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Leo Trotzki 19271021 Stalin fälscht Geschichte

Leo Trotzki: Stalin fälscht Geschichte

[Nach Die wirkliche Lage in Russland, Avalun-Verlag, Hellerau bei Dresden 1928, S. 161-252. Trotzki kritisierte den Titel der nicht autorisierten Veröffentlichung und die Qualität der Übersetzung. Einzelne Merkwürdigkeiten wie „Zentralausschuss“ statt „Zentralkomitee“ wurden hier korrigiert.]

An das Büro für Parteigeschichte im Zentralkomitee der russischen kommunistischen Partei: Über die Fälschung der Geschichte des Oktoberaufstandes, der Geschichte der Revolution und der Geschichte der Partei.

Geehrte Genossen!

Ihr habt mir einen ausführlichen Fragebogen über meine Teilnahme an der Oktoberrevolution gesandt und verlangt eine Antwort. Ich weiß nicht, ob ich zu dem, was schon in Dokumenten, Reden und Büchern, einschließlich meiner eigenen, gedruckt ist, viel hinzufügen könnte. Aber ich möchte mir zunächst selbst eine Frage erlauben: Welchen Sinn hat es, mich über meine Teilnahme an der Oktoberrevolution zu befragen, wenn der ganze offizielle Apparat, der Eure nicht ausgeschlossen, nur damit beschäftigt ist, jede Spur von dieser Teilnahme zu verbergen, zu zerstören, oder wenigstens zu verdrehen?

Hunderte von Genossen haben mich immer und immer wieder gefragt, warum ich angesichts der gegen mich gerichteten, einfach schändlichen Verfälschung der Geschichte der Oktoberrevolution und der Parteigeschichte fortfahre zu schweigen. Ich beabsichtige gewiss nicht, das Thema dieser Fälschungen hier erschöpfend zu behandeln. Das würde mehrere Bände füllen. Aber in Beantwortung Eures Fragebogens will ich ein paar Dutzend Beispiele dieser bewussten und gehässigen Verdrehung der Vergangenheit aufführen, wie sie jetzt in einem riesigen Umfange erzeugt, durch die Autorität aller möglichen Institutionen gestützt und sogar in die staatlichen Dokumentensammlungen hineingetragen werden.

Der Krieg und meine Ankunft in Petrograd

Ich kam nach Petrograd aus einem kanadischen Gefängnis Anfang Mai 1917, am zweiten Tage nach dem Eintritt der Menschewisten und Sozialrevolutionäre in die Koalitionsregierung.

Die Organe Eures Büros, wie so viele andere Publikationen, versuchen, wegen dieses späten Datums, meine Arbeit wegen des Krieges als eine Art „Sozialpatriotismus" zu bezeichnen. Bei diesem Versuch „vergessen" sie aber, das eine Sammlung von Artikeln, die ich im Verlauf des Krieges geschrieben hatte, unter dem Titel „Krieg und Revolution", zu Lebzeiten Lenins veröffentlicht und in vielen Auflagen verbreitet wurde. Man studierte sie auf den staatlichen Parteischulen, und sie erschien in fremden Übersetzungen unter den Publikationen der kommunistischen Internationale.

Ihr versucht, die jüngere Generation über meine Haltung während des Krieges zu täuschen, obgleich es doch wohlbekannt ist, dass ich wegen meines revolutionären, international gesinnten Kämpfens gegen den Krieg schon zu Ende 1914 in Deutschland steckbrieflich verfolgt wurde. Es geschah dies wegen meines deutschen Buches „Der Krieg und die Internationale". Aus Frankreich, wo ich mit den zukünftigen Gründern der kommunistischen Partei zusammenarbeitete, wurde ich ausgewiesen. In Spanien, wo ich Verbindungen mit den zukünftigen Kommunisten angeknüpft hatte, wurde ich verhaftet. Man deportierte mich nach den Vereinigten Staaten, worauf ich in New York die internationale revolutionäre Arbeit aufnahm, mit Bolschewisten die Zeitung „Novy Mir" leitete und dort in leninistischem Sinne über die ersten Anfänge der Februarrevolution schrieb. Beim Versuch, von Amerika nach Russland zurückzukehren, wurde ich durch die englischen Behörden von dem Dampfer entfernt, verbrachte einen Monat in einem Konzentrationslager in Kanada, wo ich mit sechs- oder siebenhundert deutschen Matrosen zusammenlebte und sie nach und nach zu den Ansichten Liebknechts und Lenins bekehrte. (Viele von ihnen nahmen nachher an dem Bürgerkrieg in Deutschland teil, und ich bekomme von ihnen bis zum heutigen Tage Briefe.)

Gelegentlich einer Depesche über die Ursache meiner Verhaftung in Kanada schrieb am 16. April 1917 Lenins Prawda folgendes:

Ist es möglich, auch nur für eine Minute die Behauptung der beim englischen Gesandten eingetroffenen Depesche zu glauben, dass Trotzki, der frühere Präsident der Sowjets der Arbeiterdelegierten in Petrograd im Jahre 1905 – ein Revolutionär, der seit Jahrzehnten dem Dienste der Revolution ergeben war –, dass dieser Mann irgendeine Verbindung mit einem von der deutschen Regierung mit Geld unterstützten Plan hatte? Dies ist offenbar eine ungeheuerliche und freche Verleumdung eines Revolutionärs."

Wie frisch klingen jetzt solche Worte in einer Epoche verächtlicher Verleumdungen gegen die Opposition, die sich im Grunde in nichts von den Verleumdungen gegen die Bolschewisten vom Jahre 1917 unterscheiden.

In den Anmerkungen zu dem 1921 veröffentlichten Band XIV der Gesammelten Werke Lenins liest man auf S.482:

Vom Beginn des imperialistischen Krieges an nahm (Trotzki) eine internationale Haltung an."

Solche Urteile und noch viel entschiedenere könnten in beliebiger Zahl hier aufgeführt werden. Die Mitarbeiter der russischen und ausländischen Parteipresse haben in Hinsicht auf mein Buch „Krieg und Revolution" wohl hundertmal darauf hingewiesen, dass, wenn man meine Arbeit während des Krieges im ganzen betrachtet, man erkennen muss, dass meine Meinungsverschiedenheiten mit Lenin von sehr nebensächlicher Art waren, und ich mich als ein entschiedener Revolutionär immer mehr – und zwar nicht nur in Worten, sondern auch in Taten – zum Bolschewismus hin entwickelt habe. Ich will mir nicht die Mühe geben, in den politischen Biographien meiner jetzigen Ankläger – und vor allem in ihrer Tätigkeit während des Krieges herum zu wühlen.

Sie versuchen nunmehr, ihre Beschuldigungen auf vereinzelte, scharf polemische Äußerungen Lenins gegen mich zu stützen, von denen mehrere auch noch während des Krieges gefallen sind. Lenin konnte niemals halb ausgesprochene Dinge und Unklarheiten vertragen. Mit Recht schlug er zweimal und dreimal zu, wenn ein politischer Gedanke ihm unbestimmt oder unvollständig erschien. Aber eine scharfe politische Bemerkung in einem bestimmten Augenblick hat nichts mit dem Urteil zu tun, das man über die ganze politische Tätigkeit des anderen fällt.

Im Jahre 1918 oder 1919 veröffentlichte ein gewisser F. in Amerika eine Sammlung von Aufsätzen von Lenin und mir aus der Kriegszeit, unter denen sich auch meine Aufsätze über die damals debattierte Frage der Vereinigten Staaten von Europa befanden. Und wie stellte sich Lenin dazu? Er schrieb:

Der amerikanische Genosse F. tat ganz recht, als er ein dickes Buch mit Artikeln von Trotzki und mir heraus brachte und so eine Übersicht über die Geschichte der russischen Revolution gab."

Ich will nicht auf die Haltung der Mehrzahl meiner jetzigen Ankläger während des Anfangs der Februarrevolution hinweisen, obgleich man dabei manche interessante Dinge über Skworzow, Stepanowitsch, Jaroslawski und viele, viele andere erzählen könnte. Ich beschränke mich auf ein paar Worte über den Genossen Melnitschanski, der versucht hat, mich in der Presse wegen meiner Haltung in New York im Jahre 1917 zu verleumden. Jeder in Amerika kannte Melnitschanski als einen Menschewisten. In dem Kampf der Bolschewisten und internationalen Revolutionäre gegen den kriegsbejahenden Sozialpatriotismus enthielt sich Melnitschanski einer Stellungnahme. Er ging allen solchen Fragen aus dem Wege. Dasselbe tat er auch in dem kanadischen Lager, wo er wie viele andere mit mir und Tschudnowski zufällig hin gelangte. Man braucht nur zu lesen, was Melnitschanski in den Jahren 1924 und 1927 geschrieben hat. Jeder, der Melnitschanski in Amerika gekannt hat, würde nur darüber lachen. Aber wozu nach Amerika gehen? An jeder einzelnen Rede Melnitschanskis erkennt man den opportunistischen bürokratischen Streber, dem der bürgerliche Standpunkt Purcells viel näher steht als der Leninismus.

Bei der Ankunft unserer Gruppe in Leningrad begrüßte uns Genosse Fedorow, ein damaliges Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees, an der Bahnstation, und in seiner Willkommensrede berührte er die Frage der weiteren Stufen der Revolution, der proletarischen Diktatur und des sozialistischen Entwicklungsganges. In meiner Antwort stimmte ich durchaus dem von ihm formulierten Programm der Revolution zu. Fedorow erzählte mir nachher, dass er die Hauptpunkte seiner Rede gemeinsam mit Lenin – oder genauer auf Lenins Anweisung – festgelegt hatte. Ich brauche nicht erst zu sagen, dass Lenin diese Punkte als entscheidend für die Möglichkeit unseres Zusammenarbeitens ansah.

Ich trat nicht unmittelbar nach meiner Ankunft aus Kanada in die bolschewistische Organisation ein. Warum? Etwa, weil Zwistigkeiten vorhanden waren? Man versucht ja jetzt nachträglich solche zu erfinden. Wer aber als ein Mitglied des zentralen Kerns des Bolschewismus das Jahr 1917 durchlebt hat, der weiß, dass es auch nicht den Schatten einer Zwistigkeit zwischen Lenin und mir vom ersten Tage an gegeben hat. Bei meiner Ankunft in Petrograd, oder vielmehr auf der Grenzstation, erfuhr ich von den uns entgegen gesandten Genossen, dass in Petersburg eine Organisation von revolutionären Internationalisten (den sog. Meschrajonzi) bestehe, die die Frage einer Vereinigung mit den Bolschewisten erwögen, aber mit ihrer Entscheidung doch bis zu meiner Ankunft warten wollten. In dem Stab der Meschrajonziorganisation, die etwa 3000 Petrograder Arbeiter umfasste, befanden sich Uritzki, A. A. Joffe, Lunatscharski, Jurenew, Karachan, Wladimirow, Manuilski, Posern, Litwens und andere.

Vielleicht darf ich die nachfolgende Charakteristik der Meschrajonzi anführen, die sich im vierzehnten Band der Werke Lenins befindet:

,,In der Kriegsfrage nahmen die Meschrajonzi eine internationale Haltung ein, und in ihrer Taktik waren sie eng mit den Bolschewisten verbunden."

Von den ersten Tagen meiner Ankunft an habe ich zuerst zum Genossen Kamenew und nachher in Gegenwart von Lenin, Sinowjew und Kamenew zu dem Leiter der Prawda gesagt, ich sei bei dem Fehlen jeder Meinungsverschiedenheit sofort bereit, mich der bolschewistischen Organisation anzuschließen, aber ich hielte es für notwendig, so schnell wie möglich die Frage der Aufnahme der Meschrajonziorganisation in die Partei zu entscheiden. Ich erinnere mich, wie einige der Anwesenden mich fragten, wie ich mir denn die Ausführung dieser Vereinigung dächte, welche Vorstandsmitglieder der Meschrajonzi in die Leitung der Prawda, welche in den Zentralkomitee usw. gehen sollten. Ich antwortete, dass diese Frage bei der Abwesenheit aller Meinungsverschiedenheiten für mich keine politische Bedeutung habe.

Im Vorstand der Meschrajonzi befanden sich aber Elemente, die die Vereinigung hinauszuschieben suchten, indem sie allerlei Bedingungen vorbrachten. Zwischen dem Petersburger Parteikomitee und den Meschrajonzi hatten sich alter Groll, Misstrauen und dergleichen aufgetürmt. Dies ganz allein verursachte den Aufschub unserer Vereinigung.

Raskolnikows zwei Meinungen

Genosse Raskolnikow hat in der letzten Zeit ziemlich viel Papier beschrieben, um meine Haltung im Jahre 1917 zu der Haltung Lenins in einen Gegensatz zu bringen. Es ist unnötig, Beispiele aufzuführen, besonders da das, was er schreibt, sich in nichts von den andern Fälschungen über diese Periode unterscheidet. Es genügt, wenn ich einige Worte wiedergebe, die dieser selbe Raskolnikow einige Zeit früher über jene Periode geäußert hat.

Er schrieb 1923 in der „Proletarischen Revolution" in einem Artikel „Kerenskis Gefängnis": „Die früheren Misshelligkeiten aus der Vorkriegsperiode waren vollständig verschwunden. Keine Unterschiede gab es mehr zwischen der taktischen Haltung Lenins und der Trotzkis. Die Vereinigung, die sich schon während des Krieges bemerkbar gemacht hatte, war eine vollständige und endgültige geworden von dem Augenblick an, da Trotzki nach Russland zurückkehrte. Bei seiner ersten öffentlichen Rede fühlten wir alten Leninisten alle, dass er einer der Unsrigen war."

Diese Worte waren geschrieben, nicht um etwas zu beweisen oder um jemand anzugreifen, sondern einfach, um zu erzählen, wie es war. Später zeigte dann Raskolnikow, dass er auch zu erzählen weiß, wie es nicht ist. Als er seine Artikel im Organ des Büros für Parteigeschichte von Neuem herausbrachte, entfernte er sorgfältig aus ihnen, was war, um es zu ersetzen mit dem, was nicht war.

Vielleicht lohnt es sich nicht, bei dem Genossen Raskolnikow zu verweilen, aber sein Beispiel ist so einleuchtend. In seiner Besprechung des dritten Bandes meiner Werke fragt Raskolnikow: „Und welche Haltung nahm Genosse Trotzki im Jahre 1917 ein?" Und er antwortete darauf: „Genosse Trotzki betrachtete sich noch immer als Mitglied derselben allgemeinen Partei mit den Menschewisten, mit Zeretelli und Skobelew." Und weiter sagt er: „Genosse Trotzki war sich seiner Wahl zwischen dem Bolschewismus und dem Menschewismus noch immer nicht klar geworden. Zu jener Zeit nahm Genosse Trotzki noch immer eine schwankende unentschlossene und unentschiedene Haltung ein."

Wie kann man diese wirklich unverschämten Behauptungen mit den oben angeführten Worten desselben Raskolnikow in Übereinstimmung bringen: „Die früheren Misshelligkeiten aus der Vorkriegszeit waren vollständig verschwunden?" Wenn Trotzki sich noch nicht klar geworden war über seine Haltung gegenüber dem Bolschewismus und dem Menschewismus, wie war es dann möglich, dass, „alle wir alten Leninisten fühlten, dass er einer der Unsrigen war?"

Aber das ist nicht alles. In dem Artikel „Julitage" in der Proletarischen Revolution schrieb dieser gleiche Raskolnikow 1923:

Leo Davidowitsch (Trotzki) war zu jener Zeit formell kein Mitglied unserer Partei, aber tatsächlich arbeitete er in ihr ununterbrochen von dem Tage seiner Ankunft aus Amerika an. Jedenfalls betrachteten wir alle ihn nach seiner ersten Rede im Sowjet als einen unserer Parteiführer."

Das klingt klar und deutlich, und es erscheint fast unmöglich, eine falsche Auslegung in diese Worte hineinzulegen. Aber keine Angst, den planvoll vorgehenden und durch behördliche Anweisungen gestützten Fälschern ist alles möglich.

Damit nun das Verhalten Raskolnikows, das so charakteristisch ist, nicht nur für ihn persönlich, sondern auch für das ganze jetzige System unserer Führerschaft, in seiner vollen Schönheit erstrahlt, muss ich aus seinem Artikel über „Kerenskis Gefängnis" einen längeren Absatz zitieren. Er lautet:

Trotzkis Haltung gegenüber Wladimir Iljitsch war die der höchsten Verehrung Er stellte Lenin über alle Zeitgenossen, die er in Russland und im Ausland kennengelernt hatte. In dem Ton, in dem Trotzki von Lenin sprach, fühlte man die Ehrfurcht eines Schülers. Zu jener Zeit hatte Lenin dreißig Jahre, Trotzki zwanzig Jahre für das Proletariat gearbeitet. Die früheren Misshelligkeiten aus der Vorkriegszeit waren vollständig verschwunden. Keine Unterschiede gab es mehr zwischen der taktischen Haltung Lenins und der Trotzkis. Die Vereinigung, die sich schon während des Krieges bemerkbar gemacht hatte, war eine vollständige und endgültige geworden von dem Augenblick an, da Trotzki nach Russland zurückkehrte. Bei seiner ersten Rede fühlten wir alten Leninisten alle, dass er einer der Unsrigen war."

Dieses Zeugnis Raskolnikows über die Beziehungen zwischen Lenin und Trotzki hindert ihn natürlich nicht, in gehässiger Weise einen Brief an Tscheidse, einen Führer der Menschewisten, zu zitieren, in dem ich – es war 1912, zur Zeit meines heftigsten Disputs mit Lenin – diesen scharf angriff.

Ich muss noch hinzufügen, dass Raskolnikow mich oft während seiner Tätigkeit in den Sommermonaten des Jahres 1917 traf. Er brachte mich im Wagen nach Kronstadt, wandte sich oft an mich um Rat, hielt mit mir lange Unterredungen im Gefängnis usw. Seine Erinnerungen haben daher eine unschätzbare Beweiskraft, während seine späteren „Verbesserungen" weiter nichts sind, als die Arbeit eines Fälschers, der auf Befehl seinen Auftrag erfüllt.

Mai bis Oktober 1917.

Eine Reihe von Dokumenten, die die Bolschewisten im Mai, Juni und Juli 1917 herausbrachten, sind von mir oder mit mir zusammen geschrieben worden. Hierzu gehören zum Beispiel die Erklärung der bolschewistischen Fraktion des ersten Sowjetkongresses zu dem beabsichtigten Vorgehen an der Front, der Brief an das Exekutivkomitee der bolschewistischen Partei in den Tagen der Junidemonstration und andere. Ich bin zufällig auf eine ganze Anzahl von bolschewistischen Resolutionen aus dieser Zeit gestoßen, die ich ganz oder zum Teil geschrieben habe. In allen meinen Reden, auf allen Versammlungen habe ich mich mit den Bolschewisten solidarisch erklärt.

Einer der „marxistischen Historiker" des neuen Stils versuchte unlängst, zwischen mir und Lenin Zwistigkeiten wegen des verunglückten Juliaufstandes zu entdecken. Solche Leute wollen natürlich auch ihr Scherflein zu dem allgemeinen Verleumdungsfeldzug beitragen, weil sie hoffen, dafür hundertfältig belohnt zu werden. Man muss ein Gefühl des Ekels überwinden, um solche Fälschungen auch nur zurückzuweisen. Ich werde keine Erinnerungen zitieren. Ich begnüge mich mit Dokumenten. In meiner Erklärung an die damalige vorläufige Regierung schrieb ich:

Ich teile die grundsätzlichen Ansichten Lenins, Sinowjews und Kamenews und habe sie in meiner Zeitung und überhaupt in allen meinen öffentlichen Reden vertreten…

Dass ich nicht an der Redaktion der Prawda teilnehme und nicht zur bolschewistischen Organisation gehöre, hat nichts mit politischen Differenzen zu tun, sondern kommt aus Verhältnissen unserer Parteigeschichte, die jetzt jede Bedeutung verloren haben."

Aus Anlass des Juliaufstandes berief der sozialrevolutionär-menschewistische Vorstand eine Versammlung des Zentralexekutivkomitees. Die bolschewistische Fraktion lud mich ein, ihre Erklärung über die neue Lage und über die Probleme der Partei abzugeben. Es geschah das vor meinem formellen Beitritt zur Partei und trotz der Tatsache, dass Stalin zum Beispiel sich damals in Petrograd befand. Die „marxistischen Historiker" des neuen Stils existierten damals noch nicht, und die versammelten Bolschewisten stimmten einmütig den Grundgedanken meiner Erklärung über den Juliaufstand und die Probleme der Partei zu. Es gibt gedruckte Zeugnisse dafür, besonders in den Erinnerungen N. I. Muralews.

Lenin litt, wie wohl bekannt ist, nicht gerade an einem gutmütigen Vertrauen auf Menschen, wenn er unter schwierigen Umständen auf deren politische Gesinnung oder Haltung angewiesen war, und eine solche Gutmütigkeit lag ihm völlig fern gegenüber Revolutionisten, die in einer früheren Periode außerhalb der Reihen der bolschewistischen Partei gestanden hatten. Es war der Juliaufstand, der alle Überbleibsel der alten, trennenden Linien niederriss. In seinem Briefe über die Liste der bolschewistischen Kandidaten für die konstituierende Versammlung schrieb Wladimir Iljitsch:

Wir können uns nicht eine so übermäßige Anzahl von Kandidaten mit geringer Erfahrung gestatten, die, wie U. Larin, sich gerade erst der Partei angeschlossen haben. Wir müssen die Liste darauf hin noch einmal durchsehen und verbessern …

Selbstverständlich würde sich zum Beispiel niemand einer solchen Kandidatur, wie der L. D. Trotzkis, widersetzen, denn zunächst einmal hat Trotzki vom Tage seiner Ankunft an sofort eine internationale Stellung eingenommen; zweitens kämpfte er unter den Meschrajonzi für eine Vereinigung mit den Bolschewisten; und drittens zeigte er sich in den schwierigen Julitagen auf der Höhe seiner Aufgabe als ein glühender Verteidiger der Partei des revolutionären Proletariats. Es ist einleuchtend, dass das für die Mehrzahl der jüngeren Parteimitglieder, die in der Liste erscheinen, nicht gesagt werden kann."

Die Frage unserer Stellung zu dem Vorparlament, zu dem Versuch der zusammenbrechenden halb bürgerlichen Regierung der Menschewisten und Sozialrevolutionäre, sich durch eine Entscheidung der demokratischen Konferenz noch einmal auf einen Kompromiss aller Parteien zu stützen, wurde in Lenins Abwesenheit entschieden. Ich erschien als Sprecher für diejenigen Bolschewisten, die das Vorparlament boykottieren wollten. Die Majorität der bolschewistischen Fraktion auf jener demokratischen Konferenz stimmte, wie wohlbekannt ist, gegen den Boykott. Lenin trat entschieden für die Minorität ein. Er schrieb folgendes über die Angelegenheit:

Wir müssen das Vorparlament boykottieren. Wir müssen den Sowjet der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernvertreter verlassen und zu den Gewerkschaften, zu den Massen im Allgemeinen gehen. Wir müssen sie zum Kampf aufrufen. Wir müssen ihnen die klare und ehrliche Losung geben: Zerstreut die Bonapartistenbande Kerenskis, mit seinem falschen Vorparlament, mit seiner Zeretelli-Bulyginski-Duma. Die Menschewisten und Sozialrevolutionäre haben unseren Kompromissvorschlag einer friedlichen Übergabe der Gewalt an die Sowjets abgelehnt, obgleich wir damals darin nicht die Majorität hatten. Sie versanken wieder in den Sumpf schmutzigen Verhandelns mit den Kadetten. Nieder mit den Menschewisten und Sozialrevolutionären! Beginnt einen rücksichtslosen Kampf gegen sie!

Treibt sie ohne Erbarmen aus allen revolutionären Organisationen. Keine Verbindungen, keine Verhandlungen mit diesen Freunden der Grundeigentümer und Kapitalisten."

Und am 23. September schrieb Lenin:

Trotzki war für den Boykott. Bravo, Genosse Trotzki!

Der Boykott ist von der bolschewistischen Fraktion auf der Tagung der demokratischen Konferenz abgelehnt worden. Es lebe der Boykott!"

Mein Anteil an der Oktoberrevolution

Über meine Teilnahme an der Oktoberrevolution kann man in den Anmerkungen zum 14. Band der Gesammelten Werke Lenins folgendes lesen:

Als die Mehrheit des Petersburger Sowjets in die Hände der Bolschewisten gelangt war, wurde Trotzki zum Vorsitzenden gewählt und organisierte und leitete in dieser Stellung den Aufstand vom 25. Oktober."

Wie viel hiervon wahr und wie viel falsch ist, das mag das Büro für Parteigeschichte – wenn nicht das gegenwärtige, dann ein zukünftiges – entscheiden. Genosse Stalin hat vor kurzem klar und deutlich die Wahrheit dieser Versicherung bestritten. Er erklärte in seiner Schrift über „Trotzkismus und Leninismus":

Ich muss sagen, dass Genosse Trotzki bei dem Oktoberaufstand keine besondere Rolle spielte und auch nicht spielen konnte, da er als Vorsitzender des Petrograder Sowjets einfach den Willen der entsprechenden Parteiautorität ausführte, die jeden seiner Schritte leitete."

Und weiter erklärte er:

Genosse Trotzki spielte keine besondere Rolle weder im Parteileben, noch im Oktoberaufstand, und er konnte es auch nicht, da er in der Oktoberperiode noch ein verhältnismäßig neuer Mann in der Partei war."

Indem Stalin dieses Zeugnis gab, vergaß er ganz, was er selbst am 6. November 1918 gesagt hatte – also am ersten Jahrestag der Revolution, als die Tatsachen und Ereignisse sich noch frisch in der Erinnerung aller befanden. Schon damals hatte Stalin begonnen, gegen mich zu arbeiten. Aber er war zu jener Zeit noch gezwungen, seinen Kampf gegen mich viel vorsichtiger und heimlicher zu führen, als er es jetzt zu tun braucht. Hier steht, was er damals unter dem Titel „Die Rolle der am meisten hervorragenden Parteiführer" in der Prawda geschrieben hat:

Das gesamte Werk der praktischen Organisation des Aufstandes wurde unter der unmittelbaren Leitung des Vorsitzenden der Petrograder Sowjets, des Genossen Trotzki geführt. Man kann mit Sicherheit erklären, dass die Partei den schnellen Übergang der Garnison auf die Seite der Sowjets und die kühne Ausführung der Arbeit des revolutionären Soldatenkomitees hauptsächlich und vor allem dem Genossen Trotzki verdankt."

Es erscheint heute ganz unglaubhaft, dass diese Worte, die durchaus keine lobende Übertreibung sein sollten – im Gegenteil, Stalins Absicht war damals eine ganz andere, aber ich will dabei nicht verweilen –, dass diese Worte von den Lippen Stalins gekommen sind.

Es ist einmal gesagt worden, dass ein wahrheitsliebender Mann den Vorteil hat, sich auch bei einem schlechten Gedächtnis nie zu widersprechen. Ein verlogener, gewissenloser und unehrlicher Mann muss sich, um sich nicht zu beschämen, immer dessen erinnern, was er früher einmal gesagt hat.

Genosse Stalin versucht mit Hilfe Jaroslawskis jetzt, eine neue Geschichte der Organisation des Oktoberumsturzes auf der Tatsache aufzubauen, dass die Partei damals ein „tätiges Komitee für die planmäßige Durchführung des Aufstandes" geschaffen hatte, zu dessen Mitgliedern, wie es scheint, Trotzki nicht gehörte. Lenin war aber auch kein Mitglied dieses Komitees, und dies allein zeigt schon, dass der Komitee nur eine ganz untergeordnete organisatorische Bedeutung hatte. Er spielte überhaupt keine unabhängige Rolle. Die Legende von diesem Komitee ist heute auch nur aus dem einfachen Grunde geschaffen worden, weil Stalin dessen Mitglied war. Ich gebe hier die Namen der Mitglieder: Swerdlow, Stalin, Dserschinski, Bubnow, Uritzki. So wenig angenehm es ist, in altem Kehricht zu wühlen, so erscheint es mir, als einem genügend vertrauten Teilnehmer und Zeugen jener Ereignisse, doch notwendig, folgendes festzustellen:

Die Rolle Lenins bedarf natürlich keiner Beleuchtung. Swerdlow traf ich häufig, und ich wandte mich oft an ihn, wenn ich Rat brauchte oder Menschen, die mir helfen sollten. Genosse Kamenew, der damals eine zögernde und für die Bewegung schädliche Haltung einnahm, deren Verkehrtheit er schon längst anerkannt hat, beteiligte sich dann an den eigentlichen Ereignissen der Revolution doch sehr tätig. Die entscheidende Nacht vom 25. zum 26. Oktober verbrachten Kamenew und ich im Quartier des revolutionären Soldatenkomitees, indem wir Anfragen beantworteten und am Telefon Befehle austeilten. Aber wenn ich mein Gedächtnis auch noch so anstrengte, ich könnte nicht die Frage beantworten, worin in diesen entscheidenden Tagen die Rolle Stalins bestanden hat. Nicht ein einziges Mal habe ich mich an ihn um Rat oder Mitarbeit gewandt. Er zeigte aber auch nicht die leiseste Initiative. Nie hat er einen selbständigen Vorschlag gemacht. Diese Tatsachen kann kein „marxistischer Historiker" des neuen Stils ändern.

Stalin und Jaroslawski haben, wie ich im Vorstehenden schon sagte, mit vieler Mühe zu beweisen versucht, dass das von der Partei eingesetzte, aus den Genossen Swerdlow, Stalin, Dscherschinski, Bubnow und Uritzki bestehende tätige Komitee sozusagen den ganzen Verlauf des Aufstandes geleitet habe. Stalin hat in jeder ihm möglichen Art darauf hingewiesen, dass Trotzki kein Mitglied jenes Komitees gewesen sei. Aber leider erschien infolge einer Unachtsamkeit der Stalinschen Historiker in der Prawda vom 2. November 1927 – das heißt, als dieser ganze Brief von mir schon geschrieben war – ein genauer Auszug von dem Bericht, den das Zentralkomitee über die Zeit vom 16. bis zum 29. Oktober 1917 gegeben hat.

Der Zentralkomitee schafft ein militärisches revolutionäres Zentrum mit den folgenden Mitgliedern:

Swerdlow, Stalin, Bubnow, Uritzki und Dserschinski. Dieses Zentrum soll ein wesentlicher Teil des revolutionären Sowjetkomitees sein."

Das revolutionäre Sowjetkomitee ist das durch das Petrograder Sowjet geschaffene militärisch revolutionäre Komitee. Es bestand kein anderes Organ für die Führerschaft im Aufstand. Jene fünf, durch den Zentralkomitee gewählten Genossen sollten als Ergänzung in den Stab desselben revolutionären Soldatenkomitees eintreten, dessen Vorsitzender Trotzki war. Überflüssig wäre es doch wohl gewesen, Trotzki noch einmal in den Stab einer Organisation aufzunehmen, dessen Vorsitzender er bereits war! Ja, es ist schwer, Geschichte zu korrigieren, wenn sie schon beendet ist!

11. November 1927.


Ich schrieb in Brest eine kurze Beschreibung der Oktoberrevolution. Dieses Buch hat in den verschiedensten Sprachen eine große Anzahl von Auflagen gehabt. Niemand hat mir je gesagt, dass in dem Buch eine auffällige Lücke vorhanden ist – nämlich, dass es nirgendwo auf den Hauptleiter des Aufstandes, auf „das militärisch revolutionäre Zentrum", dessen Mitglieder Stalin und Bubnow waren, hinweist. Wenn ich mich so schlecht der Geschichte des Oktoberaufstandes erinnerte, warum hat mich nie jemand aufgeklärt? Warum wurde mein Buch unbehelligt in den ersten Jahren der Revolution in allen staatlichen Parteischulen studiert?

Selbst im Jahre 1922 schien das Organisationsbüro der Partei der Ansicht zu sein, ich verstünde doch wohl ziemlich viel von der Geschichte der Oktoberrevolution. Hier ist eine kleine, aber vielsagende Anerkennung:

Nr. 14302 Moskau, den 24. Mai 1922

An Genosse Trotzki:

Auszug aus dem Bericht der Sitzung des Organisationsbüros des Zentralkomitees vom 22. Mai 1922, Nr. 21.

Auftrag an Genosse Jakowlew vom 1. Oktober, unter der redaktionellen Leitung von Genosse Trotzki ein Lehrbuch der Geschichte der Oktoberrevolution zu schreiben.

Das Sekretariat der Unterabteilung für Propaganda."

Dies geschah im Mai 1922. Und dabei waren meine Bücher über das Jahr 1905 und über die Oktoberrevolution schon vor dieser Zeit erschienen und dem Organisationsbüro – dessen Leiter schon damals Stalin war – wohlbekannt. Trotzdem hielt es das Organisationsbüro für notwendig, mir die Aufgabe der Redaktion des Schulbuchs über die Geschichte der Oktoberrevolution zu übertragen. Wie kam das? Es kam daher, weil die Augen Stalins und der Stalinisten sich für den „Trotzkismus" erst geöffnet haben, als die Augen Lenins für immer geschlossen waren.

Verlorene Dokumente

Kurz nach der Oktoberrevolution bildeten sich unter den Führern der Partei scharfe Meinungsverschiedenheiten über unsere Beziehungen zu den andern „sozialistischen Parteien". Es handelte sich vor allem um die Frage, ob wir eine einheitliche bolschewistische Regierung oder eine Verbindung mit den Menschewisten und Sozialrevolutionären bilden sollten. Am 14. November sprach Lenin über diese Frage auf der Versammlung des Petrograder Komitees. Die Berichte der Zentralkomiteeversammlungen vom Jahre 1917 wurden am zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution veröffentlicht. Ursprünglich befand sich auch der Bericht über diese Versammlung vom 14. November darunter, und in dem ersten Probeabzug des Inhaltsverzeichnisses war er aufgeführt. Aber dann wurde der Bericht vom 14. November auf höheren Befehl entfernt und vor der Partei verheimlicht. Der Grund ist leicht zu verstehen. Über die Koalitionsfrage sagte nämlich Lenin zum Komitee folgendes:

Was eine Koalition angeht, so kann ich darüber nicht einmal ernstlich sprechen. Trotzki hat schon vor langer Zeit gesagt, dass eine Verbindung unmöglich sei. Trotzki begriff das, und von jener Zeit an hat es keinen besseren Bolschewisten gegeben."

Die Rede schloss mit der Losung:

Kein Kompromiss! Eine einheitlich bolschewistische Regierung."

Wie erzählt wird, kam der Befehl zur Entfernung dieses Berichts vom Büro für Parteigeschichte, und zwar mit der Erklärung, die Rede Lenins sei „offenbar" falsch wiedergegeben worden. Sicherlich ist eins wahr, nämlich, dass die Rede Lenins nicht mit der Geschichte der Oktoberrevolution, wie sie jetzt geschrieben wird, übereinstimmt.

Übrigens zeigt auch gerade dieser Bericht über die Versammlung des Petersburger Komitees, wie sich Lenin zur Frage der Disziplin stellte, sobald man hinter dieser Disziplin eine ausgesprochen opportunistische Politik verstecken wollte. Nach der Rede des Genossen Fenigstein erklärte Lenin:

Wenn ihr eine Spaltung wollt, dann führt sie durch. Wenn ihr die Mehrheit bekommt, dann ergreift die Macht im Zentralkomitee und geht weiter. Wir aber werden zu den Matrosen gehen."

Gerade durch diese kühne, entschlossene und unnachgiebige Haltung rettete Lenin die Partei vor einer Spaltung.

Eiserne Disziplin, jawohl! Aber auf der Grundlage einer revolutionären Politik!

Am 4. April sagte Lenin auf einer Parteikonferenz, dessen Bericht Stalin vor der Partei verbirgt:

Selbst unsere Bolschewisten zeigen Vertrauen zur provisorischen Regierung. Offenbar sind sie betäubt von dem Rausch der Revolution. Aber das ist das Ende der Revolution. Ihr, Genossen, habt also Vertrauen zu dieser Regierung. Wenn das wirklich so ist, dann können wir nicht mehr zusammenarbeiten."

Und weiter sagte er:

Ich höre, dass eine Tendenz zur Koalition in Russland herrscht, zu einer Koalition mit den Anhängern der nationalen Verteidigung. Das ist ein Verrat am Sozialismus. Ich halte es für besser, allein zu bleiben, wie Liebknecht – einer gegen hundertzehn"

Warum drückte sich Lenin so drastisch aus – einer gegen hundertzehn? Weil auf der Märzkonferenz von 1917 die Tendenzen nach einem halben Kompromiss sehr stark waren.

Stalin war auf jener Konferenz für die Resolution des Krasnojarsker Sowjets, welcher vorschlug:

Unterstützt die provisorische Regierung in ihrem Vorgehen nur soweit, als sie die Forderungen der Arbeiterklasse und der revolutionären Bauernschaft in der sich entwickelnden Revolution befriedigt."

Aber noch mehr: Stalin trat für eine Koalition mit Zeretelli, dem Führer der Menschewisten ein. Hier ist ein genauer Auszug aus einem Bericht über die Konferenz:

Auf der Tagesordnung der Antrag Zeretellis für eine Koalition.

Stalin: „Wir müssen darauf eingehen. Es ist notwendig, unsere Bedingungen zu einer solchen Koalition festzulegen. Eine Koalition wäre auf der Linie Zimmerwald-Kienthal möglich."

Auf den Einwurf verschiedener Mitglieder der Konferenz, dass eine solche Koalition doch sehr buntscheckig sein würde, antwortete Stalin:

Es hat keinen Zweck, schon vorzeitig Meinungsverschiedenheiten vorzubringen. Meinungsverschiedenheiten gibt es immer im Parteileben. Wir werden aber geringe Meinungsverschiedenheiten schon innerhalb der Partei überwinden."

Meinungsverschiedenheiten mit Zeretelli betrachtet Stalin als geringfügig. In seinen Beziehungen zu den Anhängern Zeretellis war Stalin für weitherzige Demokratie. „Meinungsverschiedenheiten gibt es immer im Parteileben", sagte er.

Nun, Genossen, die ihr Leiter im Büro für Parteigeschichte seid, erlaubt mir eine Frage an euch: Warum sind die Berichte über die Parteikonferenz vom März 1917 bis jetzt noch immer nicht veröffentlicht worden? Ihr überschwemmt das Land mit Fragebogen, die von Rubriken und Zahlen wimmeln. Ihr sammelt alle möglichen Kleinigkeiten, manchmal solche ohne jeden Wert. Warum verbergt ihr die Berichte über die Märzkonferenz, die eine monumentale Bedeutung für die Geschichte unserer Partei haben? Diese Berichte enthüllen die Haltung der leitenden Elemente der Partei am Vorabend von Lenins Rückkehr nach Russland. Im Sekretariat des Zentralkomitees und im Vorstand des Zentralkontrollkomitees habe ich wiederholt die Frage gestellt: Warum verbirgt das Büro für Parteigeschichte vor der Partei ein Dokument von so außerordentlicher Bedeutung? Das Dokument ist euch bekannt, es ist in eurem Besitz. Ihr veröffentlicht es aus dem einfachen Grunde nicht, weil es ein grelles Licht auf die politische Haltung Stalins von Ende März und Anfang April wirft, also von jener Zeit, als Stalin ganz selbständig eine politische Betätigung versuchte.

In seiner angeführten Rede auf der Konferenz vom 4. April sagte Lenin:

Die Prawda verlangt von der Regierung, dass sie von Annexionen zurücktritt. Unsinn. Offenbarer Hohn des…"

Der Bericht ist nicht herausgekommen. Es ist hier eine Lücke. Aber der allgemeine Gedanke und die allgemeine Richtung der Rede sind ganz klar. Einer der Redakteure der Prawda war Stalin. Stalin schrieb in der Prawda halb patriotische Artikel und trat für die provisorische Regierung ein, „so weit sie" usw. Mit Vorbehalten begrüßte Stalin das Manifest Kerenskis und Zeretellis an das Volk – ein verlogenes, sozialpatriotisches Dokument, das bei Lenin nur Unwillen auslöste.

Das ist der Grund, und es ist der einzige Grund, warum ihr Genossen vom Büro für Parteigeschichte den Bericht über die Konferenz vom März 1917 nicht veröffentlicht, sondern ihn vor der Partei versteckt.

Ich habe die Rede Lenins auf der Sitzung des Petersburger Komitees vom 14. November zitiert. Wo ist der Bericht über diese Sitzung veröffentlicht worden? Nirgends. Und warum? Weil ihr es verboten habt. Soeben ist eine Sammlung von Protokollen des ersten legalen Petersburger Komitees vom Jahre 1917 erschienen. Der Bericht über die Sitzung vom 14. November hat sich anfänglich in dieser Sammlung befunden und war auch in dem Inhaltsverzeichnis aufgeführt. Aber dann wurde, wie ich schon sagte, auf dem Büro für Parteigeschichte der Bericht aus dem Buche entfernt, und zwar mit der merkwürdigen Erklärung, dass „offenbar" die Rede Lenins bei der Niederschrift durch den Sekretär falsch wiedergegeben sei. Worin besteht nun diese „offenbar" falsche Wiedergabe? Sie besteht darin, dass Lenins Worte aufs Schärfste die falschen Behauptungen der jetzigen historischen Schule der Stalin und Jaroslawski in Bezug auf Trotzki widerlegen. Jeder, der die Sprechart Lenins kennt, wird ohne Bedenken die Echtheit der ihm zugeschriebenen Worte anerkennen. Hinter den Leninschen Worten über das Kompromiss, hinter seiner Drohung: „Wir werden zu den Matrosen gehn!" fühlt man deutlich den lebendigen Lenin jener Tage. Ihr verbergt ihn vor der Partei. Warum? Wegen seines Urteils über Trotzki. Nur deshalb.

Die Berichte über die Märzkonferenz vom Jahre 1917 verbergt ihr, weil sie Stalin bloßstellen. Den Bericht über die Sitzung vom 14. November verbergt ihr, weil er euer Fälschungswerk gegen Trotzki stört.

Die zwei Meinungen Jaroslawskis

Neun Zehntel seiner Verleumdungen und Fälschungen widmet Jaroslawski dem Schreiber dieser Zeilen, und es würde schwer sein, sich dümmere und zugleich verächtlichere Lügen auszudenken. Aber man darf sich nicht einbilden, dass Jaroslawski immer so geschrieben hat. Er hat einmal ganz anders geschrieben. Es waren genau dieselben knalligen Worte, es war genau derselbe schlechte Geschmack, aber die Richtung war eine ganz entgegengesetzte. Im Frühjahr 1923 schrieb Jaroslawski einen Aufsatz über die Anfänge meiner politischen Tätigkeit. Der Aufsatz triefte so von schreienden Lobsprüchen, dass man ihn fast nicht lesen konnte. Nur mit Überwindung kann man daraus zitieren, aber es ist notwendig. Als Inquisitor der Partei macht es Jaroslawski ein wollüstiges Vergnügen, Kommunisten ins Kreuzverhör zu nehmen, die das Verbrechen begangen haben, das Testament Lenins, die Briefe Lenins über die nationale Frage und andere illegale Dokumente, in denen Lenin Stalin zu kritisieren wagte, zu verbreiten. Heute wollen wir Jaroslawski ins Kreuzverhör nehmen.

Die glänzende literarisch-publizistische Tätigkeit des Genossen Trotzki", so schrieb Jaroslawski 1923 in den „Sibirischen Feuern", „haben ihm den weltbekannten Namen des „Fürsten der Journalisten" erworben. Der englische Schriftsteller Bernhard Shaw nannte ihn so. Wer seine Tätigkeit im Verlauf eines Vierteljahrhunderts verfolgt hat, erkennt deutlich, wie sich seine Begabung als Flugschriftenschreiber und Polemiker allmählich entwickelt hat, wie es heranwuchs und in den Jahren unserer proletarischen Revolution zu einer glänzenden Blüte kam. Aber schon im Anfang seiner Tätigkeit war es klar zu sehen, welch ein tiefes Talent wir in ihm hatten. Alle seine Zeitungsartikel sprühten von Feuer, sie besaßen Anschaulichkeit und Farbe. Und dabei waren sie unter den eisernen Krallen der zaristischen Zensur geschrieben, die einen freien Gedanken und eine freie Form für jeden unmöglich machten, der diesen Krallen entgehen und sich doch über die Durchschnittsansichten erheben wollte. Aber so groß waren die heranreifenden unterirdischen Kräfte, so stark fühlte man den Herzschlag des erwachenden Volkes, so scharf waren die Widersprüche der Entwicklung, dass alle Zensoren der Welt nicht die Schaffenskraft einer solchen ausgesprochenen Persönlichkeit, wie es damals schon L. D. Trotzki war, hätten unterdrücken können.

Sicherlich haben viele die weitverbreitete Photographie des jungen Trotzki gesehen, aus der Zeit seiner ersten Verbannung nach Sibirien – diesen Kopf mit dem wilden Haar, mit den charakteristischen Lippen und den gewölbten Augenbrauen. Unter dem dichten Haar dieses Kopfes, hinter den gwölbten Augenbrauen wirbelte ein gewaltiger Strom von Ideen, Gedanken und Gefühlen – die manchmal den Genossen Trotzki etwas von der breiten Straße der Geschichte abbrachten, die ihn manchmal zwangen, einen langen Umweg zu machen, oder auch in anderen Fällen ihn antrieben, furchtlos einen Weg zu gehen, von dem ihm alle abrieten. Aber bei all seinem Suchen blieb er immer voll tiefer Hingabe für die Sache der Revolution, ein geborener Volksredner mit einer scharfen und doch geschmeidigen Zunge, die mit jedem Feinde fertig wurde, und mit einer Feder, die wie Perlen die Reichtümer seiner Gedanken verstreute."

Und weiter sagt Jaroslawski: „Die uns zur Verfügung stehenden Artikel umfassen eine Periode von mehr als zwei Jahren – die Zeit vom 15. Oktober 1900 bis zum 12. September 1902. Die sibirischen Genossen lasen mit Entzücken diese brillanten Artikel und erwarteten ungeduldig ihr Erscheinen. Wenige wussten, wer ihr Verfasser war, und die, die ihn kannten, hätten wohl in jenen Tagen nie daran gedacht, dass er einer der anerkannten Führer der revolutionärsten Armee und der größten Revolution der Welt sein würde."

Und so schloss er: „Seinen Protest gegen den Pessimismus der müde gewordenen russischen Intelligenz erhob Genosse Trotzki später. Nicht in Worten, sondern in Taten erhob er ihn, Schulter an Schulter mit dem revolutionären Proletariat der großen proletarischen Revolution. Dazu war eine gewaltige Kraft erforderlich. Das sibirische Dorf hatte diese Kraft nicht in ihm zerstört. Es stärkte ihn nur noch mehr in den Entschluss, gründlich bis zur Wurzel mit diesen ganzen Verhältnissen zu brechen, unter denen die von ihm geschilderten Dinge möglich waren."

Obgleich der Genosse Jaroslawski sich in einigen seiner Einschätzungen um 180 Grad gedreht haben mag, so muss man doch gestehen, dass er in einer Hinsicht sich gleich geblieben ist: Er ist ebenso unerträglich in seiner Beschimpfung wie in seinem Lob.

Die zwei Meinungen Olminskis und Lunatscharskis

Unter den Bekämpfern des „Trotzkismus" hat Olminski eine ziemlich bedeutende Rolle gespielt. Er wandte sich mit besonderem Eifer, wie ich mich erinnere, gegen mein ursprünglich in deutscher Sprache erschienenes Buch „1905". Aber Olminski hat über dieses Buch zwei Meinungen gehabt: eine in den Tagen Lenins, eine in den Tagen Stalins. Im Oktober 1921 schlug irgend jemand vor, mein Buch „1905" auf russisch herauszubringen. Olminski schrieb mir darüber folgenden Brief:

Lieber Leo Davidowitsch!

Das Büro für Parteigeschichte wird natürlich entzückt sein, Ihr Buch auf Russisch herauszubringen, aber es entsteht die Frage: Wer soll es übersetzen? Man kann doch nicht den ersten besten Menschen ein Buch von Trotzki übersetzen lassen! Die ganze Schönheit und Persönlichkeit des Stils würde verloren gehen. Vielleicht wäre es Ihnen möglich, eine Stunde täglich von Ihrer für den Staat so wichtigen Arbeit für diese Arbeit – die ja schließlich für den Staat ebenfalls von Wichtigkeit ist – zu erübrigen und den russischen Text einer Stenographin zu diktieren.

Noch eine andere Frage: Warum beginnen Sie nicht, eine vollständige Ausgabe Ihrer literarischen Arbeiten vorzubereiten? Wir könnten sehr leicht jemand mit der dazu nötigen Arbeit beauftragen. Es ist Zeit, damit anzufangen. Die neue Generation, die die Parteigeschichte nicht so kennt, wie sie es sollte, und in den älteren und neueren Schriften der Parteiführer wenig bewandert ist, gerät immerzu aus dem Geleise. Ich übersende Ihnen das Buch in der Hoffnung, dass es bald in einem russischen Text zum Büro zurückkommt.

Mit den besten Wünschen

10. Oktober 1921."

M. Olminski.

So schrieb Olminski Ende 1921 – also lange nach den Meinungsverschiedenheiten wegen des Brest-Litowsker Friedens und der Gewerkschaften – Meinungsverschiedenheiten, denen Olminski und Genossen jetzt eine so übertriebene Bedeutung beizulegen versuchen. Im Herbst 1921 hielt Olminski die russische Herausgabe des „1905" für eine Arbeit von staatlicher Wichtigkeit. Olminski war auch der Anreger zur Veröffentlichung meiner gesamten Werke, die er zur Erziehung der Parteimitglieder für nötig hielt. Im Herbst 1921 war aber der jetzt neunzigjährige Olminski kein Kind. Er kannte die Vergangenheit. Meine Meinungsverschiedenheiten mit dem Bolschewismus waren ihm besser bekannt, als irgendeinem anderen Menschen. Er selbst hatte ja mit mir in alten Tagen polemisiert. Alles dieses hinderte ihn aber nicht, im Herbst 1921 auf die Herausgabe einer vollständigen Sammlung meiner Werke im Interesse der Erziehung der Parteijugend zu bestehen. War vielleicht Olminski 1921 ein „Trotzkist"?

Genosse Lunatscharski erscheint jetzt ebenfalls unter den „Entlarvern" der Opposition. Wie die andern klagt er uns des Pessimismus und des mangelnden Vertrauens an. Diese Rolle steht Lunatscharski besonders gut.

Wie die andern begnügt sich Lunatscharski nicht damit, Leninismus und „Trotzkismus" in Gegensatz zu stellen, sondern er bewirft uns auch in einer kaum verhüllten Form mit persönlichen Verdächtigungen. Wie gewisse andere versteht es auch Lunatscharski, über ein und dieselbe Frage sowohl lobend wie tadelnd zu schreiben. 1923 gab er ein kleines Buch heraus: „Revolutionäre Silhouetten". Ein Kapitel in dem Buch ist mir gewidmet. Ich will dieses Kapitel wegen der Überschwänglichkeit seines Lobes zitieren, und zwar werde ich nur zwei Stellen herausnehmen, in denen Lunatscharski über meine Haltung gegenüber Lenin spricht:

Trotzki ist eine leicht gereizte, gebietende Persönlichkeit. Nur in seinem Verhältnis zu Lenin zeigte Trotzki seit seiner Einigung mit ihm immer eine verehrende, rührende Hingabe, und mit einer Bescheidenheit, die ein Kennzeichen wirklicher Größe ist, erkannte er Lenins höhere Autorität an." Und ein paar Zeilen vorher:

Als Lenin, wie wir fürchteten, tödlich verwundet dalag, drücke keiner unsere Gefühle gegen ihn besser aus als Trotzki. In dem schrecklichen Sturm der Weltereignisse sagte Trotzki, der andere Führer der russischen Revolution, der doch durchaus nicht zur Sentimentalität neigte: ,Wenn man denkt, Lenin könnte jetzt sterben, so erscheint das Leben von uns allen wertlos, und man möchte aufhören, weiter zu leben'."

Was sind das nun für Menschen, die wie bezahlte Sekretäre bald so und bald so schreiben können?

Die Debatten über Brest-Litowsk und die Gewerkschaften

Was ich mit Beispielen aus dem Jahre 1917 nachgewiesen habe, könnte ich auch weiterhin aus allen den folgenden Jahren aufweisen. Ich behaupte nicht, dass es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin und mir gegeben hat. Es gab deren. Die Meinungsverschiedenheiten über den Frieden von Brest-Litowsk dauerten mehrere Wochen und nahmen für einige Tage einen scharfen Charakter an. Der Versuch aber, diese Meinungsverschiedenheiten als eine Folge meiner angeblichen Geringschätzung des Bauerntums hinzustellen, ist lächerlich und kann nur in der Absicht geschehen sein, mir jetzt nachträglich die Bucharinschen Ansichten, mit denen ich nichts zu tun hatte, aufzubürden. Ich habe auch nicht einen Augenblick daran gedacht, 1917 und 18 die Massen der Bauern zu einem revolutionären Krieg aufzurufen. In der Beurteilung der Stimmung, wie sie unter den Massen der Arbeiter und Bauern nach dem imperialistischen Kriege bestand, war ich mit Lenin völlig einig. Ich habe zwar darauf bestanden, den Augenblick der Kapitulation vor den Hohenzollern solange wie möglich hinauszuschieben. Aber das tat ich nicht, um einen revolutionären Krieg hervorzurufen, sondern um den deutschen und überhaupt den europäischen Arbeitermassen zu zeigen, dass es zwischen uns und den Hohenzollern keine geheimen Abmachungen gab, und um die Arbeiter Deutschlands und Österreichs zu einer größeren revolutionären Tätigkeit anzuspornen. Zu dem Beschluss, den Kriegszustand als beendet anzusehen, ohne dabei den Gewaltfrieden zu unterschreiben, kamen wir dann, weil wir prüfen wollten, ob die Hohenzollern noch fähig seien, einen Krieg gegen die Revolution zu führen. Dieser Beschluss wurde von der Mehrheit unseres Zentralkomitees angenommen. Lenin betrachtete den Beschluss als ein kleineres Übel, da ein bedeutender Teil der führenden Kommunisten für den von Bucharin propagierten revolutionären Krieg war, wobei sie die Stimmung der Arbeiter und Bauern völlig ignorierten. Nach der Unterschrift unter den Friedensvertrag mit den Hohenzollern war die vorübergehende Meinungsverschiedenheit mit Lenin erledigt, und unsere beiderseitige Arbeit ging im besten Einvernehmen weiter. Bucharin aber machte aus seinen Brester Differenzen einen großen Kampf gegen den „linken Kommunismus", zu dem ich gar keine Beziehungen hatte.

Noch immer gibt es kluge Leute, die sich über die Losung „Weder Krieg noch Frieden!" nicht beruhigen können. Diese Losung scheint ihnen einen Widerspruch in sich zu enthalten, während es doch oft, sowohl zwischen den Klassen, wie zwischen den Staaten zu einem Zustande kommt, der weder ein Krieg noch ein Frieden ist. Man braucht nur daran zu denken, dass einige Monate nach Brest, als sich die revolutionäre Lage in Deutschland ziemlich geklärt hatte, wir einfach den Brester Frieden als ungültig erklärten, aber durchaus nicht an einen Krieg mit Deutschland dachten. Auch mit den Ententestaaten hatten wir in den ersten Jahren der Revolution weder Krieg noch Frieden, und im Grunde besteht zwischen uns und England auch heute noch dasselbe Verhältnis. Zu der Zeit der Brester Verhandlungen kam schließlich alles auf die Frage an, ob in Deutschland im Anfang des Jahres 1918 sich die revolutionären Verhältnisse schon so weit entwickelt hätten, dass wir, ohne weiter Krieg zu führen – denn eine Armee besaßen wir ja gar nicht mehr –, trotzdem den Frieden nicht zu unterschreiben brauchten.

Die Erfahrung hat dann gezeigt, dass Lenin im Recht war: Eine solche Entwicklung war in Deutschland noch nicht eingetreten. Die ungeheuerliche Übertreibung, die man dieser Meinungsverschiedenheit beigelegt hat, habe ich im 14. Band meiner „Werke" und in den Anmerkungen zu diesem Bande mit Dokumenten widerlegt.

Diese Meinungsverschiedenheit ließ auch nicht den Schatten irgendeiner Bitterkeit in unseren persönlichen Beziehungen zurück. Gerade wenige Tage nach der Unterzeichnung dieses Friedens wurde ich – auf Anweisung Wladimir Iljitschs (Lenins) – an die Spitze des Militärwesens gestellt.

Der Zwiespalt über die Gewerkschaftsfrage war schärfer und zog sich auch länger hinaus. Die Schärfe dieser Meinungsverschiedenheit war eine Folge der Tatsache, dass die Wirtschaft des Landes in eine Sackgasse geraten war. Der Ausweg aus dieser Sackgasse durch die „Neue Wirtschaftspolitik", durch die Einführung eines gewissen Privatkapitalismus, wurde aber vollständig einmütig beschlossen. Mit derselben Einmütigkeit wurde einige Monate später die neue Resolution über die Gewerkschaften, die die entgegenstehende Resolution des zehnten Kongresses ersetzte, angenommen.

Wenn man den jetzigen Parteihistorikern glauben wollte, so könnte man annehmen, die ersten sechs Jahre der Revolution seien ganz mit Streitigkeiten über Brest-Litowsk und die Gewerkschaften ausgefüllt gewesen. Alles übrige ist verschwunden: Die Vorbereitung des Oktoberaufstandes, der Aufstand selbst, die Einsetzung der Regierung, die Bildung der roten Armee, der Bürgerkrieg, die vier Kongresse der kommunistischen Internationale, die ganze literarische Arbeit der kommunistischen Propaganda, die Arbeit der Leitung der ausländischen kommunistischen Parteien und unserer eigenen. Von dieser ganzen Arbeit, über die ich mich in allen wichtigen Fragen in völliger Übereinstimmung mit Lenin befand, verbleiben nach unseren jetzigen Historikern nur zwei Momente, Brest-Litowsk und die Gewerkschaften.

Stalin und seine Lakaien haben sich die härteste Mühe gegeben, aus der Gewerkschaftsdiskussion einen „bitteren" Kampf Trotzkis gegen Lenin zu machen.

Ich will hier nur anführen, was ich in der Zeit der heftigsten Diskussion, am 26. Januar 1921 dem Genossen Schljapnikow, dem entschiedenen Gegner der Leninschen Politik, auf dem Bergarbeiterkongress sagte:

Genosse Schljapnikow sagte hier – vielleicht drücke ich seinen Gedanken etwas grob aus: ,Glaubt nicht an diese Meinungsverschiedenheit zwischen Trotzki und Lenin. Sie werden sich schon wieder einigen, und der Kampf wird sich dann nur gegen uns richten!' Er sagt: ,Glaubt nicht daran!'

Ich verstehe nicht, was er mit diesem Glauben oder Nichtglauben eigentlich meint. Natürlich werden wir uns wieder einigen. Wir mögen uns streiten bei der Entscheidung einer wirklich wichtigen Frage, aber der Streit treibt doch nur unsere Gedanken nach der Richtung einer Einigung."

Dies waren meine Schlussworte auf dem zweiten allrussischen Bergarbeiterkongress am 26. Januar 1921.

Den folgenden Absatz aus der gleichen Rede hat Lenin in seiner Broschüre (im 18. Band seiner Werke) zitiert:

In meiner schärfsten Polemik mit dem Genossen Tomski habe ich immer betont, es sei mir völlig klar, dass unsere Führer in den Gewerkschaften nur Leute mit einer Erfahrung und einer Autorität sein könnten, wie sie Genosse Tomski besitzt. Eine Meinungsverschiedenheit in der Partei bedeutet doch keine gegenseitige Unterdrückung und Ablehnung."

Und hier ist, was Lenin über dieselbe Frage in seinem die Diskussion über die Gewerkschaften zusammenfassenden Schlusswort auf dem zehnten Parteikongress sagte:

Schljapnikow meinte, Lenin und Trotzki würden sich schon wieder einigen, und Trotzki antwortete: „Wer nicht versteht, dass es notwendig ist, sich zu einigen, geht gegen die Partei; natürlich werden wir uns einigen, denn wir sind Parteigenossen." Ich habe Trotzki zugestimmt. Gewiss waren Trotzki und ich verschiedener Meinung. Aber wenn sich im Zentralkomitee eine mehr oder weniger gleichstarke Meinungsverschiedenheit bildet, dann entscheidet die Partei, und sie entscheidet in einer solchen Weise, dass wir uns auf den Willen und den Kurs der Partei einigen. Dies ist die Ankündigung, mit der Trotzki und ich zum Bergarbeiterkongress gegangen und mit der wir auch hierher gekommen sind."

Gleicht das irgendwie dem verächtlichen Geschreibsel, das man heutzutage als Geschichte der Gewerkschaftsdiskussion ausgibt?

Die Sache wird lächerlich, wenn Bucharin sorglos versucht, die Gewerkschaftsdiskussion zu einer Waffe gegen den „Trotzkismus" auszunutzen. Auf folgende Art kennzeichnet Lenin (im 18. Band seiner Werke) Bucharins Haltung in jener Diskussion:

Bis jetzt ist Trotzki der ,Häuptling' in dem Kampfe gewesen, aber nunmehr hat ihn Bucharin eingeholt und ihn sogar völlig überrundet. Bucharin hat eine ganz neue Lage in dem Kampfe herbeigeführt, denn er hat sich in einen Irrtum hineingeredet, der hundertmal schlimmer ist als alle Irrtümer Trotzkis zusammengenommen.

Wie konnte Bucharin sich in diese Abkehr vom Kommunismus hineinreden? Wir kennen alle das weiche Wesen des Genossen Bucharin, eine Eigenschaft an ihm, wegen der wir ihn gern haben und gern haben müssen. Wir wissen, dass man ihn oft im Scherz ,weiches Wachs' genannt hat. Es scheint, dass ,jeder grundsatzlose Mensch' jeder ,Demagoge' in dieses weiche Wachs hinein drücken kann, was er will. Die Worte dieser scharfen Kennzeichnung stammen vom Genossen Kamenew aus der Diskussion vom 17. Januar. Er hatte ein Recht, sie anzuwenden, aber es wäre natürlich niemals Kamenew oder irgend jemand anderem eingefallen, das Vorgefallene als grundsatzloses Demagogentum zu bezeichnen oder es auf ein solches zurückzuführen."

Mit Lenin in der Internationale

War denn überhaupt die Frage der Gewerkschaften die einzige im Leben der Partei und der Sowjetrepublik während der Jahre meines Zusammenarbeitens mit Lenin? In dem gleichen Jahre 1921, dem Jahre des zehnten Kongresses unserer Partei, hatten wir den dritten Kongress der Komintern (der Kommunistischen Internationale), der in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung eine ganz bedeutende Rolle gespielt hat.

Auf diesem dritten Kongress entwickelte sich ein tiefgehender Streit über die wichtigsten Fragen der kommunistischen Politik. Dieser Streit kam vor unser Politbüro. Ich erzählte vor noch nicht langer Zeit einiges davon in kurzen Worten aus einer Sitzung des Politbüros:

Zu jener Zeit bestand die Gefahr, dass die Politik der Komintern sich in der Linie der Märzereignisse in Deutschland entwickeln würde – das heißt, dass man künstlich eine revolutionäre Situation schaffen würde, eine ,Elektrisierung' des Proletariats, wie ein deutscher Genosse es genannt hat. Die Stimmung war auf dem Kongress entschieden dafür, aber Wladimir Iljitsch (Lenin) kam zu der Ansicht, dass bei einem solchen Kurs die Internationale sicherlich zertrümmert würde. Vor dem Kongress schrieb ich dem Genossen Radek meinen Eindruck von den Märzereignissen in einem Briefe, von dem Wladimir Iljitsch nichts wusste. In Anbetracht der kitzligen Lage und weil ich die Ansicht Wladimir Iljitschs nicht kannte, wohl aber wusste, dass Sinowjew, Bucharin und Radek im Allgemeinen für die deutsche Linke waren, drückte ich mich natürlich nicht offen aus und schrieb in der Form eines Briefes an Radek, indem ich ihn bat, mir seine Meinung mitzuteilen. Radek und ich kamen zu keiner Übereinstimmung. Wladimir Iljitsch, der davon hörte, ließ mich kommen und schilderte mir die Lage in der Komintern als eine solche, die die schwersten Gefahren herbeiführen könnte. In der Einschätzung der Lage und ihrer Probleme waren wir völlig einer Meinung.

Nach dieser Besprechung ließ Wladimir Iljitsch den Genossen Kamenew kommen, um sich einer Mehrheit im Politbüro zu versichern. Da damals das Politbüro aus fünf Genossen bestand, so waren wir mit Kamenew zu drei und hatten infolgedessen die Majorität. Aber in unserer Delegation auf der Komintern waren auf der einen Seite die Genossen Sinowjew, Bucharin und Radek, auf der anderen Seite Wladimir Iljitsch, ich und Kamenew, und wir hatten auch, nebenbei gesagt, besondere Sitzungen dieser Gruppen. Wladimir sagte damals: ,Wir bilden eben eine neue Fraktion'. In den Debatten über den Text der vorgeschlagenen Resolutionen vertrat ich die Fraktion Wladimir Iljitschs, und Radek vertrat die Fraktion des Genossen Sinowjew.

Sinowjew bemerkte, dass sich die ganze Sachlage verschoben hätte.

Ja, sie hatte sich verschoben, und Genosse Sinowjew beschuldigte, nebenbei bemerkt, damals aufs Schärfste den Genossen Radek, weil er bei unseren Verhandlungen seine Fraktion ,betrogen', das heißt uns zu große Konzessionen gemacht hätte.

Der Kampf war in allen Parteien der Komintern sehr heftig, und Wladimir Iljitsch beriet sich mit mir, was wir tun sollten, wenn der Kongress gegen uns stimmen würde. Sollten wir uns einem Kongress unterwerfen, dessen Entscheidung vielleicht verderblich sein könnte, oder sollten wir uns nicht unterwerfen? Das Echo unserer Besprechung kann man in dem stenographischen Bericht meiner Rede finden. Ich sagte damals – im Einvernehmen mit Iljitsch: ,Wenn ihr, der Kongress, eine Entscheidung gegen uns annehmt, dann werdet ihr uns hoffentlich genügend Spielraum geben, um auch in Zukunft unsere Ansicht verteidigen zu können.' Der Sinn dieser Warnung war völlig klar. Ich muss aber hinzufügen,dass die Beziehungen, die damals in unserer Delegation bestanden, dank der Führung Lenins durchaus kameradschaftlich blieben."

Im Einvernehmen mit Lenin verteidigte ich unsere gemeinsame Haltung im Exekutivkomitee unserer Partei, dessen Sitzung dem dritten Kongress voranging. Ich erhob einen heftigen Angriff gegen die sog. Linksgruppe. Wladimir Iljitsch, der in die Sitzung des Exekutivkomitees geeilt war, sagte dort folgendes:

Ich kam hierher, um gegen die Rede des Genossen Bela Kun zu protestieren. Er hat sich gegen den Genossen Trotzki gewandt, statt ihn zu verteidigen, wie er es hätte tun müssen, wenn er ein echter Marxist wäre …

Genosse La Porte hatte völlig unrecht, und Genosse Trotzki, der gegen ihn auftrat, völlig recht … Genosse Trotzki hatte tausendmal recht, als er diese Versicherung aussprach. Und es ist hier noch ein Luxemburger Genosse aufgetreten, der der französischen Partei vorwarf, sie hätte nicht die Besetzung Luxemburgs sabotiert. Da haben wir es. Er glaubt auch, dass es sich um eine geographische Frage handelt, gerade wie Bela Kun es tut. Nein, es ist eine politische Frage, und Genosse Trotzki hatte durchaus recht, dagegen zu protestieren …

Dies ist der Grund, warum ich es für meine Schuldigkeit hielt, aufs stärkste alles zu unterstützen, was Genosse Trotzki sagte …"

Durch die ganze Rede Lenins über den dritten Kongress geht diese scharfe Betonung der absoluten Einigkeit mit Trotzki.

Ich füge noch ein weiteres Beispiel unserer Solidarität hinzu. Im Jahre 1922 wurde auf Veranlassung des Genossen Ter-Vaganian ein Magazin begründet: „Unter dem Banner des Marxismus". In der ersten Nummer veröffentlichte ich einen Aufsatz über den Unterschied in den Erziehungsbedingungen der beiden Generationen der Partei, der alten und der neuen, und über die Notwendigkeit einer besonderen theoretischen Schulung der neuen Generation, damit diese die theoretische und politische Erbschaft der Partei bewahre. In der folgenden Nummer des neuen Magazins schrieb dann Lenin:

Über die allgemeine Aufgabe des Magazins ,Unter dem Banner des Marxismus' hat Genosse Trotzki in der ersten und zweiten Nummer alles Wesentliche gesagt, und er hat es sehr gut gesagt. Ich möchte nun gewisse Fragen berühren, indem ich genauer auf den Inhalt und das Arbeitsprogramm eingehe, wie es die Herausgeber der Zeitschrift in ihrer einleitenden Ankündigung zu der ersten und zweiten Nummer entwickelt haben."

Konnte unsere Übereinstimmung in diesen Grundfragen nur eine zufällige gewesen sein? Der einzige Zufall war die Tatsache, dass unsere Übereinstimmung einmal so klar in der Presse zum Ausdruck kam. In der überragenden Mehrzahl der Fälle prägte sich unsere Solidarität nur in Taten aus.

Mit Lenin in der Bauernfrage

Als Bucharin aus reiner Ablehnung oder Geringschätzung der Bauern zu seiner reaktionären Losung: „Bereichert euch!" gekommen war, glaubte er mit einem Wort alle seine Fehler verbessert zu haben. Noch mehr, er glaubte er könnte die Bauernfrage auf demselben Faden aufreihen wie meine Meinungsverschiedenheit mit Lenin über Brest-Litowsk und meine anderen kleinen Differenzen mit ihm. Die Albernheiten und Dummheiten, die die Parteischule Bucharins über diesen Gegenstand in Umlauf gesetzt hat, sind einfach nicht zu zählen. Man müsste ein besonderes Buch schreiben, um sie alle zurückzuweisen. Ich will daher nur die wichtigsten Punkte erwähnen:

Auf die alten, vorrevolutionären Meinungsverschiedenheiten, die wirklich bestanden haben, gehe ich nicht ein. Ich will nur sagen, dass sie durch die Stalinschen Agenten und die Schule Bucharins maßlos übertrieben, verdreht und entstellt worden sind.

Im Jahre 1917 bestand nicht die geringste Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Lenin über diese Frage.

Das Sozialrevolutionäre Landprogramm wurde von Wladimir Iljitsch in vollem Einvernehmen mit mir entworfen.

Ich habe zuerst Lenins Verordnung über die Landfrage in der Bleistiftniederschrift gelesen. Es gab darüber nicht die Spur einer Meinungsverschiedenheit. Wir waren der gleichen Ansicht.

In der Ernährungspolitik nimmt die Bauernfrage natürlich keinen geringen Platz ein. Oberflächliche Menschen wie Martynow sagen, diese Politik sei „trotzkistisch" gewesen. Nein, sie war eine bolschewistische Politik. Ich führte sie Hand in Hand mit Lenin durch. Es herrschte dabei nicht der Schatten einer Meinungsverschiedenheit.

Der sich auf die mittlere Bauernschaft stützende Kurs wurde mit meiner allertätigsten Teilnahme angenommen.

Die Mitglieder des Politbüros wissen, dass nach dem Tode Swerdlows der anfängliche Gedanke Wladimir Iljitschs war, den Genossen Kamenew zum Vorsitzenden des allrussischen Exekutivkomitees zu ernennen. Der Vorschlag, statt dessen einen Bauernarbeiter zu wählen, stammt von mir, und ich habe auch die Kandidatur des Genossen Kalinin vorgeschlagen. Er erhielt, ebenfalls durch mich, den Titel eines „allrussischen Starosten". Alles dieses ist natürlich von nebensächlicher Bedeutung, und es würde sich gar nicht lohnen, es besonders zu erwähnen. Aber heutzutage haben solche Kleinigkeiten, solche Symptome, eine vernichtende Bedeutung gegenüber den Fälschern der Vergangenheit.

Neun Zehntel unserer ganzen militärischen Politik und Organisation gehen auf das Problem der Beziehungen zwischen Bauern und Arbeitern zurück. Diese Politik – gegen die kleinbürgerlichen Parteigänger und die Hausindustrie – führte ich Hand in Hand mit Wladimir Iljitsch durch.

Zu Anfang 1920, also ein Jahr bevor die Neue Wirtschaftspolitik durch Lenin vorgeschlagen und angenommen wurde, schlug ich auf Grund einer Untersuchung der bäuerlichen Wirtschaftslage dem Politbüro eine Reihe von Maßnahmen vor, die ähnlich waren wie die der Neuen Wirtschaftspolitik. Dieser Vorschlag von mir konnte doch wirklich nicht durch „Gleichgültigkeit" gegen die Bauern diktiert sein.

Die Diskussion der Gewerkschaften war, wie ich schon sagte, ein Suchen nach einem Ausweg aus einer wirtschaftlichen Sackgasse. Der Übergang zur Neuen Wirtschaftspolitik wurde in völliger Einmütigkeit durchgeführt.

Alles dieses kann durch unanfechtbare Dokumente bewiesen werden. Eines Tages wird es auch geschehen. Hier begnüge ich mich mit zwei Zitaten.

In Beantwortung einer Frage über unser Verhältnis zum Kulaken, zum mittleren und zum ärmeren Bauern, und über die angeblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin und Trotzki über die Bauernfrage, schrieb ich im Jahre 1919 in der Iswestija:

Es hat über diese Frage in den Zentren der Sowjetmacht keine Meinungsverschiedenheiten gegeben, und es gibt auch jetzt keine darüber. Den Gegenrevolutionären, deren Sache immer hoffnungsloser wird, ist, um die arbeitenden Massen zu täuschen, weiter nichts mehr geblieben, als dieser angebliche Konflikt, der auch den Sowjet der Volkskommissare ergriffen haben soll."

Lenin schrieb über dieses Thema in Beantwortung einer Frage des Bauern Gulow im Februar 1919 in der Prawda folgende Worte:

In der Iswestija vom 7. Februar erschien ein Brief des Bauern G. Gulow, der die Frage des Verhältnisses unserer Arbeiter- und Bauernregierung zur mittleren Bauernschaft berührt und von Gerüchten spricht, dass Lenin und Trotzki nicht mehr übereinstimmten, dass schwere Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen beständen, vor allem über dieses Problem des mittleren Bauern.

Genosse Trotzki hat hierauf schon am 7. Februar in der Iswestija geantwortet. Genosse Trotzki erklärt die Gerüchte über Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und mir für eine ungeheure Lüge, die von den Landeigentümern und Kapitalisten oder ihren bewussten und unbewussten Lakaien verbreitet wird. Ich für meinen Teil schließe mich durchaus der Erklärung des Genossen Trotzki an. Es gibt über die Bauernfrage keine Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und mir, noch überhaupt in der kommunistischen Partei, deren Mitglieder wir doch beide sind.

Genosse Trotzki hat in seinem Brief klar und im Einzelnen auseinandergesetzt, warum die kommunistische Partei und die von den Sowjets und den Mitgliedern der Partei gewählte Arbeiter- und Bauernregierung die mittleren Bauern nicht als ihre Feinde betrachten. Ich unterschreibe ganz und gar alles, was Trotzki hierüber geschrieben hat."

Hier stoßen wir wieder auf dieselbe Geschichte. Das Gerücht wurde zuerst von der weißen Garde in die Welt gesetzt. Jetzt wird es von den Anhängern Stalins und Bucharins aufgegriffen, vergrößert und bewusst verbreitet.

Meine militärische Arbeit

Über meine militärische Arbeit, die im Frühjahr 1918 begann, ist ebenfalls unter der Führung Stalins der Versuch gemacht worden, die Geschichte umzuschreiben. Man hat wirklich versucht, um gegen den „Trotzkismus" zu kämpfen, oder ehrlicher gesagt, um gegen Trotzki zu kämpfen, die ganze Geschichte des Bürgerkrieges umzuschreiben.

Hier den Hergang der Bildung der Roten Armee und der Beziehung Lenins zu diesem Werk zu erzählen, hieße eine Geschichte des Bürgerkrieges schreiben. Augenblicklich schreiben sie, im Auftrage Stalins, Leute wie Gusew. Später werden andere sie schreiben. Ich muss mich begnügen, zwei oder drei, auf Dokumente gestützte Beispiele zu geben.

Als Kasan von unseren Truppen genommen war, erhielt ich einen telegraphischen Glückwunsch von Wladimir Iljitsch, der sich damals grade von seiner Krankheit erholte:

Mit Begeisterung begrüße ich den herrlichen Sieg der Roten Armee. Er möge uns ein Wahrzeichen sein, dass die Verbindung der Arbeiter und revolutionären Bauern die Bourgeoisie vollständig zerschmettern, dass sie jeden Widerstand der Ausbeuter vernichten und den Sieg des Weltsozialismus sichern wird. Hoch lebe die Arbeiterrevolution.

Lenin.

Den 19. September 1918."

Die gegen Lenins sonstige Art sehr gehobene Sprache des Telegramms – „Mit Begeisterung begrüße ich" – bezeugt, welche ungeheure Bedeutung er, und zwar mit Recht, der Einnahme von Kasan beilegte. Hier wurde der erste und tief entscheidende Beweis für die Stärke der vereinigten Arbeiter und revolutionären Bauern geliefert, die sich inmitten des wirtschaftlichen Ruins und der durch den imperialistischen Krieg geschaffenen furchtbaren Verheerung doch noch fähig erwiesen, eine kämpfende, revolutionäre Armee zu schaffen. Hier erlebte das System der Roten Armee seine Feuerprobe, und Lenin erkannte die Bedeutung dieser Feuerprobe.

Auf dem achten Parteikongress hat eine Gruppe von Soldatenabgeordneten die Kriegspolitik kritisiert. Die Stalins und Woroschilows haben sich neuerdings so geäußert, als hätte ich mich nicht getraut auf dem Kongress zu erscheinen und diese Kritik anzuhören. Wie völlig fern ist das von dem wirklichen Hergang. Ich gebe hier den Beschluss des Zentralkomitees über meine Abreise zur Front am Vorabend des Kongresses:

Auszug aus dem Bericht über die Sitzung des Zentralkomitees vom 16. März 1919. Anwesende Mitglieder: die Genossen Lenin, Sinowjew, Krestinski, Wladimirski, Stalin, Schmidt, Smilga, Dserschinski, Laschewitsch, Bucharin, Sokolnikow, Trotzki, Stasow.

Gegenstand:

(12) Verschiedene Genossen von der Front, die von dem Beschluss einer sofortigen Rückkehr der Führer an die Front hörten, haben die Richtigkeit dieses Beschlusses angezweifelt, da die Frontorganisationen daraus eine Weigerung der zentralen Regierung, die Beschwerden der Armee anzuhören, herauslesen könnten. Einige bezeichnen es sogar als eine Ausflucht, denn die Abreise des Genossen Trotzki und die Nichtzulassung der Soldatenabgeordneten machten es nutzlos, die Frage der militärischen Politik auch nur anzuschneiden. Genosse Trotzki protestiert gegen die Auslegung des Beschlusses des Zentralkomitees als einer Ausflucht und weist auf die äußerst ernste Lage hin, die durch den Rückzug von Ufa und noch weiter nach Westen geschaffen ist. Er besteht auf seiner Abreise.

Beschluss:

1. Genosse Trotzki soll sofort an die Front reisen.

2. Genosse Sokolnikow soll auf einer Sitzung der Frontführer ankündigen, dass der Befehl zur Abreise aller aufgehoben und dafür beschlossen ist, dass nur diejenigen sofort abreisen sollten, die ihre Anwesenheit an der Front selbst für notwendig hielten.

3. Die Frage der militärischen Politik soll der erste Gegenstand auf der Tagesordnung des Kongresses sein.

4. Genosse V. M. Smirnow hat entsprechend seiner Bitte die Erlaubnis erhalten, in Moskau zu bleiben.

In dem Vorstehenden hat man ein klares Beispiel des Parteiregimes jener Zeit. Alle, die den Zentralkomitee wegen seiner militärischen Politik angriffen, und besonders der Führer der militärischen Opposition, V. M. Smirnow, durften trotz der schwierigen Lage an der Front auf dem Parteikongress bleiben. Diejenigen, die die offizielle Politik unterstützten, wurden vor der Eröffnung des Kongresses an die Front gesandt. Heutzutage würde man genau umgekehrt handeln.

Die Berichte der militärischen Sektion des achten Parteikongresses, in der Lenin entschieden die von mir auf Weisung des Zentralkomitees durchgeführte Politik verteidigte, sind bisher nicht veröffentlicht worden. Warum? Weil sie vernichtend das falsche Verhalten Stalins und Gussews während des Bürgerkrieges treffen.

Stalin hat den Versuch gemacht, einen lächerlich übertriebenen Bericht über eine militärische Meinungsverschiedenheit, die sich zu Beginn des Jahres 1919 im Politbüro hinsichtlich der Lage der östlichen Front bildete, in Umlauf zu setzen. Diese Meinungsverschiedenheit beruhte in der Hauptsache auf der Frage, ob es besser sei, in Sibirien weiter vorzugehen oder am Ural eine feste Stellung einzunehmen und alle unsere Kräfte nach dem Süden zu werfen, um die Bedrohung Moskaus aufzuheben. Ich war eine Zeitlang für den zweiten Plan. Viele militärische Mitarbeiter, darunter Smilga, Laschewitsch, I. N. Smirnow, K. I. Grünstein und andere zogen den ersten Plan vor. Der erste Plan wurde angenommen und erzielte bewundernswerte Ergebnisse. Es befand sich nichts Tiefgehendes in dieser Meinungsverschiedenheit; es handelte sich um eine rein praktische Frage. Der Versuch bewies, dass die Armee Koltschaks in vollständiger Auflösung begriffen war, und das Vorgehen in Sibirien hatte einen durchschlagenden Erfolg.

Die Wiederherstellung der militärischen Disziplin war eine raue Arbeit. Sie wurde nicht ohne Unterdrückung und Gewaltanwendung durchgeführt. Mancher Stolz wurde verletzt – manchmal, weil es notwendig war, manchmal aber auch infolge eines Irrtums. Daraus entstand nicht selten Unzufriedenheit, die natürlich häufig ganz berechtigt war. Als sich die Meinungsverschiedenheiten bezüglich der östlichen Front bildeten, und sich das Zentralkomitee über die Frage eines Wechsels der obersten Leitung schlüssig werden musste, bot ich meinen Rücktritt von dem Posten des Volkskommissars für Heeres und Marineangelegenheiten an. An demselben Tage, am 6. Juli 1919, fasste das Zentralkomitee einen Beschluss, dessen hauptsächlichen Teil ich in folgendem wiedergebe:

Das Organisationsbüro und das Politbüro des Zentralkomitees haben die Erklärung des Genossen Trotzki allseitig erwogen und sind einmütig zu dem Schluss gekommen, dass sein Rücktritt nicht angenommen werden kann.

Das Organisationsbüro und das Politbüro des Zentralkomitees werden alles tun, was sie können, um die Arbeit an der Südfront, die Genosse Trotzki sich selbst ausgewählt hat, und die die schwierigste, die gefährlichste und wichtigste im gegenwärtigen Augenblick ist, für den Genossen Trotzki bequemer und für die Republik ersprießlicher zu machen. In seiner Stellung als Volkskommissar für den Krieg und Präsident des militärisch-revolutionären Sowjets der Südfront ist Genosse Trotzki, zusammen mit dem von ihm ernannten und vom Zentralkomitee bestätigten Beauftragten der Südfront, Jegorow, vollkommen frei in seinen Handlungen.

Das Organisationsbüro und das Politbüro des Zentralkomitees geben dem Genossen Trotzki die volle Berechtigung, mit allen Mitteln jede ihm nötig erscheinende militärische Maßnahme zu treffen und selbst dem Parteikongress vorzugreifen."

Die Unterschriften unter diesem Beschluss waren: Lenin, Kamenew, Krestinski, Kalinin, Serebriakow, Stalin, Stasow. Der Beschluss spricht natürlich für sich selbst. Er beendete die Meinungsverschiedenheit und brachte die Arbeit in das richtige Geleise.

Noch eine Bemerkung hierzu: Auf der gemeinsamen Sitzung des Politbüros und des Vorstandes des Kontrollkomitees am 8. September 1927 trat Stalin nach dem stenographischen Protokoll dafür ein, das Zentralkomitee solle mir verbieten, die südliche Front zu berühren. Auf diesen Antrag gab ja der oben angeführte Beschluss eine erschöpfende Antwort.

Aber war denn die Meinungsverschiedenheit wegen der östlichen Front die einzige Meinungsverschiedenheit ihrer Art? Keineswegs. Da gab es eine Meinungsverschiedenheit wegen des strategischen Plans gegen Denikin. Da gab es eine Meinungsverschiedenheit wegen Petrograds – ob man es Judenitsch überlassen oder es verteidigen sollte. Da war eine Meinungsverschiedenheit über das Vorgehen auf Warschau und über die Möglichkeit eines zweiten Feldzuges, nachdem wir uns auf Minsk zurückgezogen hatten. Meinungsverschiedenheiten solcher Art entstanden aus dem praktischen Tageskampf und wurden auch im Kampf entschieden.

Über das Vorgehen an der Südfront sind die notwendigen Dokumente in meinem Buch „Wie sich die Revolution bewaffnete" enthalten.

Während Judenitschs Vormarsch auf Petrograd glaubte Lenin einmal, es lohne sich nicht, die Stadt zu verteidigen, und wir sollten unsere Verteidigungslinie näher an Moskau heranrücken. Ich widersprach aber. Genosse Sinowjew unterstützte mich, und wenn ich nicht irre, auch Genosse Stalin. Am 17. Oktober telegraphierte mir Lenin nach Petrograd:

Genosse Trotzki!

Ich verbrachte die letzte Nacht im Sowjet für Verteidigung und habe Ihnen in Chiffreschrift seinen Entschluss zugesandt.

Wie Sie sehen, wurde Ihr Plan angenommen. Der Rückzug der Petersburger Arbeiter nach dem Süden wurde nicht abgelehnt (man erzählte mir, Sie hätten diese Idee mit Krassin und Rykow entworfen). Vorzeitig hiervon reden würde aber die Aufmerksamkeit von dem Kampf ablenken.

Ein Versuch, Petersburg einzuschließen und abzuschneiden würde natürlich eine entsprechende Veränderung Ihres Handelns verlangen, wozu Sie sofort übergehen wollen.

Bestimmen Sie in jeder Abteilung des dortigen ausführenden Komitees jemand, der die Sowjetpapiere und Dokumente sammelt für den Fall, dass eine Räumung nötig wird.

Ich füge ein vom Sowjet für Verteidigung genehmigtes Manifest bei. Ich befand mich etwas in Eile, und so ist das Manifest nicht besonders gut geworden. Setzen Sie meine Unterschrift unter die Ihrige.

Grüße!

Lenin."

Ich könnte viele solcher Geschehnisse aufführen. Sie waren in dem bestimmten Augenblick von großer praktischer Wichtigkeit, aber der Streit darüber hatte keine grundsätzliche Bedeutung. Es war kein Kampf um Grundprinzipien, sondern ein Ausarbeiten des besten Plans zur Bekämpfung des Feindes zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort. Die Stalins und Gussews sind dabei, die Geschichte des Bürgerkrieges umzuschreiben. Es wird ihnen nicht gelingen.

Die verächtlichste Lüge der Stalinisten

Das Allerverächtlichste an dem Feldzug der Stalinisten gegen mich ist die Beschuldigung, ich hätte Kommunisten erschießen lassen. Diese Beschuldigung wurde einmal durch unsere Feinde, durch die bekannte „Informationsagentur" in Umlauf gesetzt. Die politischen Abteilungen der Weißen Armeen versuchten nämlich, gedruckte Blättchen unter den roten Soldaten zu verbreiten, auf denen das rote Kommando und besonders Trotzki blutdürstiger Taten beschuldigt wurden. Jetzt gehen die Agenten Stalins denselben Weg.

Nehmen wir einen Augenblick an, diese Lüge sei Wahrheit. Warum haben dann Stalin, Jaroslawski, Gusew und die andern Stalinisten während des Bürgerkrieges geschwiegen? Was bedeutet denn diese jetzige, so spät kommende „Enthüllung" der Stalinagentur? Sie bedeutet folgendes:

Arbeiter, Bauern und rote Soldaten, die Partei hat euch betrogen, als sie euch erzählte, dass Trotzki, der Befehlshaber der Armee, nach dem Willen der Partei gehandelt und nur ihren Auftrag ausgeführt hat. Die Partei hat euch betrogen, als sie in unzähligen Artikeln über das Werk Trotzkis und in den Resolutionen ihrer Kongresse die Tätigkeit Trotzkis billigte und vor euch solche Tatsachen, wie die Hinrichtung von Kommunisten verbarg. Lenin nahm an dieser Täuschung teil, indem er entschieden die militärische Politik Trotzkis unterstützte."

Dies ist die wirkliche Bedeutung dieser verspäteten „Enthüllung" Stalins. Sie kompromittiert nicht Trotzki, sondern die Partei und ihre Führerschaft. Sie untergräbt das Vertrauen der Massen auf den ganzen Bolschewismus. Als in der Vergangenheit Lenin und die bewährtesten seiner Helfer an der Spitze der Partei standen, war es unmöglich, grobe Fehler und selbst Verbrechen zu verheimlichen, aber was kann man jetzt erwarten, da der Stab des Zentralkomitees unendlich geringere Autoritat genießt? Wenn zum Beispiel im Jahre 1923, als der Bürgerkrieg lange vorüber war, Jaroslawski ein maßloses Lob auf Trotzki sang, auf seine Treue, auf seine revolutionäre Hingabe an die Sache der arbeitenden Klasse; was werden dann nachdenkliche junge Parteimitglieder heute sagen? Sie werden sich fragen: „Wann hat mich eigentlich Jaroslawski belogen – damals, als er Trotzki in den Himmel erhob, oder jetzt, da er ihn mit Schmutz zu bewerfen sucht?"

Dies sind die wirklichen Ergebnisse der Bemühungen Stalins und seiner Agenten, die Geschichte umzuschreiben.

Ähnlich steht es mit der famosen „Enthüllung" Stalins über Kamenew, den er fälschlich beschuldigte, ein Glückwunschtelegramm an Michael Romanow (an den Großfürsten Michael) wegen dessen angeblichen Plans, in Russland eine konstitutionelle Monarchie zu errichten, abgesandt zu haben. Was hat damit Stalin der Partei und der Komintern in Wirklichkeit aber gesagt? Er sagte: „Zehn Jahre lang hat euch das Zentralkomitee über Kamenew getäuscht. In der Prawda haben die Redakteure eine falsche Dementierung abgedruckt. Lenin betrog die Partei. Ich, Stalin, habe an diesem Betrug teilgenommen und jetzt, da Kamenew andere politische Ansichten hat als ich, mich entschlossen, diesen ganzen Betrug zu enthüllen." Die Partei kann unmöglich den größeren Teil der Stalinschen Enthüllungen glauben. Sie kann jetzt nur einen geringeren Glauben an die Parteileitung haben – an die frühere, die gegenwärtige und die kommende. Wir müssen diesen Glauben wieder zurückgewinnen – gegen Stalin und die Stalinisten.

Bekanntlich hat Genosse Gusew sich mit besonderem Eifer der literarischen Revision unserer Kriegsgeschichte gewidmet. Er hat sogar eine besondere Broschüre geschrieben mit dem Titel: „Unsere militärischen Meinungsverschiedenheiten." In dieser Broschüre erschien zuerst das vergiftende Geschwätz über die Erschießung von Kommunisten (nicht von Deserteuren oder Verrätern, sondern von wirklichen Kommunisten).

Gussews Unglück, wie das so manches anderen, ist aber, dass er zweimal über dieselbe Tatsache, über dasselbe Problem geschrieben hat – einmal zur Zeit Lenins, einmal zur Zeit Stalins.

Folgendes schrieb Gusew zu Lenins Zeit, im Jahre 1924 in der „Proletarischen Revolution":

Die Ankunft des Genossen Trotzki in der Nähe von Kasan führte eine entscheidende Veränderung der Lage herbei. In Trotzkis Zug auf der kleinen Station Swjaschk war eine feste Entschlossenheit zum Sieg, zum Angriff, zur wohlüberlegten Durchführung aller militärischen Aufgaben. Vom allerersten Tag an fühlte jeder in dieser von den Wagenparks unzähliger Truppen angefüllten Station, in der sich die Hauptquartiere befanden, und ebenso in den fünfzehn Werst weiter vorliegenden Regimentern, dass der große Wendepunkt erreicht war.

Dies wurde zuerst auf dem Gebiete der Disziplin klar … Das strenge Verfahren des Genossen Trotzki war in jener Epoche der Parteigängerschaft, der undisziplinierten und kleinbürgerlichen Selbstsucht besonders angebracht und nützlich. Durch Überredung konnte man nichts erreichen, und es war auch vor allem keine Zeit dafür vorhanden. Im Verlauf der fünfundzwanzig Tage, die Genosse Trotzki in Swjaschk verbrachte, wurde eine ungeheure Arbeit vollbracht. Die unbotmäßigen und entarteten Regimenter der fünften Armee wurden in Kampftruppen umgewandelt und zur Einnahme Kasans geschult."

Jedes Parteimitglied, das den Bürgerkrieg erlebt und sein Gedächtnis nicht verloren hat, wird sagen – wenigstens zu sich selbst, falls er sich fürchtet, es laut zu sagen –, dass man Tausende solcher gedruckten Zeugnisse der gleichen Art, wie dieses von Gusew geschriebene Zeugnis finden könnte.

Ich beschränke mich hier auf Zeugnisse von höchst autoritativem Charakter. In seinen Erinnerungen an Lenin sagt Gorki:

Indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, rief er (Lenin) aus: Zeigt mir einen andern Mann, der imstande ist, in einem Jahre eine fast vorbildliche Armee zu schaffen, jawohl, und die Hochachtung militärischer Sachkenner zu gewinnen. Wir haben solch einen Mann. Wir haben alles, aber ihr verlangt Wunder."

Und in derselben Besprechung sagte Lenin nach Gorki:

Ja, ja, ich weiß das. Man lügt eine ganze Menge über meine Beziehungen zu ihm. Man lügt, wie es scheint, besonders viel über Trotzki und mich."

Ja, sie logen eine ganze Menge über die Beziehungen Lenins und Trotzkis. Aber kann man das armselige private Lügen jener Tage mit dem richtig organisierten allrussischen und internationalen Lügen von heute vergleichen? In jenen Tagen waren die Lügner die Schwarzen Hundert, die Weiße Garde und zum Teil auch die Sozialrevolutionäre und Menschewisten. Heute ist es die Stalingruppe, die diese Methode übernommen hat.

die Blankovollmacht Lenins

In der bolschewistischen Fraktion des allrussischen Zentralkomitees der Gewerkschaften sagte Lenin am 12. Januar 1920:

Wenn wir Denikin und Koltschak geschlagen haben, so geschah es, weil unsere Disziplin höher stand als die aller kapitalistischen Länder der Welt. Genosse Trotzki hat die Todesstrafe eingeführt, und wir werden ihm zustimmen. Er hat sie eingeführt unter bewusster Leitung und Beihilfe der Kommunisten."

Ich habe nicht die vielen anderen Reden Lenins zur Hand, in denen er meine militärische Politik, die ich übrigens in vollem Einvernehmen mit ihm durchführte, verteidigt hat. Besonders ist der Bericht der Delegiertensitzung des achten Kongresses über militärische Fragen nicht veröffentlicht worden. Warum hat man diesen Bericht nicht veröffentlicht? Weil Lenin auf jener Sitzung mit aller Energie den Freunden Stalins, die jetzt so betriebsam die Vergangenheit fälschen, entgegentrat.

Aber ich besitze ein Dokument, das hundert andere aufwiegt. Ich sprach über dieses Dokument im Vorstand des Kontrollkomitees, als Jaroslawski eine vergiftete Intrige gegen mich begann. Ich zitierte es auf dem letzten Plenum im August 1927, als Woroschilow sich auf die Seite Jaroslawskis stellte.

Lenin gab mir ganz aus freien Stücken ein leeres Blatt Papier, auf dessen unterem Ende folgende Zeilen geschrieben waren:

Genossen: indem ich den strengen Charakter der von Genossen Trotzki gegebenen Befehle kenne, bin ich zugleich so überzeugt, so völlig überzeugt von der Richtigkeit, Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der von ihm im Interesse der guten Sache gegebenen Befehle, dass ich sie in jeder Hinsicht billige.

W. Uljanow (Lenin)."

Den Zweck dieses Blanketts erklärte ich dem Vorstand des Kontrollkomitees in folgenden Worten:

Als er mir das Blatt Papier mit den unter einem freien Raum geschriebenen Zeilen einhändigte, war ich verblüfft. Er sagte: ,Ich habe erfahren, dass Gerüchte gegen Sie verbreitet sind, Sie ließen Kommunisten erschießen. Ich gebe Ihnen dieses Blankett und will Ihnen so viele geben, wie Sie wünschen, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass ich Ihre Entschließungen billige. Sie können darüber jeden Beschluss, den Sie gefasst haben, setzen und haben dann schon meine Unterschrift.' Das war im Juli 1919. Da nun jetzt mancher Klatsch über meine Beziehungen zu Wladimir Iljitsch und, was noch wichtiger ist, über seine Haltung mir gegenüber im Umlauf ist, so möchte ich vorschlagen, dass irgend jemand anderer mir ein solches weißes Blatt mit der Unterschrift Lenins und seiner Vollmacht für in der Zukunft zu machende Beschlüsse vorzeigte. Von meinen damaligen Entschlüssen hingen aber nicht nur die Schicksale einzelner Kommunisten, sondern oft viel größere Dinge ab."

Die Lüge über die Militarisierung der Arbeit

Martynow (der langjährige Führer der Sozialdemokraten und spätere Menschewist, der dann plötzlich 1923 zu den Bolschewisten überging) behauptet bekanntlich, Bürgerkrieg und militärischer Kommunismus seien „Trotzkismus". Diese Lehre hat jetzt eine weitverbreitete Volkstümlichkeit gewonnen. Die Bildung von Industriearmeen, die Militarisierung der Arbeit und ähnliche Maßregeln, die gerade wie die Nahrungsmittelverteilung unvermeidlich aus den Verhältnissen jener Epoche entstanden, werden von Spießbürgern und Pedanten als Auswirkungen des „Trotzkismus" geschildert. Wie stand Lenin zu diesen Fragen?

In der Organisationsabteilung des siebenten Sowjetkongresses debattierten wir am 8. Dezember 1918 über die Frage des Führertums in den leitenden Zentren. In meiner Rede führte ich aus, dass die Alleinherrschaft des Führertums unsere Industrien erwürgen könnte, dass Zentralisierung kein unbedingter Grundsatz sei und dass in der Praxis lokale Initiative und zentrale Leitung sich harmonisch ergänzen müssten Lenin betonte dann in seiner Rede sein völliges Einvernehmen mit mir und fügte hinzu:

Zum Schlusse möchte ich meine unbedingte Zustimmung zu den Ausführungen des Genossen Trotzki erklären, der sagte, es seien hier ganz zu Unrecht Versuche gemacht worden, aus unseren Diskussionen Meinungsverschiedenheiten zwischen Arbeitern und Bauern zu machen und mit dieser Frage die Frage der proletarischen Diktatur zu vermengen."

Es handelte sich übrigens um sehr ausgedehnte Diskussionen, in denen sich Lenin und Trotzki auf der einen Seite, Rykow, Larin, Tomski und andere auf der andern Seite befanden. In diesen Diskussionen hielt sich Genosse Stalin, wie in vielen andern, manövrierend und abwartend hinter der Szene.

Auf der Versammlung des allrussischen Zentralkomitees sagte Lenin am 12. Januar 1920 über den Gegenstand unserer Diskussionen mit Rykow, Tomski und anderen:

Wer hat nun diesen widerlichen Streit angefangen? Sicherlich nicht Trotzki. In seinen Thesen ist nichts darüber enthalten. Es waren die Genossen Lomow, Rykow und Larin. Sie nehmen alle die höchsten Stellungen ein, sie sind Vorstandsmitglieder des allrussischen Wirtschaftsrates. Unter ihnen befindet sich der Vorsitzende des Rates, der so viele Titel hat, dass ich, wenn ich sie alle aufzählen wollte, fünf Minuten von meiner Zehnminutenrede verlieren würde … Deshalb ist es überflüssig zu sagen, dass er eine große Freundlichkeit und Herablassung und ein unbezweifelbares Interesse in dieser Sitzung gezeigt hat … Rykow und andere haben sich hier erhoben und einen widerlichen Zank begonnen. Genosse Trotzki stellt neue Probleme zur Debatte, und sie haben daraus eine Abteilungspolemik mit dem siebenten Sowjetkongress gemacht. Natürlich wissen wir, dass die Genossen Lomow, Rykow und Larin dies nicht direkt in ihrem außerordentlich dummen Artikel zum Ausdruck brachten. Wie schon ein Redner hier gesagt hat: ,Man muss sich nicht in Auseinandersetzungen mit dem siebenten Sowjetkongress einlassen. Der siebente Sowjetkongress hat einen Fehler gemacht. Berichtigen Sie diesen Fehler in der Sitzung, und hören Sie mit dem Streite über Zentralisation und Dezentralisation auf. Genosse Rykow sagt, es sei notwendig, über Zentralisation und Dezentralisation zu reden, weil Genosse Trotzki das nicht erfasst habe. Dieser Mann glaubt, die Leute, die hier sitzen, seien so rückständig, dass sie die erste Zeile von Trotzkis Thesen, ,Wirtschaftsleitung verlangt einen allgemeinen Plan', vergessen haben. Könnt ihr denn kein Russisch lesen, ihr hochgestellten Rykow, Lomow und Larin? Wollen wir nicht zu der Zeit zurückgehen, da wir sechzehn Jahre alt waren und anfingen, über Zentralisation und Dezentralisation zu plappern? Ist das die Regierungsarbeit der Vorstandsmitglieder des allrussischen Wirtschaftsrates? Solch ein Unsinn und trauriges Zeug – es ist eine Schmach und Schande, seine Zeit darauf zu verwenden!" Und weiter sagte Lenin:

Der Krieg gab uns die Fähigkeit, Disziplin aufs Höchste zu steigern und Hunderttausende von Menschen – Genossen – zu vereinigen, die dann starben, um die Sowjetrepublik zu retten. Ohne das wären wir alle zum Teufel gegangen."

Ich bemerke, dass diese Rede, über die das Lenininstitut verfügt, nicht veröffentlicht wurde, einfach weil sie den jetzigen Parteibetrügern unbequem ist. Die Unterschlagung eines Teiles der geistigen Erbschaft Lenins vor der Partei hängt notwendigerweise mit dem Abweichen von dem leninistischen Kurs zusammen. Die oben zitierte Rede Lenins wird vorgebracht werden, wenn es Zeit ist, Rykow zu entthronen.

Mein Einvernehmen mit Lenin im Industrieaufbau

Über meine Arbeit im Eisenbahndienst sagte Lenin am 22. Dezember 1920 auf dem achten Kongress der Sowjets:

Aus den Leitsätzen der Genossen Emschanow und Trotzki ist ja schon ersichtlich, dass wir es auf diesem Gebiete (dem Wiederaufbau unseres Transportwesens) mit einem wirklichen, auf viele Jahre berechneten Plan zu tun haben. Die Verfügung Nr. 1042 rechnet auf fünf Jahre. In fünf Jahren können wir unseren Eisenbahnbetrieb wiederherstellen, die Zahl der schadhaften Lokomotiven vermindern, wir können sogar, und zwar nach meiner Ansicht selbst im ungünstigsten Falle, auch diese Frist noch verkürzen.

Wenn große, auf viele Jahre rechnende Pläne gemacht werden, dann gibt es immer Skeptiker, die sagen: ,Wie kann man nur über so viele Jahre reden? Wir wollen froh sein, wenn wir das tun können, was wir jetzt gerade zu tun haben!' Genossen, wir müssen lernen, das eine mit dem andern zu verbinden. Man kann nicht arbeiten ohne einen Plan, der mit einer langen Zeit und auf einen ernstlichen Erfolg rechnet. Wie notwendig dies ist, beweist die zweifellose Verbesserung unseres Transportwesens. Ich möchte auf die Stelle im neunten Artikel hinweisen, die von einem Termin von vier und einem halben Jahre spricht. Dieser Termin ist jetzt bereits auf dreieinhalb Jahre verkürzt worden, weil wir das normale Arbeitstempo überschritten haben. So sollten wir es in allen rückständigen Zweigen unserer Industrie machen."

Ich bemerke hier, dass ein Jahr nach dem Erlass der Verfügung Nr. 1042 es in einer Verfügung des Genossen Dserschinski vom 27. Mai 1921 „Über die wichtigsten Grundsätze der weiteren Arbeit" heißt:

Da die Senkung der durch die Verfügungen Nr. 1042 und 1157 bestimmten Arbeitsnorm, dem ersten glänzenden Experiment im systematischen Industrieaufbau, nur eine vorübergehende Folge der Feuerungsmittelkrisis ist … so müssen Maßregeln ergriffen werden, die Lager aufzufüllen und das Material instand zu setzen …"

Zu dem Versuch, im Jahre 1923 die Putilowwerke zu schließen, bemerke ich folgendes:

In dem Artikel des Genossen Rykow, der im Oktober 1927 – also vier Jahre nach jenem Vorfall – geschrieben wurde, erscheint wieder die Legende, ich hätte darauf gedrängt, die Putilowwerke zu schließen. In diesem Falle handelt übrigens Genosse Rykow, wie in so vielen andern, sehr unvorsichtig, indem er bei seinem Vorgehen nur Material gegen sich selbst sammelt.

In Wirklichkeit wurde nämlich der Vorschlag auf Schließung der Putilowwerke durch den Genossen Rykow selbst in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Volkswirtschaftssowjets zu Beginn des Jahres 1923 im Politbüro eingebracht. Rykow legte dar, dass die Putilowwerke im Verlaufe der nächsten zehn Jahre nicht gebraucht würden und dass ihre künstliche Erhaltung einen schädlichen Einfluss auf die andern Betriebe hätte. Das Politbüro – und auch ich mit allen übrigen –, wir nahmen die vom Genossen Rykow angeführten Zahlen für bare Münze. Ich stimmte auf Vorschlag des Genossen Rykow für die Schließung der Putilowwerke und dasselbe tat Stalin. Genosse Sinowjew befand sich auf Urlaub. Er protestierte gegen den Beschluss Die Frage wurde daher von neuem vom Politbüro aufgenommen und der Beschluss wurde umgestoßen. Die Initiative in dieser Angelegenheit lag also ganz in den Händen Rykows, des Vorsitzenden des Volkswirtschaftssowjets. Wie hoch muss also das Gefühl der Straflosigkeit bei Rykow gestiegen sein, wenn er schon jetzt, nach vier kurzen Jahren, mich seiner eigenen Sünde zu beschuldigen wagt. Aber man braucht sich darüber keine Gedanken zu machen. Alles dieses wird von Rykow wieder ganz anders dargestellt werden, wenn er sich entsprechend verändert hat. Lange wird das nicht dauern.

Man betrügt die Partei mit Erzählungen, wie „Lenin Trotzki als Volkskommissar für Nahrungsmittellieferung in die Ukraine schicken wollte". Dabei werden die Tatsachen bis zur Unkenntlichkeit verwirrt und verfälscht. Ich habe viele solche Reisen auf Anweisung des Zentralkomitees gemacht. In völligem Einvernehmen mit Lenin ging ich nach der Ukraine, um die Organisation der Kohlenindustrie im Donbezirke zu verbessern. In völligem Einvernehmen mit Lenin arbeitete ich als Präsident des Sowjets der industriellen Armee im Ural. Es ist vollkommen wahr, dass Lenin verlangte, ich sollte für zwei Wochen – nur für zwei Wochen – nach der Ukraine gehen, um die Nahrungsmittellieferung besser zu organisieren. Ich setzte mich in telefonische Verbindung mit dem Genossen Rakowski, der mir versicherte, dass schon ohne mich alle notwendigen Maßnahmen getroffen seien, um die Arbeiterzentren mit Nahrungsmitteln zu versehen. Wladimir Iljitsch bestand zunächst auf meinem Gehen, ließ dann aber die Idee fallen. Das war die ganze Geschichte. Es handelte sich einfach um ein praktisches Problem, das Lenin gerade in jenem Augenblick für besonders wichtig hielt.

Zu der Frage meiner Reise nach dem Donbezirke zitiere ich die Worte, die Lenin darüber am 22. Dezember 1920 auf dem achten Kongress der Sowjets sprach: „Die Kohlenlieferung aus der Donniederung, die monatlich 25 Millionen Pud betrug, hat jetzt 50 Millionen Pud erreicht, dank der Arbeit der mit absoluter Vollmacht versehenen Kommission, die unter dem Vorsitz des Genossen Trotzki nach der Donniederung gesandt wurde und zu dem Beschlüsse kam, dass erfahrene und verantwortliche Arbeiter dorthin gesandt werden sollten. Jetzt ist Genosse Pjatakow dorthin gesandt worden, um das Werk durchzuführen."

Hierzu bemerke ich: Genosse Pjatakow, der immer auf meiner Seite gestanden hat, wurde durch heimliche Intrigen Stalins aus dem Donrevier hinausgedrängt. Lenin hielt das für einen ernsthaften Schlag gegen die Kohlenindustrie, protestierte dagegen im Politbüro und griff öffentlich Stalin wegen seiner zersetzenden Tätigkeit an.

Am 23. Dezember 1921 sagte Lenin in seinem Berichte auf dem neunten Sowjetkongress: „Dass wir einen ungeheuern Erfolg gehabt hatten, zeigte sich besonders auch im Donbecken, wo Genossen wie Pjatakow mit außerordentlicher Hingabe und außerordentlichem Erfolg in der Schwerindustrie gearbeitet haben."

Und am 27. März 1923 sagte er auf dem elften Kongress der russischen Kommunistischen Partei: „In der Zentralleitung der Kohlenindustrie befanden sich Leute, nicht nur von unzweifelhafter Ergebenheit, sondern auch von guter Erziehung und großen Fähigkeiten, und, ich glaube mich nicht zu irren, von wirklichem Talent, was auch dem Zentralkomitee bekannt war. Nun besaßen wir im Zentralkomitee doch einige Erfahrung, und wir beschlossen einmütig, die leitende Gruppe nicht abzurufen … Ich machte Umfragen unter den ukrainischen Genossen. Den Genossen Ordschonikidse befragte ich besonders, und das Zentralkomitee gab ihm den Auftrag, hinzugehen und herauszufinden, was eigentlich hinter der Sache steckte. Ganz offenbar war dort eine Intrige im Gange, und es herrschte eine Verwirrung, die unsere Parteihistoriker nicht in zehn Jahren klarlegen würden, wenn sie sich überhaupt je an diese Sache heranmachten. Aber das praktische Ergebnis war das, dass entgegen den einmütigen Befehlen des Zentralkomitees die leitende Gruppe durch eine andere ersetzt wurde."

Es ist allen Mitgliedern des alten Politbüros – Stalin am besten von allen – bekannt, dass die scharfen Worte Lenins über Intrigen gegen ergebene, kenntnisreiche und talentierte Führer im Donbecken sich auf die Intrige Stalins gegen Pjatakow richteten.

Während des elften Sowjetkongresses schrieb Lenin im Dezember 1921 einige Leitsätze über die Hauptprobleme des Industrieaufbaus. Wie ich mich erinnere, antwortete ich darauf, dass diese Leitsätze ausgezeichnet seien und dass nur ein Punkt dabei fehle, der über Spezialisten und Ingenieure. (In wenigen Worten führte ich das Wichtigste über diesen Punkt aus.) Am selben Tage erhielt ich folgenden Brief von Wladimir Iljitsch:

Streng geheim.

Genosse Trotzki!

Ich befinde mich mit Kalinin in einer Versammlung von Nichtparteimitgliedern. Kalinin rät mir, eine kurze Rede über die von mir vorgeschlagene Resolution zu halten, zu der Sie durchaus korrekt einen Zusatz über Ingenieure vorschlugen.

Möchten Sie nicht am Mittwoch auf dem Plenum des Kongresses eine ganz kurze Rede über diese Resolution halten?

Ihr militärischer Bericht muss doch fertig sein, und Sie haben Dienstag damit nichts mehr zu tun.

Mir ist es unmöglich, auf dem Kongress eine zweite Rede zu halten. Schreiben Sie mir zwei Worte oder telegraphieren Sie. Wenn Sie zustimmen, wird es das Allerbeste sein, und Sie können mir die Versicherung zugleich mit dem Votum des Politbüros schicken.

Lenin."

Unsere Übereinstimmung über die Grundprobleme des sozialistischen Aufbaus war so vollständig, dass Wladimir Iljitsch es für möglich erachtete, dass ich an seiner Stelle über diese Fragen eine Rede hielt. Ich erinnere mich, dass ich ihn telefonisch überredete, wenn es irgendwie sein Gesundheitszustand erlaubte, selbst über diese wichtige Sache zu sprechen. Und schließlich geschah dies auch.

Nach Lenins Erkrankung

Die Fälschungen und Erfindungen über die letzte Lebenszeit Lenins sind besonders zahlreich. Man könnte aber Stalin nur raten, besonders vorsichtig über jene Zeit zu sein, in der Wladimir Iljitsch zu gewissen endgültigen Schlüssen über Stalin kam.

Es ist natürlich schwierig, die innere Geschichte des Politbüros während Lenins aktiven Lebens zu schildern. Es gab keine stenographischen Berichte und nur die Beschlüsse wurden aufgeschrieben. Deshalb ist es auch so leicht, einzelne ganz unwesentliche Episoden herauszunehmen, sie zu verdrehen und aufzublasen oder auch einfach „Meinungsverschiedenheiten" zu erfinden, wo auch nicht die Spur einer solchen vorhanden war.

Wirklich lächerlich in ihrer Dummheit ist die Legende vom „Kuckuck", durch die man nachträglich meinen angeblichen Pessimismus beweisen will. Der „Kuckuck" ist die letzte Ausflucht Stalins und Bucharins, wenn sie durch Vernunftsgründe oder Tatsachen an die Wand getrieben werden. Der „Kuckuck" ist aus einer Unterredung zwischen mir und Lenin entnommen, aus der ersten Zeit der Nep, der Gestattung des Privateigentums im Wirtschaftsleben. Der Verzicht auf gewisse staatliche Hilfsquellen erweckte in mir eine starke Besorgnis sowohl wegen der Schwächung unserer Staatsgewalt als auch wegen einer schnellen Ansammlung von Privatkapital in jenen kritischen Tagen. Ich sprach darüber mehr als einmal mit Wladimir Iljitsch. Um die industrielle Entwicklung in einen Fortschritt für das Land umzuwandeln, organisierte ich damals den Allgemeinen Moskauer Trust. In einer meiner Unterredungen mit Lenin nun wies ich auf einige auffällige Beispiele von sinnlosem Verkaufen hin und sagte etwa folgendes: „Wenn wir so weiter machen, wird der Kuckuck bald unser Todeslied singen." Dies oder etwas Ähnliches sagte ich, wie wir alle damals solche Redewendungen gebrauchten. Wie oft hat nicht Lenin gesagt: „Wenn es auf diese Weise weitergeht, ist es mit uns endgültig vorbei." So etwas war ein scharfer Ausdruck, aber durchaus keine pessimistische Voraussage.

Dies ist also so ungefähr die interessante Geschichte des „Kuckucks", mit der Stalin und Bucharin die Aufmerksamkeit von ihren Fehlern in der chinesischen Revolution, im anglo-russischen Komitee, in der Wirtschaftsführung und in der Parteileitung abzulenken suchen.

Sicherlich sind im Politbüro oft genug Meinungsverschiedenheiten praktischer Art entstanden und darunter auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Wladimir Iljitsch und mir. Die Frage ist nur, welche Stellung nahmen diese Meinungsverschiedenheiten in der allgemeinen Arbeit ein? Darüber verbreitet nun die Stalingruppe mit einem außerordentlichen Mangel an Vorsicht verächtliche Legenden, die bei der ersten Berührung mit wirklichen Tatsachen einfach zerplatzen und sich letzten Endes durchaus gegen Stalin wenden.

Um diese Legenden zurückzuweisen, ist es notwendig, zunächst einmal die Periode von Lenins Erkrankung vorzunehmen – es war, genauer gesagt, die Periode zwischen zwei heftigen Anfällen seines Leidens –, als ihm die Ärzte erlaubten, an der Arbeit teilzunehmen und als viele wichtige Fragen durch Korrespondenz erledigt wurden. Aus dieser Korrespondenz – also aus ganz unzweifelhaften Dokumenten – kann man ersehen, über welche Fragen im Zentralkomitee gestritten wurde, zwischen welchen Mitgliedern Meinungsverschiedenheiten herrschten, und zum Teil auch, welche Haltung Wladimir Iljitsch einzelnen Genossen gegenüber einnahm. Ich will ein paar Beispiele anführen.

Das Monopol des auswärtigen Handels

Im Zentralkomitee entstand Ende 1922 eine wirklich tiefgehende Meinungsverschiedenheit über das Monopol des auswärtigen Handels. Ich möchte seine Bedeutung nicht nachträglich vergrößern, aber die politische Gruppierung, die sich in Hinsicht auf dieses Problem im Zentralkomitee bildete, war sehr bezeichnend.

Auf einen Antrag des Genossen Sokolnikow fasste das Zentralkomitee einen Beschluss, der eine ernstliche Durchbrechung des Monopols des auswärtigen Handels bedeutete. Wladimir Iljitsch war entschieden gegen den Beschluss. Als er von Krassin erfuhr, dass ich an der Sitzung des Zentralkomitees nicht teilgenommen und mich gegen den Beschluss ausgesprochen hatte, begann er mit mir einen Briefwechsel darüber. Diese Briefe sind bis jetzt nicht veröffentlicht, ebenso auch nicht die Korrespondenz Lenins mit dem Politbüro über die Frage des auswärtigen Handelsmonopols. Die Zensur über das Erbe Lenins ist rücksichtslos. Man veröffentlicht zwei oder drei Worte, die Lenin auf einen Fetzen Papier geschrieben hat, sobald sie nur direkt oder indirekt gegen die Opposition gerichtet sein können. Man unterdrückt Dokumente von weitreichender und tiefer Bedeutung, sobald sie sich direkt oder indirekt gegen Stalin richten.

Ich zitiere also die Briefe, in denen Lenin dieses Problem berührt hat:

Genosse Trotzki!

Ich sende Ihnen einen Brief von Krestinski. Schreiben Sie sofort, ob Sie einverstanden sind. Ich werde im Plenum für das Monopol eintreten. Und Sie?

Ihr

Lenin.

P.S. Senden Sie den Brief schnell zurück."

An die Genossen Frumkin und Stomoniakow, Abschrift an Trotzki!

Wegen der Verschlimmerung meiner Krankheit kann ich im Plenum nicht anwesend sein. Ich weiß, in welche unangenehme Lage ich Sie dadurch bringe, aber ich kann es nun einmal nicht ändern.

Heute erhielt ich einen Brief vom Genossen Trotzki, mit dem ich in allem Wichtigen übereinstimme, mit Ausnahme vielleicht seiner letzten Zeilen über den Gosplan (das Büro für staatliche Wirtschaftspläne). Ich werde Trotzki meine Zustimmung schreiben und ihn bitten, in Hinsicht auf meine Krankheit meine Haltung im Plenum zu verteidigen.

Ich bin der Ansicht, diese Verteidigung müsste in drei Abschnitte eingeteilt werden. Sie müsste zunächst einmal das Grundprinzip des ausländischen Handels verteidigen, es voll und ganz festlegen. Sie müsste zweitens die von Awenesow vorgebrachten praktischen Vorschläge für den Ausbau dieses Monopols ein besonderes Komitee zur eingehenden Erwägung übergeben. In diesem Komitee müsste mindestens die Hälfte der Mitglieder dem Kommissariat für auswärtigen Handel entnommen sein. Drittens müsste die Verteidigung gesondert den Gosplan, den staatlichen Wirtschaftsplan, behandeln. Übrigens glaube ich nicht, dass es eine Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Trotzki geben kann, wenn er sich auf die Forderung beschränkt, dass die Arbeit des Gosplans unter der Ägide der Entwicklung der Staatsindustrie stehen und über alle Unternehmungen des Volkskommissariats für auswärtigen Handel berichten müsste.

Ich hoffe, dass ich Ihnen heute oder morgen noch einmal schreiben und Ihnen meine Erklärung über das Wesentliche des vorliegenden Problems für das Plenum des Zentralkomitees geben kann. Auf jeden Fall halte ich die Frage für so außerordentlich wichtig, dass ich, falls das Plenum mir darin nicht beistimmt, sie dem Parteikongress vorlegen und vorher schon die bestehende Meinungsverschiedenheit unserer Partei auf dem kommenden Sowjetkongress bekanntmachen müsste

Lenin.

Den 12. Dezember 1922."

Diktiert an L. F.

An Genosse Trotzki, Abschrift an Frumkin und Stomoniakow:

Genosse Trotzki!

Ich erhielt Ihre Äußerung über den Brief Krestinskis und den Plan Awenesows. Ich glaube, wir stimmen durchaus überein, und können die Frage, ob der Gosplan Verwaltungsrechte haben soll, unter den gegenwärtigen Umständen vorläufig beiseite schieben.

Auf jeden Fall bitte ich Sie dringend, auf dem kommenden Plenum die Verteidigung unserer gemeinsamen Ansicht über die unbedingte Notwendigkeit der Erhaltung und Verstärkung des Monopols des auswärtigen Handels zu übernehmen.

Da das letzte Plenum einen scharf gegen das Monopol des auswärtigen Handels gerichteten Entschluss gefasst hat, und es unmöglich ist, in dieser Frage nachzugeben, so werden wir wohl, wie ich auch schon in meinem Briefe an Frumkin und Stomoniakow gesagt habe, im Falle unserer Niederlage die Sache vor den Parteikongress bringen müssen. Hierzu brauchen wir eine kurze Darlegung unserer abweichenden Meinung für die Parteifraktion des kommenden Sowjetkongresses. Wenn ich kann, werde ich eine schreiben, und es würde mich sehr freuen, wenn Sie dasselbe täten. Jedes Schwanken in dieser Frage wird uns unendlichen Schaden zufügen. Der Einwand gegen das Monopol läuft auf die Anklage hinaus, dass unsere Verwaltung der Sache noch nicht gewachsen sei. Aber unsere Verwaltung ist mancher Aufgabe noch nicht gewachsen, und wegen mangelnder Fähigkeit des Verwaltungsapparates auf das Monopol verzichten, das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten.

Lenin.

Telefonisch diktiert an L. F.

Den 12. Dezember 1922."

An Genossen Trotzki!

Ich schicke Ihnen einen Brief, den ich heute von Frumkin erhielt. Ich glaube ebenfalls, dass es unbedingt notwendig ist, die Angelegenheit ein für allemal zu erledigen. Man braucht auch nicht zu befürchten, dass diese Frage mich erregen und einen ungünstigen Einfluss auf meine Gesundheit haben könnte: denn eine Verschleppung, die unsere Politik in einer der wichtigsten Fragen ganz unsicher machte, würde mich zehntausend mal mehr erregen. Darum weise ich auf den beigefügten Brief hin und bitte Sie dringend, eine sofortige Beratung der Angelegenheit zu beantragen. Wenn wir in Gefahr sind zu verlieren, so ist es nach meiner Überzeugung viel vorteilhafter, vor Beginn des Parteikongresses zu verlieren und sich dann sofort an die Fraktion des Kongresses zu wenden, als nach dem Kongress zu verlieren. Vielleicht könnte man folgendes Kompromiss zur Annahme bringen: Nehmt den Beschluss über das Monopol jetzt an, aber bringt die Frage trotzdem vor den Parteikongress und erklärt das jetzt ausdrücklich! Kein anderer Kompromiss würde irgendwie für uns annehmbar sein.

Lenin.

Telefonisch diktiert an L. F.

Den 15. Dezember 1922."

Genosse Trotzki!

Ich glaube, wir sind zu einem völligen Einvernehmen gekommen. Ich bitte Sie, unsere Solidarität im Plenum bekanntzumachen. Ich hege die Hoffnung, dass unsere Ansicht durchgehen wird, denn ein Teil von denen, die im Oktober gegen uns gestimmt haben, haben sich jetzt teilweise oder vollständig auf unsere Seite gewandt. Sollte wider Erwarten unsere Ansicht nicht durchdringen, so werden wir uns an unsere Fraktion im Sowjetkongress wenden und erklären, dass wir die Frage vor den Parteikongress bringen werden.

Benachrichtigen Sie mich in diesem Falle, damit ich meine Erklärung einsenden kann. Sollte man die Frage von der Tagesordnung des jetzigen Plenums absetzen (was ich nicht erwarte und wogegen Sie natürlich mit aller Ihrer Energie in Ihrem und meinem Namen protestieren müssten), dann werden wir uns trotzdem an die Fraktion des Sowjetkongresses wenden und die Übermittlung der Angelegenheit an den Parteitag verlangen. Denn irgendein weiteres Hinausschieben darf in keinem Falle stattfinden.

Das ganze Material, das ich Ihnen zusandte, können Sie bis nach den Plenarsitzungen bewahren.

Ihr

Lenin.

Den 15. Dezember 1922."

Leo Davidowitsch!

Professor Förster erlaubte heute Wladimir Iljitsch, einen Brief zu diktieren, und er diktierte mir den folgenden Brief an Sie:

,Genosse Trotzki!

Es scheint, wir haben die Festung eingenommen, ohne einen Schuss abzufeuern, einfach durch Manövrieren. Ich schlage vor, jetzt nicht haltzumachen, sondern den Angriff fortzusetzen und zu dem Zwecke, in einer Resolution für den Parteikongress einen Antrag auf Verstärkung und bessere Durchführung des Monopols des auswärtigen Handels zu stellen. Künden Sie das der Fraktion des Sowjetkongresses an. Ich hoffe, dass Sie keine Einwendungen haben und eine Rede auf der Fraktionssitzung halten werden.

N. Lenin.'

Wladimir Iljitsch bittet Sie auch, ihm telefonisch zu antworten.

N. K. Ulianowa.

Den 21. Dezember 1922."

Weder der Inhalt noch der Ton dieser Briefe bedürfen irgendeiner Erklärung.

Über die Frage des ausländischen Handels nahm das Zentralkomitee eine neue Entschließung an, durch die die alte aufgehoben wurde. Darauf beziehen sich die spöttischen Worte Lenins von einem Siege, der gewonnen wurde, „ohne einen Schuss abzufeuern".

Es bleibt nur noch eine Frage. Angenommen, unter den Genossen, die für die Resolution auf Zerstörung des Monopols des ausländischen Handels gestimmt haben, wäre auch Trotzki gewesen und auf der anderen Seite hätte Stalin an der Seite Lenins für die Aufhebung jener Resolution gekämpft, wie viele Bücher, Broschüren und Flugblätter wären dann wohl geschrieben worden, um die kleinbürgerliche und kulakenfreundliche Ketzerei Trotzkis zu beweisen?

Behördliche Wirtschaftsleitung

ich führte unser unüberlegtes Verkaufen auf die Planlosigkeit unserer ganzen Wirtschaftsführung zurück. Es gab nun Auseinandersetzungen im Politbüro über die Frage der staatlichen Wirtschaftsführung und die Befugnisse des Gosplans. Darunter war auch eine Auseinandersetzung zwischen mir und Wladimir Iljitsch. Ebenso gab es Auseinandersetzungen über die Persönlichkeiten in den Wirtschaftsbüros.

In seinen an die Mitglieder des Politbüros gerichteten Briefen über den Gosplan schrieb Wladimir Iljitsch am 27. Dezember 1922 folgendes:

Zu dem Antrag, dem Gosplan das Recht zu gesetzlichen Bestimmungen zu geben:

Genosse Trotzki hat diesen Gedanken, wie es scheint, schon vor längerer Zeit geäußert. Ich war damals dagegen, weil ich glaubte, dass dadurch unser ganzes gesetzgeberisches System durchbrochen würde. Nachdem ich aber noch einmal die ganze Sache gründlich erwogen habe, finde ich doch, dass ein im Grunde gesunder Gedanke darin steckt. Der die staatliche Wirtschaftsführung leitende Gosplan steht etwas abseits von unseren gesetzgebenden Einrichtungen, obgleich er als ein beratender Mittelpunkt von Leitern, Sachverständigen und Vertretern der Wissenschaft und der Technik natürlich die besten Unterlagen für eine richtige Beurteilung der Dinge besitzt … In dieser Hinsicht muss ich mich also zu der Ansicht des Genossen Trotzki bekehren, nicht aber, soweit man das Präsidium des Gosplans einem unserer politischen Führer oder dem Vorsitzenden des höchsten Wirtschaftsrates übertragen will."

Diese Meinungsverschiedenheiten waren ja in Lenins Brief an mich über die Frage des Monopols für den ausländischen Handel erwähnt. Lenin schlug darin vor, diese Frage vorläufig beiseite zu schieben und bezeichnete sie – nicht ganz richtig – als eine rein verwaltungsrechtliche Frage. Ich wollte zwar eine umfassende Verstärkung der Wirtschaftsführung und eine Unterstellung der Arbeit sämtlicher Abteilungen unter den Gosplan, aber ich dachte nicht daran, diesem nun die Verwaltungsbefugnisse zu geben, die wie bisher in den Händen der Arbeiter- und Soldatensowjets bleiben sollten. Doch nicht darum handelt es sich jetzt hier. Sowohl der Inhalt wie der Ton des Briefes zeigen, wie ruhig, wie durchaus sachlich Lenin den vorhergegangenen Meinungsstreit betrachtete, indem er dem Politbüro vorschlug, diese Meinungsverschiedenheiten durch eine ziemlich enge Annäherung an die von mir verteidigten Gedanken zu beseitigen. Wie viele Lügen hat man der Partei über diese Dinge erzählt!

Mit Lenin gegen Stalin

Ich will hier nicht Lenins entscheidenden Brief gegen Stalin über die Nationalitätenfrage zitieren. Er ist in den stenographischen Berichten des Plenums vom Juli 1926 gedruckt, und er ist vor allem in Flugblättern verbreitet worden. Es wird nicht gelingen, diesen Brief zu verbergen. Aber es gibt noch andere, der Partei völlig unbekannte Dokumente der gleichen Art. Die Archivare und Historiker der Stalinschen Schule ergreifen jede Maßnahme, um diese Dokumente am Erscheinen zu hindern. Sie werden es auch in Zukunft tun, und sie sind durchaus imstande, sie einfach zu zerstören.

Aus diesem Grunde halte ich es für notwendig, hier die wichtigsten Stellen des frühesten Briefes Lenins über den Aufbau der Sowjetunion mit der Antwort Stalins anzuführen. Lenins Brief, der vom 27. September 1922 datiert war, richtete sich an Genosse Kamenew, doch wurde eine Abschrift an alle Mitglieder des Politbüros gesandt. Hier ist der Beginn des Briefes:

Sie haben wohl schon von Stalin den Beschluss seiner Kommission über die Zulassung unabhängiger Republiken in die Sowjetunion erhalten.

Wenn Sie ihn noch nicht bekommen haben, dann lassen Sie sich ihn vom Sekretär geben, und bitte lesen Sie ihn sofort. Ich sprach darüber gestern mit Sokolnikow, heute mit Stalin, und morgen will ich Mdiwani sehen (einen georgischen Kommunisten, den man verdächtigt, nach ,Unabhängigkeit' zu streben).

Nach meiner Ansicht ist die Frage unendlich wichtig. Stalin zeigt eine leise Neigung, eilig vorzugehen. Sie müssen die Sache wohl überlegen. Sinowjew auch. (Sie wollten doch einmal diese Frage genauer untersuchen und taten es auch in gewisser Hinsicht.)

Stalin hat sich schon zu einer Einschränkung verstanden. Anstatt von einem ,Eintritt' in die Sowjetrepublik, spricht er jetzt von einer ,formellen Vereinigung' mit uns in einer Union der Sowjetrepubliken von Europa und Asien. Ich denke, der Sinn dieser Einschränkung ist klar. Wir erklären, dass wir auf gleicher Basis mit der ukrainischen und mit andern Republiken stehen, und wir treten mit ihnen in völliger Gleichheit in eine neue Union, in eine neue Föderation, in die Union der Sowjetrepubliken von Europa und Asien."

Es folgt nun eine ganze Reihe von Verbesserungen Lenins in der gleichen Art. Im Schlussteil seines Briefes sagt Lenin:

Stalin war damit einverstanden, die Resolution erst nach meiner Ankunft im Politbüro vorzulegen. Ich komme am Montag, dem 2. Oktober, und möchte eine Besprechung von einigen Stunden mit Ihnen und Rykow haben – vielleicht des Mittags etwa von eins bis zwei, und dann, wenn es nötig, noch des Abends von fünf bis sieben oder von sechs bis acht.

Hier ist mein einstweiliger Plan. Auf der Grundlage einer Unterredung mit Mdiwani und andern Genossen will ich dafür kämpfen und ihn durchzusetzen suchen. Ich bitte Sie dringend, dasselbe zu tun und mir zu antworten.

Ihr

Lenin.

P. S. Senden Sie Abschriften an alle Mitglieder des Politbüros."

Stalin übersandte seine Antwort an Lenin am selben Tag, am 27. September 1922, an die Mitglieder der Politbüros. Ich zitiere aus dieser Antwort zwei wichtige Stellen:

Lenins Abänderung zu Paragraph 2, die den Vorschlag macht, zum Zentralkomitee der russischen Republik noch einen Zentralkomitee der Föderation hinzuzufügen, sollte nach meiner Ansicht nicht angenommen werden. Das Bestehen zweier Zentralkomitees in Moskau, von denen einer offenbar ein ,Unterhaus' und der andere ein ,Oberhaus' darstellen wird, gibt uns nur unnötige Konflikte und Debatten."

Und weiter:

Hinsichtlich des Paragraphen 4 scheint es Genosse Lenin selbst etwas ,eilig' zu haben, indem er eine Verschmelzung der Kommissariate der Finanz, der Nahrungsversorgung, der Arbeit und der Volkswirtschaft mit den Kommissariaten der Föderation verlangt. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass diese ,Eile' Wasser auf die Suppe der Advokaten der ,Unabhängigkeit' zum Schaden des Nationalliberalismus Lenins sein wird.

Lenins Verbesserung zu Paragraph 5 ist nach meiner Meinung überflüssig.

J. Stalin."

Diese außerordentlich bezeichnende Korrespondenz, die man wie so viele andere Dokumente vor der Partei verborgen hält, ging dem berühmten Brief Lenins über die Nationalitätenfrage voraus. In seinen Bemerkungen über Stalins Vorgehen ist Lenin außerordentlich zurückhaltend und sanft in seiner Ausdrucksweise. Lenin hoffte damals noch immer, die Angelegenheit ohne schwere Zusammenstöße beilegen zu können. Darum wirft er Stalin vorsichtig seine „Eile" vor. Stalins gegen Mdiwani erhobene Beschuldigung der „Unabhängigkeit" setzt Lenin in Gänsefüßchen, um so deutlich von dieser Beschuldigung abzurücken. Noch mehr, Lenin betont ausdrücklich, dass er seine Verbesserung auf der Grundlage einer Besprechung mit Mdiwani und andern Genossen beantragen wolle.

Stalins Antwort zeichnet sich im Gegensatz dazu durch Grobheit aus. Der Schlusssatz zum vierten Punkt ist einer besonderen Beachtung wert:

Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese ,Eile' Wasser auf die Suppe der Advokaten der ,Unabhängigkeit' zum Schaden des Nationalliberalismus (!) Lenins sein wird."

Soweit war es also mit Lenin gekommen, dass man ihn des Nationalliberalismus beschuldigte.

Der weitere Verlauf des Kampfes um die Nationalitätenfrage zeigte Lenin, dass er auf keine Weise Stalin mit innerlichen Gründen und freundlichen Worten beeinflussen konnte, sondern dass es notwendig war, sich an den Kongress und an die Partei zu wenden. Zu diesem Zwecke schrieb Lenin in einzelnen Abschnitten seinen Brief über die Nationalitätenfrage.

Wladimir Iljitsch maß vor allem der georgischen Frage eine ungeheure Bedeutung zu, nicht nur weil er die Folgen einer falschen nationalen Politik in Georgien fürchtete – eine Furcht, die sich als wohlbegründet erwiesen hat –, sondern auch, weil ihm durch diese Frage die ganze Verkehrtheit der Stalinschen Ansichten im Nationalitätenproblem und in anderen Problemen enthüllt wurde. Den wichtigen, entscheidenden Brief Lenins hat man bis zum heutigen Tag der Partei vorenthalten. Der Vorwand, Lenin habe nicht gewollt, dass der Brief von der Partei gelesen werde, ist durch und durch falsch. Wollte Lenin, dass seine Bemerkungen in Notizbüchern und an den Rändern der von ihm gelesenen Bücher veröffentlicht würden? Die Sache liegt so, dass man alles, was direkt oder indirekt gegen die Opposition gerichtet sein könnte, veröffentlicht, dass man aber den Brief Lenins, der das Wesentliche seines Programms über die Nationalitätenfrage gibt, unterschlägt.

Hier sind zwei Zitate aus diesem Briefe:

Ich glaube, dass hier die Eile und der Verordnungsdrang Stalins eine unheilvolle Rolle gespielt haben, ebenso aber auch sein Hass gegen den berüchtigten Sozialchauvinismus'. Hass spielt aber im allgemeinen eine höchst üble Rolle in der Politik." (Aus Lenins Aufzeichnung vom 30. Dezember 1922.)

Und dann in seiner Aufzeichnung vom 31. Dezember 1922 in noch schärferen Ausdrücken:

Man muss natürlich Stalin und Dserschinski für diesen wirklich großrussischen nationalistischen Feldzug verantwortlich machen."

Wladimir Iljitsch sandte mir diesen Brief in einem Augenblick, als er fühlte, dass er wohl kaum imstande sein würde, auf dem zwölften Kongress zu erscheinen. Hier ist die Mitteilung, die ich von ihm während der beiden letzten Tage seiner Teilnahme am politischen Leben erhielt:

Streng geheim. Persönlich.

Werter Genosse Trotzki:

Ich bitte Sie dringend, die Verteidigung der georgischen Angelegenheit im Zentralkomitee zu übernehmen. Diese Angelegenheit befindet sich in den Händen Stalins und Tscherschinskis zur Aburteilung, und ich kann mich nicht auf ihre Unparteilichkeit verlassen. Ganz im Gegenteil. Wenn Sie also die Verteidigung übernehmen würden, könnte ich beruhigt sein. Sollten Sie aus irgendeinem Grunde dazu nicht in der Lage sein, dann schicken Sie mir die gesamten Papiere zurück. Ich werde das als ein Zeichen Ihrer Ablehnung ansehen.

Mit den allerbesten kameradschaftlichen Grüßen

Lenin.

Den 5. März 1923.

Diktiert an M. V."

An Genossen Trotzki: Wladimir Iljitsch bittet mich, seinem Ihnen telefonisch gesandten Brief zu Ihrer Information hinzuzufügen, dass Genosse Kamenew Mittwoch nach Georgien geht. Wladimir Iljitsch lässt Sie fragen, ob Sie nicht auch von Ihrer Seite aus jemand dorthin schicken möchten.

Gezeichnet M. Woloditschiwa.

Den 5. März 1923."

An die Genossen Mdiwani, Macharatsche und andere (Kopie an die Genossen Trotzki und Kamenew):

Werte Genossen: Ich bemühe mich Ihrethalben aus vollem Herzen und bin entrüstet über die Rücksichtslosigkeit Ordschonikidses und die Zustimmung Stalins und Dserschinskis. Ich bereite Briefe und eine Rede für Sie vor. Mit Achtung

Lenin.

Den 6. März 1923."

An Genossen Kamenew (Kopie an Genossen Trotzki):

Leo Borissowitsch:

Im Anschluss an unsere telefonische Unterredung teile ich Ihnen als Präsidenten des Politbüros folgendes mit:

Wie ich Ihnen schon am 31. Dezember 1922 erzählte, hat Wladimir Iljitsch einen Artikel über die Nationalitätenfrage diktiert.

Diese Frage hat ihn sehr beunruhigt, und er beabsichtigte, darüber auf der Parteikonferenz eine Rede zu halten. Kurz vor seiner letzten Krankheit teilte er mir mit, er wolle diesen Artikel veröffentlichen, aber erst später. Dann erkrankte er, ohne endgültige Anordnungen zu geben.

Wladimir Iljitsch hielt diesen Artikel für bestimmend und außerordentlich wichtig. Auf seine Anweisung wurde er dem Genossen Trotzki mitgeteilt, den Wladimir Iljitsch beauftragt hatte, seine Ansicht über die vorliegende Frage, da sie mit der Trotzkischen durchaus übereinstimmte, auf der Parteikonferenz zu vertreten.

Die einzige Kopie des Artikels, die ich besitze, wird auf Anordnung Wladimir Iljitschs in seinem Geheimarchiv aufbewahrt.

Ich bringe diese Tatsachen zu Ihrer Kenntnis.

Ich konnte es nicht eher tun, da ich erst heute nach einer Erkrankung wieder zur Arbeit zurückkehren kann.

L. Fotiewa, Privatsekretärin des Genossen Lenin.

Den 16. März 1923."

Nach all den Verleumdungen, mit denen man Lenins Haltung gegen mich entstellt hat, kann ich nur auf die Unterschrift seines ersten Briefes – „mit den allerbesten kameradschaftlichen Grüßen" – hinweisen. Wer Lenins Wortkargheit und die Art seiner Unterhaltung und Korrespondenz kennt, weiß genau, dass Lenin diese Worte nicht zufällig an das Ende seines Briefes gesetzt hat. Es war auch nicht zufällig, dass Stalin, als er gezwungen war, diese Korrespondenz Juli 1926 auf dem Plenum vorzulesen, für die Worte „mit den allerbesten kameradschaftlichen Grüßen" die gebräuchliche Redewendung „mit kommunistischen Grüßen" unterschob. Auch hier wieder blieb Stalin sich selbst getreu.

Mit Lenin gegen Stalin, Rykow, Kalinin und Bucharin

Lenins Vorschlag, das Rabkrin, das Kommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion, neu zu gestalten, wurde von der Stalingruppe mit äußerster Feindseligkeit aufgenommen. Ich teilte dies in einer sehr zurückhaltenden Sprache am 23. Oktober 1923 in einem Briefe an die Mitglieder des Zentralkomitees mit. Von diesem Briefe gebe ich hier einen Abschnitt:

Wie reagierte das Politbüro auf Lenins Plan zur Neugestaltung des Rabkrin? Genosse Bucharin wollte Lenins Artikel nicht drucken lassen, während Lenin seinerseits auf dessen sofortigem Erscheinen bestand. N. K. Krupskaja1 sprach mit mir telefonisch über diesen Artikel und bat mich, dahin zu wirken, dass der Artikel so bald wie möglich gedruckt würde. In der gleich darauf auf meine Veranlassung einberufenen Sitzung des Politbüros waren alle anwesenden Genossen, Stalin, Molotow, Kuibyschew, Rykow, Kalinin und Bucharin, nicht nur gegen Lenins Plan, sondern sogar gegen den Druck des Artikels. Die Mitglieder des Sekretariats waren besonders schroff und kurz angebunden in ihrer Opposition. Schließlich schlug Genosse Kuibyschew, der spätere Leiter des Rabkrin, vor, man sollte in Hinsicht auf Lenins dringendes Verlangen, ihm den gedruckten Artikel vorzulegen, eine besondere Nummer der Prawda mit Lenins Artikel herausbringen und ihm zeigen, während der Artikel selbst verheimlicht bleiben sollte.

Ich wies darauf hin, dass die vom Genossen Lenin vorgeschlagene gründliche Reform, wenn sie richtig durchgeführt würde, einen wirklichen Fortschritt darstellte, dass es aber doch, selbst wenn das Gegenteil der Fall wäre töricht und lächerlich sein würde, die Partei vor den Vorschlägen des Genossen Lenin zu schützen. Man antwortete mir in dem gleichen, formellen Geist: ,Wir sind das Zentralkomitee Wir übernehmen die Verantwortung. Wir entscheiden darüber.' Ich wurde nur durch Genossen Kamenew unterstützt, der auf der Sitzung des Politbüros fast eine Stunde zu spät erschien.

Der Hauptgrund, der sie dann doch dahin brachte, den Artikel zu drucken, war der Gedanke, dass ein Artikel von Lenin auf keinen Fall vor der Partei verheimlicht bleiben dürfte. Später wurde dieser Artikel eine besondere Waffe jener, die ihn zuerst gar nicht drucken wollten, eine Waffe, die sie gegen mich zu verwenden suchten! Genosse Kuibyschew, damals ein Mitglied des Sekretariats, wurde an die Spitze des Kontrollkomitees und des Rabkrins gestellt. Statt gegen Lenins Plan offen zu kämpfen, ging man dazu über, diesem Plan ,die Zähne auszuziehen'. Ob auf diese Weise das Rabkrin zu einer unparteiischen, unabhängigen Einrichtung wurde, die in der Partei Gerechtigkeit und Einigkeit gegen alle behördlichen Eigenmächtigkeiten schützte – die Frage überhaupt nur zu stellen, ist wohl nicht nötig, denn die Antwort ist völlig klar."

Das Verhalten Stalins in dieser Frage zeigte mir zum ersten Male klar, dass der Vorschlag, das Kontrollkomitee und den Zentralkomitee zu reorganisieren, von Lenin einzig und allein gegen die damals schon außerordentliche bürokratische Macht Stalins und gegen seine Unehrlichkeit gerichtet war. Daher stammte auch Stalins hartnäckige Opposition gegen Lenins Plan.

Meine letzte Unterredung mit Lenin

Im Vorstand des Kontrollkomitees erzählte ich kürzlich meine letzte Unterredung mit Wladimir Iljitsch, nicht lange vor dem zweiten Anfall seiner Krankheit. Ich sagte folgendes:

Lenin berief mich in sein Zimmer im Kreml und sprach von dem furchtbaren Anwachsen des Bürokratismus in unserm Sowjetapparat und von der Notwendigkeit, ein Mittel zu finden, um mit diesem Problem fertig zu werden. Er schlug vor, eine besondere Kommission des Zentralkomitees zu bilden, und lud mich ein, tätigen Anteil an der Arbeit zu nehmen. Ich antwortete ihm: ,Wladimir Iljitsch, nach meiner Überzeugung dürfen wir bei dem jetzigen Kampf gegen den Bürokratismus im Sowjetapparat nicht vergessen, dass sich sowohl in den Provinzen, wie im Zentrum eine besondere Auswahl von Beamten und Spezialisten nach den Gesichtspunkten gewisser herrschenden Persönlichkeiten und Gruppen entwickelt hat. Sobald man die Sowjetbeamten angreift, rennt man gegen die Parteiführer an. Die Spezialisten gehören mit zu dieser Clique. Unter solchen Umständen kann ich diese Arbeit nicht unternehmen."

Wladimir Iljitsch dachte einen Augenblick nach und sagte dann – ich zitiere ihn fast wörtlich: „Das heißt, ich schlage einen Kampf gegen den Sowjetbürokratismus vor, und Sie wollen noch einen Kampf gegen den Bürokratismus des leitenden Parteibüros hinzufügen." (Stalin als Generalsekretär war der Vorsitzende dieses Büros.)

Ich lachte über diese unerwartete Bemerkung, denn eine so bestimmte Formulierung meines Gedankens hatte ich nicht im Kopf gehabt.

Ich antwortete: „Ich glaube, es ist so."

Dann sagte Wladimir Iljitsch: „Gut, ich bin einverstanden. Ich schlage Ihnen einen Bund mit mir vor."

Ich antwortete: „Ich bin immer bereit, einen Bund mit einem guten Mann zu schließen."

Gegen Ende unserer Unterredung meinte Wladimir Iljitsch, er möchte vorschlagen, zunächst eine Kommission für den Kampf gegen Bürokratismus im Allgemeinen zu bilden, und zwar durch den Zentralkomitee, und dann auf diese Weise später auch dem leitenden Parteibüro zu Leibe zu gehen. Über die Form der Kommission versprach er, noch weiter nachzudenken. Darauf schieden wir. Ich wartete dann zwei Wochen darauf, von ihm angeklingelt zu werden, aber Iljitschs Gesundheit verschlechterte sich unaufhörlich, und er musste sich bald zu Bett legen. Später sandte mir Wladimir Iljitsch durch seinen Sekretär seine Briefe über die Nationalitätenfrage. Und so wurde das Werk niemals durchgeführt."

Im innersten Wesen richtete sich jener Plan Lenins direkt gegen Stalin.

Lenin brach endgültig mit Stalin

Ja, es hat Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin und mir gegeben. Aber Stalins Versuche, daraufhin den allgemeinen Charakter unserer Beziehungen zu verdrehen, zerbrechen einfach an den Belegen aus jener Zeit, als die Dinge nicht durch Unterhaltungen und Abstimmungen, über die wir keine Berichte haben, sondern durch Briefwechsel entschieden wurden – ich meine, aus der Zeit zwischen Lenins erster und zweiter Erkrankung. Um einiges aufzuzählen:

In der Nationalitätenfrage bereitete Lenin für den zwölften Kongress einen entschiedenen Angriff gegen Stalin vor. Darüber berichtete mir seine Sekretärin in seinem Namen und in seinem Auftrag. Der Ausdruck, den sie am häufigsten wiederholte, war: „Wladimir Iljitsch bereitet eine Bombe gegen Stalin vor."

In seinem Artikel über das Kommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion, das Rabkrin, sagte Lenin am 4. März 1923:

Das Volkskommissariat des Rabkrin genießt gegenwärtig auch nicht den Schatten einer Autorität. Jeder weiß, dass ein schlechter organisiertes Institut als unser Kommissariat des Rabkrin einfach nicht existiert, und dass man von diesem Kommissariat überhaupt nichts erwarten kann … Zu welchem Zweck schafft man denn ein Kommissariat, wenn es die Arbeit in der übernommenen Weise weiterführt, nicht das geringste Vertrauen einflößt und wenn seine Worte keine Autorität haben? …

Ich frage jeden der jetzigen Leiter des Rabkrin oder irgendeinen Menschen, der in Verbindung mit ihm steht, ob sie mir auf ihr Gewissen hin sagen können, welchem praktischen Zweck solch ein Kommissariat wie das Rabkrin dient."

Stalin stand während der ganzen ersten Jahre der Revolution an der Spitze des Rabkrin. Lenins Ausbruch richtete sich ganz gegen ihn.

In demselben Artikel liest man:

Bürokratismus haben wir nicht nur in den Sowjetinstitutionen, sondern auch in der Partei."

Diese in sich schon völlig klaren Worte gewinnen eine besondere Bedeutung in Verbindung mit meiner oben angeführten letzten Unterredung mit Wladimir Iljitsch, in der von unserm geplanten Bund gegen das Organisationsbüro, als die Urquelle des Bürokratismus sprach. Diese bescheidene, echt Leninsche Bemerkung war durchaus auf Stalin gemünzt.

Über Lenins Testament braucht man nicht erst zu reden. Es ist angefüllt mit Misstrauen gegen Stalin, gegen seine Gewöhnlichkeit und Unehrlichkeit. Es spricht von einem möglichen Missbrauch der Gewalt von seiner Seite und von der dadurch herbeigeführten Gefahr einer Spaltung der Partei. Nur ein einziges Mal kritisiert das Testament die Parteiorganisation nämlich in dem Satz: „Entfernt Stalin von dem Posten des Generalsekretärs."

Und zum Schluss war der letzte Brief, den Lenin in seinem Leben schrieb, oder vielmehr diktierte, ein Brief an Stalin, in dem er alle parteigenössischen Beziehungen zu ihm abbrach. Genosse Kamenew erzählte mir von diesem Brief in derselben Nacht, in der er geschrieben wurde, in der Nacht vom 5. auf den 6. März 1923. Genosse Sinowjew sprach über den Brief auf der vereinten Sitzung des Zentralkomitees und des Kontrollkomitees. Die Existenz des Briefes wurde auch in der stenographischen Kopie des Zeugnisses der M. I. Ulianowa, der Schwester Lenins, bestätigt.

Indem Genosse Sinowjew auf dem Juliplenum des Jahres 1926 die „Warnungen" aufzählte, die Lenin Stalin gab, sagte er:

Die dritte Warnung aber bestand darin, dass zu Beginn des Jahres 1923 Wladimir Iljitsch in einem persönlichen Brief an Genossen Stalin alle parteigenössischen Beziehungen mit ihm abbrach."

M. Ulianowa suchte die Angelegenheit so darzustellen, als sei der Abbruch aller genossenschaftlichen Beziehungen, den Lenin Stalin in seinem letzten Brief vor seinem Tode ankündigte, durch persönliche und nicht durch politische Ursachen herbeigeführt. Ist es nötig, daran zu erinnern, dass bei Lenin persönliche Motive immer aus politischen, revolutionären und parteilichen Gründen herrührten? „Gewöhnlichkeit" und „Unehrlichkeit" sind gewiss persönliche Eigenschaften. Aber Lenin warnt die Partei vor ihnen nicht aus „persönlichen" Gründen, sondern im Interesse der Partei. Lenins Brief, in dem er alle parteigenössischen Beziehungen mit Stalin abbrach, hatte genau denselben Charakter. Dieser letzte Brief wurde nach dem Brief über die Nationalitätenfrage und nach dem Testament geschrieben. Eifrige Versuche sind seitdem gemacht worden, das moralische Gewicht des letzten Briefes Lenins herabzusetzen. Die Partei hat ein Recht, diesen Brief kennenzulernen!

So stehen die Tatsachen. So betrügt Stalin die Partei.

Einige Schlussfolgerungen

Alles bisher angeführte ist nur ein kleiner Teil der Tatsachen, Zeugnisse und Zitate, die ich zur Widerlegung des von Stalin, Jaroslawski und Genossen in den letzten zehn Jahren gefälschten Geschichtsbildes hinzufügen könnte.

Dabei muss ich noch bemerken, dass die Verfälschung sich nicht auf diese zehn Jahre beschränkt, sondern sich über die ganze vorhergehende Parteigeschichte ausbreitet und sie in einen ununterbrochenen Kampf des Bolschewismus gegen den Trotzkismus verwandelt. Die Fälscher fühlen sich in jener Epoche besonders frei, denn die Ereignisse liegen schon so weit zurück, dass sie sich nach Belieben passende Dokumente zusammensuchen können. Die Ansichten Lenins werden dabei durch einseitige Auswahl der Zitate in ihr Gegenteil verwandelt. Ich will mich aber jetzt nicht mit der früheren Periode meiner revolutionären Tätigkeit, mit den Jahren 1897 bis 1917 befassen, da die Veranlassung zu meiner jetzigen Verteidigungsschrift die Befragung nach meiner Teilnahme an der Oktoberrevolution und nach meinen Beziehungen zu Lenin sind.

Über die zwanzig Jahre, die der Oktoberrevolution vorausgingen, werde ich mich auf ein paar Zeilen beschränken.

Ich gehörte zu jener „Minorität" (Menschinstwo) des ersten Kongresses im Jahre 1903, aus der sich später der Menschewismus entwickelte. Ich blieb politisch und durch Organisation mit dieser Minorität bis zum Herbst 1904 verbunden – ungefähr also bis zur sog. „Landkampagne" der Neuen Iskra, als ich mit dem Menschewismus über die Fragen des bürgerlichen Liberalismus und die Aussichten der Revolution in einen unlöslichen Konflikt geriet. Im Jahre 1904, also vor dreiundzwanzig Jahren, habe ich politisch und organisatorisch mit dem Menschewismus gebrochen. Ich habe mich nie einen Menschewisten genannt oder als einen solchen betrachtet.

Auf dem Plenum des Zentralkomitees der Komintern gab ich am 9. Dezember 1926 in Bezug auf die Frage des „Trotzkismus" folgende Erklärung ab:

Allgemein gesprochen, glaube ich nicht, dass man durch biographische Nachforschungen grundsätzliche Fragen entscheiden kann. Es ist zweifellos, dass ich in manchen Fragen Irrtümer begangen habe, besonders während meines Kampfes gegen den Bolschewismus. Aber daraus folgt doch noch nicht, dass man politische Fragen nicht nach ihrem inneren Wert, sondern auf der Grundlage meiner Lebensgeschichte beurteilen darf. Sonst müsste man ja verlangen, dass die Biographien aller Delegierten hier öffentlich bekannt gemacht werden.

Ich persönlich möchte dabei auf einen wichtigen Präzedenzfall hinweisen. In Deutschland lebte und lehrte ein Mann mit Namen Franz Mehring, der nur nach einem langen und energischen Kampf gegen die Sozialdemokratie (bis vor kurzem haben wir uns alle Sozialdemokraten genannt) und erst, als er zu hohen Jahren gekommen war, sich der sozialdemokratischen Partei anschloss. Mehring schrieb die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zuerst als ihr Feind, ihr entschiedener Widersacher, als ein Lakai des Kapitalismus – und später schrieb er sie um in jenes gefeierte Werk über die deutsche Sozialdemokratie als ihr treuer Freund. Auf der andern Seite haben Kautsky und Bernstein niemals offen gegen Marx gekämpft und standen beide lange unter dem Einfluss Friedrich Engels. Bernstein ist sogar berühmt als Herausgeber der Gesamtwerke von Engels2. Trotzdem starb Franz Mehring als Marxist und Kommunist, während die beiden andern, Kautsky und Bernstein, noch heute als reaktionäre Reformer leben. Das biographische Moment ist natürlich wichtig, aber in sich beweist es nichts.

Wie ich schon oftmals erklärt habe, war bei meinen Meinungsverschiedenheiten mit dem Bolschewismus über eine Reihe von wichtigen Fragen der Irrtum auf meiner Seite. Um annähernd und in wenigen Worten die Natur und die Ausdehnung meiner früheren Meinungsverschiedenheiten mit dem Bolschewismus zu schildern, möchte ich folgendes sagen:

Während der Zeit, als ich ausseits der bolschewistischen Partei stand, während der Periode, als meine Zwistigkeiten mit dem Bolschewismus ihren höchsten Punkt erreicht hatten, war die Entfernung, die mich von den Ansichten Lenins trennte, niemals so groß wie die Entfernung, die heute zwischen der Haltung Stalins und Bucharins und den wirklichen Grundlagen des Marxismus und Leninismus besteht.

Jede neue Stufe in der Entwicklung der Partei und der Revolution, jedes neue Buch, jede neue Modetheorie hat Bucharin zu einer neuen Schwankung und zu einer neuen Dummheit veranlasst. Seine ganze wissenschaftliche und politische Biographie ist eine Kette von Irrtümern, die äußerlich im Rahmen des Bolschewismus begangen wurden. Die Irrtümer Bucharins haben seit Lenins Tod in ihrer Zahl und besonders in ihren politischen Konsequenzen bei weitem alle seine früheren Irrtümer übertroffen. Dieser Scholastiker, der den Marxismus aller konkreten Wirklichkeit beraubt und ihn, oft in einfachen Wortklügeleien, zu einem Kinderspiel mit Ideen macht, hat sich natürlich als ein höchst geeigneter „Theoretiker" in dieser Zeit erwiesen, da die Parteiführerschaft vom proletarischen zum kleinbürgerlichen Geleise hinüber gleitet Ohne spitzfindige Wortspielereien ist das natürlich nicht möglich. Man versteht, warum Bucharin jetzt diese „theoretische" Rolle spielt.

In allen Fragen – es sind nur ganz wenige –, in denen Stalin versucht hat, eine selbständige Haltung einzunehmen, oder auch nur ohne direkte Leitung Lenins wichtige Fragen selbst beantwortet hat, hat er sich immer und unveränderlich – sozusagen aus seiner Natur heraus – auf einen opportunistischen Standpunkt gestellt.

Den Kampf Lenins gegen Menschewismus und Versöhnungspolitik denunzierte er aus dem Exil heraus als eines Emigranten „Sturm in einem Wasserglas".

Andere politische Dokumente über Stalins Gedankenart existieren, so viel ich weiß, überhaupt nicht, ausgenommen ein vielleicht korrekter, aber schuljungenartiger Artikel über die nationale Frage.

Die selbständige Haltung Stalins (vor der Ankunft Lenins) im Beginn der Februarrevolution war durch und durch opportunistisch.

Die selbständige Haltung Stalins gegenüber der deutschen Revolution von 1923 war durchaus passiv und zu Kompromissen geneigt.

Die selbständige Haltung Stalins gegenüber den Problemen der chinesischen Revolution ist weiter nichts als eine billige Neuausgabe von Martynows Menschewismus aus den Jahren 1903 bis 1905.

Die selbständige Haltung Stalins gegenüber den Problemen der englischen Arbeiterbewegung ist eine zentristische Kapitulation vor dem Menschewismus.

Man kann mit Zitaten jonglieren, die Berichte seiner eigenen Reden unterschlagen, die Verbreitung der Briefe und Aufsätze Lenins verbieten, ganze Meter fälschlich zusammengestellter Zitate fabrizieren. Man kann historische Dokumente unterdrücken, verhehlen und verbrennen. Man kann die Zensur sogar auf die photographischen und filmischen Wiedergaben revolutionärer Ereignisse ausdehnen. Alles dieses tut ja Stalin. Aber die Ergebnisse werden seine Hoffnungen nicht erfüllen.Nur ein beschränkter Geist wie der Stalins konnte sich einbilden, dass man über solchen kläglichen Verheimlichungsmanövern die gewaltigen Ereignisse der modernen Geschichte vergessen würde.

Im Jahre 1918 fand Stalin, der damals noch in den ersten Anfängen seines Feldzuges gegen mich war, es notwendig, wie wir alle wissen, die folgenden Worte zu schreiben:

Das ganze vorbereitende Werk des Aufstandes wurde unter der unmittelbaren Leitung des Präsidenten der Petersburger Sowjets, des Genossen Trotzki, durchgeführt. Wir können mit Gewissheit sagen, dass die Partei den schnellen Übergang der Garnison auf die Seite der Sowjets und die kühne Durchführung der Arbeit des revolutionären Soldatenkomitees in der Hauptsache und vor allem andern dem Genossen Trotzki verdankt."

In voller Verantwortung für meine Worte bin ich nun gezwungen zu sagen, dass die Partei die grausame Niedermetzelung des chinesischen Proletariats und der chinesischen Revolution, die Stärkung der Gewerkschaftsagenten des englischen Imperialismus nach dem Generalstreik von 1926 und die allgemeine Schwächung der Stellung der kommunistischen Internationalen und der Sowjetunion, in der Hauptsache und vor allem dem Genossen Stalin verdankt.

Am 21. Oktober 1927.

L. Trotzki.

1Hier folgt im Text, durch Kommas abgetrennt, der Einschub „der Redakteur der Prawda“. Aber Nadeschda Konstantinowna Krupskaja war nicht Redakteur der Prawda, sondern Lenins Frau. Diese phantasievolle Erläuterung fehlt in der anderen Übersetzung.

2In der anderen Übersetzung heißt es korrekt „literarischer Sachwalter“. Bernstein wurde von Engels testamentarisch zu seinem literarischen Nachlassverwalter bestimmt, er war aber nie Herausgeber der Gesamtwerke von Engels

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