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Leo Trotzki 19290930 Der chinesisch-sowjetische Konflikt und die Position der belgischen linken Kommunisten

Leo Trotzki: Der chinesisch-sowjetische Konflikt und die Position

der belgischen linken Kommunisten

[Nach Leo Trotzki: China, Band 2, Berlin 1975, S. 174-181]

Ich halte es für notwendig, besonders auf den Artikel des Genossen Van Overstraaten in Nr. 25 von „Le Communiste" zu antworten, und zwar aus drei Gründen: (a) Die Frage an sich hat eine entscheidende Bedeutung für die Bestimmung des Wegs der Opposition, (b) die belgische Opposition nimmt einen wesentlichen Platz in unseren internationalen Reihen ein; (c) der Genosse Overstraaten nimmt mit Recht eine führende Stellung in der belgischen Opposition ein.

Während sowohl in Deutschland als auch in Frankreich und in der Tschechoslowakei die linke Opposition nur eine Fraktion sein kann und soll, kann die belgische Opposition eine selbständige Partei werden, die der Sozialdemokratie unmittelbar entgegengesetzt ist. Es ist unbedingt die Pflicht der internationalen Opposition, der belgischen Opposition dabei zu helfen, den Platz einzunehmen, der ihr gebührt, und vor allem auch dabei, das tägliche Erscheinen ihrer Zeitung zu garantieren.

Um so wichtiger ist aber auch die Linie unserer belgischen Freunde in jeder einzelnen Frage für die gesamte internationale Opposition. Der Fehler von „Contre le Courant" hatte nur symptomatische Bedeutung. Der Fehler von „Le Communiste" kann politische Bedeutung erhalten. Daher halte ich es für unumgänglich, im Einzelnen zur Position des Genossen Overstraeten im sowjetisch-chinesischen Konflikt Stellung zu nehmen. Ich tue das so kurz wie möglich an Hand einiger einzelner Positionen, da ich die wesentlichen Überlegungen zu dieser Frage bereits in meiner Broschüre „Die Verteidigung der Sowjetrepublik und die Opposition" dargelegt habe.

1. Overstraeten schreibt: „Die Behauptung, der Thermidor vollende sich, wäre unserer Ansicht nach völlig absurd. Diese Behauptung wäre nicht nur ein böser Irrtum. Sie würde jederlei revolutionäre Tätigkeit vollkommen zunichte machen."

Das ist eine ausgesprochen wichtige Einstellung, die uns ganz eindeutig von den Ultralinken abgrenzt. Hier sind wir vollkommen mit dem Genossen Overstraeten einverstanden.

Aber Overstraeten hat nicht recht, wenn er meint, die Frage des Thermidor stehe nicht direkt in Beziehung zum sowjetisch-chinesischen Konflikt. Der Genosse Patri ("La Lutte des classes") enthüllte ganz richtig den grundlegenden Fehler Louzons, der den Imperialismus nicht nach Marx und Lenin versteht, sondern nach … Dühring. Aus marxistischer Sicht ist der Imperialismus das höchste Stadium des Kapitalismus, und ausschließlich auf der Grundlage des Kapitalismus denkbar. Für Dühring ist der Imperialismus „Interventions-" und „Eroberungs"-Politik im Allgemeinen, unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Absichten diese „Interventionen" und „Eroberungen" stattfinden. Aus diesem Grunde ist die Frage nach dem Klassencharakter des Sowjetregimes die Prämisse für die gesamte Debatte. Louzon sieht das als Formalist nicht. Aber Overstraeten ist Marxist. Seine Unterstützung Louzons in dieser Frage ist eindeutig ein Fehler.

2. Der Genosse Overstraeten unterstützt Louzon auch in seinem zweiten Fehler. Auf Grund meines Hinweises darauf, dass die Beibehaltung der Bahn in Händen der Sowjets nicht nur zum Schutz der russischen Revolution wichtig ist, sondern auch für die Entwicklung der chinesischen, schreibt Overstraeten: „R. Louzon bemerkt ganz richtig, dass eine solche Handlung der Sowjetunion die elementare Pflicht auferlegen würde, erbarmungslos für die Befreiung der gesamten Mandschurei von jederlei reaktionärer Unterdrückung zu kämpfen".

Mit anderen Worten: Entweder tritt die Sowjetunion freiwillig die Eisenbahn an den übelsten Unterdrücker der Mandschurei ab, oder sie ist verpflichtet, die Mandschurei mit einem Schlag von jeglicher Unterdrückung zu reinigen. Diese Alternative ist völlig unzutreffend. Wenn die Sowjetunion hinreichend stark wäre, wäre sie selbstverständlich verpflichtet, den unterdrückten Massen der Mandschurei und ganz Chinas mit der Waffe in der Hand zu Hilfe zu kommen. Doch dazu ist die Sowjetunion nicht stark genug. Aus diesem Mangel an Stärke ergibt sich aber keineswegs, dass sie eine politische Verpflichtung genau entgegengesetzten Charakters hat: nämlich die Verpflichtung, die Eisenbahn freiwillig an den Unterdrücker der Mandschurei und Agenten Japans abzutreten, der – nebenbei gesagt – tatsächlich der Einigung Chinas entgegenwirkt, auch eines Chinas unter der Herrschaft Tschiang Kai-scheks.

3. Overstraeten schreibt: „Der Vorschlag, die ostchinesische Eisenbahn einfach zurückzugeben, würde den chinesischen Massen sofort zeigen, wie verlogen die Beschuldigung Tschiang Kai-scheks ist, die Sowjetunion betreibe einen roten Imperialismus."

Hier wird die Abgabe der Eisenbahn an den Feind unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie man damit Propaganda machen und wie man am besten Tschiang Kai-schek entlarven kann. Aber wenn man dies Argument ausdehnen wollte, so müsste man sagen: Die Sowjetunion könnte die Beschuldigung eines roten Militarismus am besten widerlegen, indem sie alle ihre Waffen an ihre Bourgeoise-Nachbarn abliefert. Die beste Methode zu beweisen, dass man nicht vorhat, einen anderen zu überfallen, ist, sich selbst die Kehle durchzuschneiden.

4. Meinen „Fehler" formuliert Overstraeten folgendermaßen: „Er (Trotzki) schlägt eine fiktive Verteidigung der revolutionären Interessen des Proletariats der Mandschurei anstelle der Verteidigung der wirklichen ökonomischen Interessen der Sowjetunion vor.“

Hier treffen zwei falsche Gedanken zusammen. Erstens habe ich die Frage niemals vom Standpunkt der besonderen Interessen des mandschurischen Proletariats betrachtet. Für mich geht es um die Interessen der russischen und der chinesischen Revolution insgesamt. Die Mandschurei ist eines der wichtigsten und widerstandsfähigsten Aufmarschgebiete der chinesischen Konterrevolution. Auch die Kuomintang Tschiang Kai-scheks konnte die Lage in der Mandschurei – nicht formal aber faktisch – nur durch einen Krieg mit den Bewohnern des Nordens unter ihre Herrschaft bringen. Im Fall eines solchen Krieges wäre die Eisenbahn in der Hand von Zhang Zuolin ein bedeutendes Instrument auch gegen eine bürgerliche Einigung Chinas. Bei einer neuen, d.h. der dritten chinesischen Revolution, würde die Mandschurei unvermeidlich die Rolle spielen, die das Gebiet von Don und Kuban in der russischen Revolution oder die Vendée in der französischen Revolution spielte. Dieser Rolle wird natürlich auch die Eisenbahn unterworfen sein.

Der zweite Fehler des zitierten Abschnitts besteht darin, dass dort aus irgendeinem Grund nur von den ökonomischen Interessen der Sowjetrepublik im Osten die Rede ist, obgleich sie doch in Wirklichkeit eine recht sekundäre Bedeutung haben. Es geht hier um die Situation der UdSSR in der internationalen kapitalistischen Umzingelung. Der Imperialismus stellt die Elastitztät der Sowjetunion an verschiedenen Abschnitten der Front auf die Probe. Jede dieser „Proben" stellt folgende Frage – oder kann sie doch stellen –: Lohnt es sich wegen der chinesischen Eisenbahn Krieg zu führen? Lohnt es sich wegen der Mongolei Krieg zu führen? wegen Kardien? wegen Minsk und Weißrusslands? Wegen Grusinien? Lohnt es sich wegen der Zahlung der Zarenschulden Krieg zu führen, oder wegen der Rückgabe ehemals amerikanischer Fabriken an die Amerikaner? Oder wegen der Anerkennung der Rechte der russisch-asiatischen Bank usw.? Nur ein Formalist kann zwischen diesen Fragen einen prinzipiellen Unterschied machen. Tatsächlich handelt es sich praktisch um Varianten ein und derselben Frage: Muss man im gegebenen Fall kämpfen oder ist es günstiger, dem Druck des Imperialismus nachzugeben? Die Verhältnisse können diktieren, dem Druck nachzugeben (und das haben sie schon mehr als einmal getan). Aber dann muss man die Aufgabe von Positionen als erzwungene, partielle Kapitulation bezeichnen und sie nicht mit dem Prinzip der „nationalen Unabhängigkeit" bemänteln wollen, d. h. man darf aus der Not keine Tugend machen, wie die Deutschen sagen.

5. Meinen Hauptfehler sieht Overstraeten darin, dass ich die Frage der „Verteidigung der UdSSR stelle, bevor ich die Frage nach der Verteidigung des Friedens gestellt habe".

Hier gleitet Overstraeten leider völlig in den Pazifismus ab. Eine Verteidigung des Friedens gibt es überhaupt nicht, es sei denn man hält die verspätete Offenbarung der Herrn Briand darüber, dass es notwendig sei, die Kinder im Geiste der Nächstenliebe zu erziehen (und der Liebe zu den deutschen Reparationszahlungen) dafür. Für das sowjetische Proletariat stellt sich die Frage im sowjetisch-chinesischen Konflikt nicht in Bezug auf die Verteidigung des Friedens im Allgemeinen – welches Friedens? unter welchen Voraussetzungen? in wessen Interesse? – sondern um die Verteidigung der Sowjetrepublik. Das ist das wesentliche Kriterium. Erst danach kommt die Frage: Wie kann man die Verteidigung der Sowjetrepublik unter den gegebenen Umständen garantieren: durch Krieg oder durch ein zeitweises Nachgeben mit dem Ziel, sich vor einem Überfall zu retten. Diese Frage wird ungefähr so entschieden, wie die Gewerkschaften über die Frage entschieden, ob man den Kapitalisten, die den Lohn kürzen, Zugeständnisse machen oder einen Streik beginnen soll. Die Gewerkschaft wird – wenn Revolutionäre an ihrer Spitze stehen – die Frage nach dem Streik von der gesamten Situation abhängig machen, die sich aus dem Kräfteverhältnis beider Seiten zueinander ergibt, auf keinen Fall aber vom Prinzip der „Industrialisierung der Welt". Wenn man den sowjetisch-chinesischen Konflikt mit marxistischen Kriterien angeht, muss man zugeben, dass die Verteidigung des Friedens an sich ebenso unannehmbar ist, wie die Verteidigung der Industrialisierung der Welt, denn es geht in beiden Fällen um den Klassenkampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie, im nationalen oder internationalen Maßstab.

Wenn Overstraeten einfach gesagt hätte: „Lieber auf die chinesische Eisenbahn verzichten, und den Frieden erhalten", dann könnte man seine Haltung verstehen. Natürlich bleibe die Frage offen, ob ein derartiges Vorgehen den Appetit der Feinde (und ihrer sind viele) nicht noch reizen und damit die Situation noch weiter verschlechtern würde. Hierbei handelt es sich aber um eine praktische Einschätzung der Situation, was nichts mit der Philosophie des sowjetischen „Imperialismus" zu tun hat. Es ging nicht darum, gegenüber einer imaginären chinesischen Unabhängigkeit eine fiktive Pflicht zu erfüllen, sondern darum, sich von den Feinden freizukaufen. Das heißt nicht, die Verteidigung des Friedens höher stellen, als die Verteidigung der Sowjetunion, sondern nur, dass man der Ansicht ist, dass unter den gegebenen Umständen die Verteidigung der Sowjetunion am allerbesten dadurch erreicht werden kann, dass man einen Teil ihres Besitzes an die Klassenfeinde abgibt.

Nach der Zerschlagung der chinesischen Revolution und bei der Stabilisierung in Europa ist ein Krieg für die Sowjetunion besonders ungünstig. Daran kann es keinen Zweifel geben. Aber auch die gegnerische Seite entschließt sich schwer zum Krieg. Tschiang Kai-schek könnte nur bei aktiver Einmischung des Weltimperialismus einen Krieg beginnen. Für den Weltimperialismus aber hat das Verhalten des Proletariats, auch einzelner Teile, eine ungeheure Bedeutung. Wer schreit: Gebt dem Schützling Japans Zhang Zuolin oder dem konterrevolutionären Diktator Tschiang Kai-schek die Bahn, die der Sowjetrepublik gehört; wer diese Forderung mit der Losung „Hände weg von China" zu bemänteln sucht; der unterstützt offen oder versteckt die Anschuldigung, es gäbe einen roten Imperialismus; derjenige verändert allein damit das Kräfteverhältnis zugunsten von Zhang Zuolin, Tschiang Kai-schek und dem Weltimperialismus und vergrößert damit unter den gegebenen Bedingungen praktisch die Chance eines kriegerischen Zusammenstoßes.

6. In den ersten Wochen der Eroberung der Bahn ließen die Zeitungsnachrichten wie auch die Erklärungen der sowjetischen Regierung die Annahme auf eine weltweite Beilegung des Konfliktes zu. Die Tatsache aber, dass der Konflikt sich so lange hinzieht, kompliziert nicht nur die gesamte Lage ausgesprochen, sondern lässt auch die Vermutung zu, dass noch eine dritte Kraft aktiv am Spiel teilnimmt, von der wir bisher allzu wenig wissen. Ob die sowjetische Diplomatie richtig oder falsch manövriert hat – das ist eine andere Frage. Um sie zu entscheiden, stehen uns nicht alle notwendigen Daten zur Verfügung. Wenn sie aber taktische Fehler begangen hat, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass dies nicht in Bezug auf die imperialistische Zerstörung der nationalen Rechte Chinas geschehen ist, sondern in Bezug auf die faktische Einschätzung der Lage. Wenn – wie „Humaniste" in einem Artikel von 25. September fest voraussagt – der Krieg noch in diesem Herbst ausbricht, dann kann er unübersehbare Folgen haben. Wir wissen nicht, über welche Quellen der „Humaniste" verfügt. Aber die Opposition muss sich auch auf eine solch krasse Wendung gefasst machen.

Overstraeten beendet seinen Artikel mit zwei Losungen: „Für die Verteidigung der Sowjetunion!" „Gegen den Stalinismus!“ Beide Losungen sind vollkommen richtig. So hat die russische Opposition das Problem gesehen. Das bedeutet aber gerade, dass die Oppositionellen im Kriegsfall vollständig und bedingungslos auf der Seite der Sowjetrepublik stehen werden. Und schon jetzt müssen sie sich vor den Augen der Arbeitermassen eindeutig von all denen trennen, die in dieser grundlegenden Frage zweideutige Positionen einnehmen.

Konstantinopel, 30. September 1929

L. Trotzki

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