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Leo Trotzki 19281200 China und die konstituierende Versammlung

Leo Trotzki: China und die konstituierende Versammlung

Über die Losungen der Demokratie für China

[Nach Leo Trotzki: China, Band 2, Berlin 1975, S. 135-139]

Gewisse Genossen, die meine Ansichten teilen was die Kräfte betrifft, die die chinesische Revolution beleben, und was die Einschätzung der Perspektiven dieser Revolution betrifft, haben Einwände gegen die demokratischen Losungen der Konstituierenden Versammlung. Natürlich haben diese Meinungsverschiedenheiten keine so große prinzipielle Bedeutung wie die Bewertung der wesentlichen Tendenzen der Kräfte der Revolution. Dennoch kann diese Frage in einer gewissen Periode ungeheure Bedeutung erlangen, wie das bei den Bolschewiki in Bezug auf die Haltung der Fall war, die man gegenüber der dritten Duma einnehmen sollte. Zu meinem größten Erstaunen sieht einer der Genossen, der die Losung der Konstituierenden Versammlung kritisiert, in dieser Losung ein Manöver meinerseits, um die chinesische Bourgeoisie zu „täuschen". Aus diesem Grund hält er mir einen Auszug aus meiner „Kritik des Programms der Kommunistischen Internationale" entgegen, die mit folgenden Worten beginnt: „Man kann Klassen nicht täuschen…" etc. Hier liegt ein typisches Missverständnis großer Tragweite vor. Alles Wesentliche in Bezug auf die politische Bedeutung der Losung der Konstituierenden Versammlung für China findet sich in meiner Arbeit „Die chinesische Frage nach dem VI. Kongress". Ich werde es hier nicht wiederholen. Wenn man in der Programmkritik danach sucht, welche allgemeine theoretische Argumentationsgrundlage für diese Losung gegeben wird, so wird man sie im Kapitel über die „wesentlichen Besonderheiten der Strategie in der revolutionären Epoche" finden, wo es heißt:

Ohne eine breite, allgemeine, dialektische Konzeption der augenblicklichen Epoche als einer Epoche abrupter Wendungen kann es keine wirkliche Erziehung junger Parteien geben, keine richtige Strategie des Klassenkampfes, keine genaue Übersicht seines Voranschreitens, und vor allem, keinen kühnen, abrupten und entschlossenen Waffenweichsel, sobald die Lage sich eindeutig ändert."

Einer meiner Kritiker erklärt: Die Losung, die Duxius zu verlassen und für die Einheit Chinas unter der Herrschaft der Sowjets einzutreten, bleibt weiterhin gültig. Was aber die Losung der „Konstituierenden Versammlung" betrifft, so sei sie „unannehmbar". Ich frage, warum. Wenn man der Ansicht ist, dass die Resolution des Februarplenums (1928) der Kommunistischen Internationale zutrifft, wo erklärt wird, dass „es richtig ist, sich für den Aufstand vorzubereiten", dann muss man selbstverständlich auch die Losung der Sowjets als richtig betrachten. Denn man muss logisch sein, ich aber war und bleibe der Ansicht, dass ein Aufruf zum Aufstand im Februar 1928 die kriminellste Dummheit ist, die man sich vorstellen kann. Längst vor dem Februar erstickte die Konterrevolution in China die Arbeiterklasse und die Partei. In „Die chinesische Frage nach dem VI. Kongress" habe ich klar die wesentlichen chronologischen Stufen der Lageveränderung in China aufgeführt, wobei ich mich auf unbestreitbare Tatsachen und Dokumente stützte. Das Land erlebt augenblicklich keine Revolution, sondern eine Konterrevolution. In einer derartigen Periode kann die Losung der Sowjets nur für wenige Kader einen Sinn haben, die dadurch auf die dritte chinesische Revolution in der Zukunft vorbereitet werden. Diese Vorbereitung ist offensichtlich außerordentlich wichtig. Um sie zu leisten muss die Losung der Sowjets neben der Losung stehen, die lautet: Kampf des Proletariats für die Diktatur an der Spitze der armen Bevölkerungsmassen und, vor allem, der armen Bauern. Aber neben der Vorbereitung durch Theorie und Propaganda der revolutionären Kader für die zukünftige Revolution, bleibt die Aufgabe, möglichst breite Kreise der Arbeiterschaft zu einer aktiven Teilnahme am politischen Leben der Periode zu bewegen, die wir durchschreiten. Augenblicklich wird das Land von einer Militärdiktatur verwaltet, die den oberen Schichten der Bourgeoisie und den ausländischen Imperialisten dient. Diese Diktatur, die vor Kurzem als Folge des revolutionären Kampfes (den wir schändlich und auf kriminelle Weise verloren haben) errichtet wurde, kann noch nicht stabil sein. Das möchte sie erst noch werden, indem sie das „Übergangsregime" der Fünf Kammern des Sun Yat-sen errichtet. Suns absurde und reaktionäre Erfindung (man veröffentlichte sie bei uns ohne viel Kritik, und das selbst zu einer Zeit, zu der seine Ideen die revolutionäre Bewegung in China hemmten), diese Phantasie eines Philisters wird nun zum Instrument, das als „nationale" und „konstitutionelle" Deckung des faschistischen Regimes dient, d. h. als Deckung für die Militärherrschaft der zentralisierten Kuomintang, die die Interessen des Kapitals auf konzentrierte Weise verkörpert. Aus eben diesem Grund stehen die Fragen des politischen Regimes und des Staates in China auf der Tagesordnung. Diese Probleme interessieren ganz unvermeidlich breite Schichten der Arbeiterschaft. In einer nicht-revolutionären Situation kann man auf diese Fragen keine andere Antwort geben, als die Losungen und Formeln der politischen Demokratie.

Wenn die Massenbewegung voranschreitet, und bei einer allgemeinen revolutionären Krise, werden die Sowjets – indem sie durch diese Bewegung wachsen und ihren momentanen Bedürfnissen dienen – zur natürlichen, verständlichen und dem „nationalen" Standpunkt nahestehenden Form für die Einheit der Massen und helfen der Partei, diese zum Aufstand zu führen. Was würde die Losung der Sowjets aber heute bedeuten, unter den in China bestehenden Verhältnissen? Man darf nicht vergessen, dass dort keinerlei Sowjet-Tradition existiert. Sie hätte selbst bei einer möglichen Niederlage bestehen können. Aber sie besteht nicht. Die reaktionäre Führung der Stalin-Bucharin sind der Grund hierfür. Wenn die Losung der Sowjets nicht aus einer Massenbewegung erwächst und sich nicht einmal auf die Erfahrungen aus der Vergangenheit stützt, so ist sie nichts als ein dürrer Aufruf: Macht es wie in Russland, d. h. dann ist es eine Losung der sozialistischen Revolution in ihrer reinsten, abstraktesten und absolutesten Form. Für Sowjets tritt man ein, um durch einen Aufstand die Macht für die Arbeiter und armen Bauern zu erobern. Aber heute muss man dem faschistischen Mechanismus der Kuomintang die Losungen der Demokratie entgegenstellen, d. h. die Losungen, die – bei Herrschaft der Bourgeoisie – der politischen Aktivität des Volkes ein möglichst breites Feld lassen.

Die Etappe der Demokratie hat für die Entwicklung der Massen eine große Bedeutung. Unter bestimmten Bedingungen kann die Revolution dem Proletariat erlauben, diese Etappe zu überspringen. Aber gerade, um für die Zukunft diese Operation zu erleichtern, die keineswegs einfach ist und deren Erfolg im Voraus nicht garantiert werden kann, muss man die zwischenrevolutionäre Periode voll ausnutzen, um die demokratischen Ressourcen der Bourgeoisie zu erschöpfen, indem man demokratische Losungen für die breiten Massen ausgibt und die Bourgeoisie dadurch zwingt, sich ständig in Widerspruch zu diesen Losungen zu stellen. Die Anarchisten haben diese marxistische Politik niemals begriffen. Die Opportunisten, die den VI. Kongress leiteten und die durch die Früchte ihrer Mühen tödlich erschreckt sind, begreifen sie auch nicht. Aber wir sind, Gott sei Dank, weder Anarchisten noch schmähliche Opportunisten, sondern Bolschewiki-Leninisten, d.h. revolutionäre Dialektiker, die die Bedeutung der imperialistischen Epoche und die Dynamik ihrer abrupten Wendungen begriffen haben.

Alma- Ata, Dezember 1928

L. Trotzki

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