüre der Starrheit, der mechanischen Fragestellung, der allzu großen Vereinfachung der Wirklichkeit und dergleichen beschuldigt. „Durch sein (das heißt mein) ganzes Buch geht die Überzeugung, dass der Niedergang Englands noch vier bis fünf (?!) Jahre andauern wird, bevor er zu ernsten Komplikationen führt", während nach der Meinung des Kritikers die nächsten zwölf Monate den Höhepunkt der Krise bilden werden, worauf „die weitere Entwicklung im Verlaufe des nächsten Jahrzehntes (?!) ohne große Schwierigkeiten verhüten wird". Auf diese Weise drängt mir der Kritiker zuerst eine genaue Voraussage über die Verschärfung der Krise im Verlaufe von vier bis fünf Jahren auf, dann aber stellt er dieser Voraussage eine andere, noch genauere entgegen, die den nächsten Zeitabschnitt der englischen Geschichte in zwei Abschnitte teilt: Zwölf Monate einer sich verschärfenden Krise und zehn Jahre ruhigen Gedeihens.

Im Briefe ist leider keinerlei wirtschaftliche Begründung enthalten. Um der Prophezeiung eines Krisenjahres und eines gedeihlichen Jahrzehnts einen wirtschaftlichen Sinn zu verleihen, kann man nur annehmen, dass der Verfasser seine Voraussage in Zusammenhang mit den jetzigen ernsten finanziellen Schwierigkeiten bringt, die sich aus dem Übergange zur Goldwährung und aus der Regulierung der Schuldenfrage ergeben1. Die Wirtschaftskrise führt der Verfasser offenbar auf die Deflationskrise zurück und räumt ihr gerade deshalb eine so kurze Frist ein. Es ist ganz wahrscheinlich, dass nach der Überwindung der ernstesten Finanz- und Kreditschwierigkeiten tatsächlich eine gewisse Erleichterung auf dem Geldmärkte und daher auch im Handels- und Industrieverkehr eintreten wird. Aber eine allgemeine Voraussage darf man nicht auf Schwankungen solcher Art begründen, die dem Wesen nach nur von untergeordneter Bedeutung sind. Jedenfalls aber ist die Voraussage über das gedeihliche Jahrzehnt schon ganz aus der Luft gegriffen. Die Hauptschwierigkeiten Englands wurzeln einerseits in der Umgruppierung und Umstellung der wirtschaftlichen und politischen Kräfte der Welt, andererseits aber im inneren Konservativismus der englischen Industrie.

Das unermessliche industrielle und finanzielle Obergewicht der Vereinigten Staaten von Amerika über England ist eine Tatsache, deren Bedeutung in der Zukunft nur noch anwachsen wird. Es gibt keine Verhältnisse und kann auch keine solchen geben, die die tödlichen Folgen schwächen könnten, die sich für England aus der unvergleichlichen Überlegenheit Amerikas ergeben.

Die Entwicklung der neuesten Technik, im besonderen die wachsende Bedeutung der Elektrifizierung, richtet sich unmittelbar gegen die Kohlenindustrie, mittelbar aber gegen die gesamte, überhaupt höchst konservative britische Industrie, die sich hauptsächlich auf die Kohle stützt.

Das Anwachsen der industriellen und politischen Selbständigkeit Kanadas, Australiens und Südafrikas, das nach dem Kriege in vollem Umfange zutage getreten ist, fügt dem Mutterlande immer neue Schläge zu. Aus einer Quelle der Bereicherung werden die Dominions für England zu einer Quelle des volkswirtschaftlichen Defizits.

Die nationale Bewegung in Indien, in Ägypten, im gesamten Osten ist in erster Reihe gegen den britischen Imperialismus gerichtet. Es besteht kaum irgendein Grund, zu hoffen, dass diese Bewegung „innerhalb der zwölf Monate" schwächer werden wird.

Das Bestehen der Sowjetuniondarin kann man mit den englischen konservativen und liberalen Politikern übereinstimmen – schließt gleichfalls nicht geringe wirtschaftliche und politische Schwierigkeiten für Großbritannien in sich. Auch hier besteht kein Grund zur Annahme, dass diese Schwierigkeiten innerhalb von zwölf Monaten geringer werden.

Wenn die sogenannte Befriedung Europas andauern wird, wird sie das Wiedererstehen und die Verstärkung der deutschen Konkurrenz mit sich bringen. Wenn aber die Befriedung durch eine Kriegs- oder Revolutionskrise abgelöst werden wird, wird letztere der Wirtschaft Großbritanniens einen Schlag versetzen.

Der nächste Zeitabschnitt wird also immer schwierigere Bedingungen für das englische Kapital schaffen und dadurch mit immer größerer Schärfe das Proletariat vor die Machtfrage stellen. Ich habe keinerlei Fristen angegeben. Die einzige betreffende Bemerkung in meinem Buche lautet, dass die revolutionäre Entwicklung der englischen Arbeiterklasse eher nach Jahrfünften als nach Jahrzehnten gemessen werden wird. Damit wollte ich natürlich nicht sagen, dass der sozialistische Umsturz „innerhalb von vier Jahren" vor sich gehen wird (obgleich ich auch das nicht für ausgeschlossen halte). Mein Gedanke war der, dass die Perspektive der revolutionären Entwicklung nicht auf eine Reihe von Jahrzehnten, nicht auf die Kinder und Enkel, sondern auf das jetzt lebende Geschlecht berechnet werden muss.

Hier bin ich genötigt, ein größeres Zitat aus dem Briefe des linken Kritikers anzuführen:

Trotzki spricht fast die ganze Zeit von Jahrzehnten. Kann man in Anwendung auf eine wirtschaftliche oder sogar politische Lage von Jahrzehnten sprechen? Ich glaube, keinesfalls. Es ist unmöglich, wie Trotzki selbst früher sagte, ein genaues Datum vorauszusehen und festzusetzen, an dem der Ausbruch der Revolution sein wird, und wenn er auch eher die Unmöglichkeit im Auge hatte, genau den Tag (?) anzugeben, so halte ich es für unmöglich, sogar das Jahr (?) vorauszusagen.

Die Revolution hängt vor allem von wirtschaftlichen Faktoren ab: Wirtschaftliche Faktoren aber, die für und gegen die Revolution in England wirken können, gibt es gegenwärtig unendlich viele. Die Revolution konnte am 1. August 1925 im Ergebnisse der Krise in der Kohlenindustrie ausbrechen. Die Revolution kann bei der Erneuerung der Krise im Mai 1926 ausbrechen. Die Revolution kann durch eine Krise im fernen Osten, Krieg, wirtschaftlichen Zusammenbruch anderer Länder, Kurzsichtigkeit einiger Industrieller in unserem Lande, Unvermögen der Regierung, die Arbeitslosenfrage zu lösen, Krise auch in anderen Industriezweigen, außer im Kohlenbergbau, aber auch durch sozialistische Propaganda unter den Arbeitern, die deren Ansprüche und Hoffnungen steigert, beschleunigt werden.

Jede dieser Möglichkeiten ist unter den Verhältnissen der gegenwärtigen Zeit durchaus wahrscheinlich, und doch kann keine von ihnen auch nur für einen Monat vorausgesagt werden. Die gegenwärtige Zeit ist durch äußerste wirtschaftliche und folglich auch politische Unbeständigkeit gekennzeichnet; ein Zug kann das ganze Spiel verpfuschen, aber andererseits kann sich das bestehende System noch viele Jahre künstlich halten. Auf diese Weise steht die britische Revolution, wenn man unter ihr die politische Revolution versteht, ihn Zeichen des Unbekanntseins."

Die Verworrenheit dieser Zeilen ist geradezu phantastisch, zugleich ist dies nicht eine persönliche Verworrenheit, im Gegenteil, sie ist ganz und gar typisch. Dies ist die Verworrenheit von Leuten, die, „allgemein gesprochen", die Revolution anerkennen, vor ihr aber bis ins Mark zurückschaudern und bereit sind für ihre politische Angst eine beliebige theoretische Rechtfertigung zu finden.

Betrachten wir die Beweisführung des Verfassers. Er rennt offene Türen ein, wenn er nachweist, dass das Entwicklungstempo der Revolution und daher auch ihre Frist von der Wechselwirkung zahlreicher Faktoren und Umstände sowohl beschleunigender wie auch verzögernder Wirkung abhängig sind. Daraus zieht er selbst den unstrittigen Schluss der Unmöglichkeit, die Frist der Revolution vorauszusagen. Aber diesen ganz einfachen Gedanken ist er so schlau, folgendermaßen zu formulieren: Trotzki halte es für möglich, den Tag der Revolution vorauszusagen; doch er, der weise Kritiker, hält es für unmöglich, sogar das Jahr vorauszusagen. Diese Gegenüberstellung erscheint in ihrem kindischen Wesen ganz unglaublich. Es könnte sogar scheinen, dass sie überhaupt eine Antwort nicht verdient. Aber in der Tat; wie viele „äußerste Linke" gibt es, die nicht einmal in rohen Umrissen die elementarsten Fragen der Revolution durchdacht haben und für die die bloße Tatsache von Erwägungen über Tag und Jahr einen gewaltigen Schritt vorwärts bedeutet, ähnlich beispielsweise dem Übergange von der vollen Unkenntnis des Lesens und Schreibens zum radebrechenden Lesen nach Silben.

Wenn ich tatsächlich meinte, dass man vorher nur den Tag (?!) der Revolution nicht bestimmen kann, so hätte ich mich doch wohl bemüht, die Woche, den Monat oder das Jahr zu bestimmen. Ich habe aber, was ja offenkundig ist, einen solchen Versuch nicht gemacht, ich habe darauf hingewiesen, dass die gesellschaftliche Entwicklung Englands in eine revolutionäre Phase eingetreten ist. Am Ende des letzten Jahrhunderts konnte man in England über eine zukünftige Revolution nur ganz im Allgemeinen sprechen. In den Jahren, die dem imperialistischen Krieg unmittelbar vorangingen, war es schon möglich, eine Reihe von Symptomen aufzuzeigen, die das Herannahen eines Wendepunktes ankündigten.

Nach dem Kriege ist diese Wendung eingetreten, und noch dazu als eine scharfe Wendung. In der Vergangenheit hatte die englische Bourgeoisie, indem sie die Werktätigen unterdrückte und die Kolonien ausplünderte, die Nation auf dem Wege materiellen Zuwachses weitergeführt und dadurch ihre eigene Herrschaft gesichert. Gegenwärtig ist das bürgerliche Regime nicht nur nicht fähig, die britische Nation vorwärts zu führen, sondern es kann auch die für sie bereits erreichte Höhe nicht halten. Die englische Arbeiterklasse kämpft inmitten der Gegensätze des kapitalistischen Niederganges. Es gibt keine einzige Frage des Wirtschaftslebens, wie die Frage der Nationalisierung der Bergwerke, der Eisenbahnen, des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit, des Freihandels oder Zollschutzes, des Wohnbaues und dergleichen, die nicht unmittelbar zur Machtfrage führen würde. Das ist die gesellschaftlich-geschichtliche Grundlage der revolutionären Lage. Natürlich handelt es sich um einen Kampf lebender geschichtlicher Kräfte und nicht um eine automatische Anhäufung von Mengengrößen. Schon dies macht ein passives Voraussagen von Etappen des Prozesses und von Fristen des Losbrechens unmöglich. Es bleibt nur übrig, der englischen Wirtschaft und Politik den Puls zu fühlen und ohne auch nur einen Augenblick die allgemeine Perspektive außer acht zu lassen, sorgfältig allen Teilschwankungen, Ebbe und Flut, zu folgen und ihre Stelle im Prozesse des kapitalistischen Niederganges zu bestimmen. Nur auf Grundlage einer solchen allgemeinen Orientierung kann eine revolutionäre Partei ihre Politik führen, deren Schmiegsamkeit darin zum Ausdruck gelangt, dass sie auch die Teilschwankungen berücksichtigt, aber durchaus nicht darin, dass sie die Hauptlinie der Entwicklung aus den Augen verliert.

Mein „linker" Kritiker hat irgend etwas – bei einem ganz anderen Anlasse – über die Festsetzung des „Tages" der Revolution gehört und sich nicht klargemacht, dass es sich dort um den Augenblick des bewaffneten Aufstandes handelte, der von der Revolution auf die Tagesordnung gesetzt worden war. Dies sind zwei wenn auch miteinander verbundene, so doch ganz verschiedene Fragen. In dem einen Falle handelt es sich um eine geschichtlich begründete Prognose und die sich daraus ergebende allgemeine strategische Linie, im zweiten Falle um einen taktischen Plan, der eine mehr oder minder genauere Festsetzung von Ort und Zeit vorschlägt. Niemandem – außer vielleicht der englischen Staatsanwaltschaft – wird es einfallen zu sagen, dass in England im gegenwärtigen Augenblicke der bewaffnete Aufstand auf der Tagesordnung steht und dass eine praktische Aufgabe die Bestimmung seines Planes ist, also auch der Frist des Aufstandes. Indessen könnte man nur in einem solchen Zusammenhange von einem Tage oder von Tagen sprechen. Im Herbst 1923 stand die Sache gerade so in Deutschland. Gegenwärtig besteht die Frage in England nicht darin, den „Tag" der Revolution festzusetzen – dieser Tag ist noch fern – sondern klar zu verstehen, dass die gesamte objektive Lage diesen „Tag" näher bringt, ihn in den Kreis der Erziehungs- und Vorbereitungspolitik der Partei des Proletariats einführt, indem zugleich die Bedingungen für schnelle revolutionäre Herausbildung dieser Partei geschaffen werden.

Im zweiten Briefe bringt der gleiche Kritiker zur Unterstützung seines Skeptizismus betreffend die Fristen (in der Tat aber betreffend die Revolution) noch unerwartetere Schlussfolgerungen:

Das Reich der Wirtschaft", urteilt er, „ist praktisch genommen grenzenlos … Eine neue Erfindung, eine Umgruppierung der kapitalistischen Kräfte … Die andere Seite empfindet gleichfalls die Gefahr … Ja, auch Amerika kann Maßnahmen gegen den nahenden Zusammenbruch Englands unternehmen Mit einem Worte" – schließt der Kritiker – „es gibt sehr viele Möglichkeiten, und Trotzki hat sie bei weitem nicht ausgeschöpft."

Unserem Linken sind alle Möglichkeiten notwendig, außer einer: der revolutionären. Mit der Wirklichkeit Verstecken spielend, ist er bereit, sich an jede beliebige Phantastik zu klammern. In welchem Sinne z. B. kann eine „neue Erfindung" die sozialen Verhältnisse der Entwicklung Großbritanniens verändern? Seit den Zeiten Marx' gab es nicht wenige Erfindungen, die die Geltung des Marxschen Gesetzes von der Konzentration der Produktion und der Verschärfung der Klassengegensätze nicht abschwächten, sondern im Gegenteil verstärkten. Neue Erfindungen werden auch in der Zukunft dem Stärkeren den Vorzug verschaffen, das heißt nicht Großbritannien, sondern den Vereinigten Staaten. Dass die „andere Seite", das heißt die Bourgeoisie, die Gefahr empfinden und gegen sie mit allen Mitteln kämpfen wird, ist unstrittig. Aber dies ist doch auch eine sehr wichtige politische Voraussetzung der Revolution.

Ganz ungeheuerlich scheint schließlich die Hoffnung auf die Retterhand Amerikas. Dass im Falle eines Bürgerkrieges in England sich Amerika bemühen wird, der Bourgeoisie Hilfe zu leisten, ist mehr als wahrscheinlich, bedeutet aber nur, dass auch das englische Proletariat Verbündete jenseits der Grenzen des Landes suchen muss. Wir glauben, dass es sie finden wird. Daraus ergibt sich, dass die englische Revolution unvermeidlich internationalen Schwung annehmen wird. Dagegen wollen wir am allerwenigsten streiten. Aber unser Kritiker will etwas anderes sagen. Er gibt der Hoffnung Ausdruck, dass Amerika die Existenz der britischen Bourgeoisie so sehr fördern wird, dass es ihr helfen wird, die Revolution überhaupt zu vermeiden.

Etwas Besseres als das kann man sich nicht ausdenken. Jeder neue Tag bezeugt, dass das amerikanische Kapital der geschichtliche Tyrann ist, der absichtlich und unabsichtlich der Weltstellung und inneren Festigkeit Großbritanniens die vernichtendsten Schläge zufügen wird. Das hindert jedoch unseren „Linken" nicht daran, zu hoffen, dass sich das amerikanische Kapital in liebenswürdiger Weise im Interesse des britischen anstrengen wird. Für den Anfang muss offenbar erwartet werden, dass Amerika auf die Zahlung der englischen Schuld verzichten wird; dass es der britischen Staatskasse entschädigungslos die 300 Millionen Dollar übergeben wird, die die Reserve der britischen Währung sind; dass es in China die Politik Großbritanniens unterstützen wird; dass es vielleicht noch der britischen Flotte einige neue Kreuzer übergeben wird und den englischen Finnen seine kanadischen Aktien mit einem Rabatt von 50% abtreten wird. Mit einem Worte, es ist zu erwarten, dass die Regierung von Washington die Leitung der Staatsangelegenheiten in die Hände der „Ara" geben wird (Amerikanische Hilfsaktion in der Sowjetunion während der Hungersnot. D. Red.) und dazu die menschenfreundlichsten Quäker auswählen wird.

Leute, die sich mit derartigem Unsinn trösten wollen, mögen es nicht wagen, auf die Führung des britischen Proletariats Anspruch zu erheben.

1 Diese Zeilen wurden vor mehr als zwei Monaten geschrieben. Die Beförderung des Artikels zum Drucke wurde durch äußere Umstände stark verzögert.

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