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Leo Trotzki 19301202 Aus einem Brief an A. Nin

Leo Trotzki: Aus einem Brief an A. Nin

[Nach dem handschriftlichen Übersetzung in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 1129, International Institute of Social History, Amsterdam. Dort wurde kein Empfänger identifiziert, ein kurzer Ausschnitt des Briefes wurde aber 1933 in die Trotzki-Nin-Korrespondenz aufgenommen]

2. Ich muss Ihnen sagen, dass die innere Lage Spaniens mich sehr beunruhigt. Sie haben gewiss Recht, einen solchen politischen Faktor wie die frische Erinnerung, die alle bürgerlichen Klassen von dem Regime Primo de Riveras bewahren, zu unterstreichen. Das ist bis zu einem gewissen Punkt das, was die Entwicklung des spanischen Faschismus aufhält. Jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt. Heute scheint es, als ob alle Klassen von demokratischen Prinzipien bewegt wären. Nun hat die erste Kampfwelle, die sich ohne das Eingreifen des Proletariers vollzog, kein positives Resultat ergeben. Ein Regime voll Ungewissheit, das des morgigen Tages nicht sicher ist, ist errichtet. Ein solches Regime kann sich schon seiner Natur selbst wegen nicht lange halten. Die ökonomische Weltkrise (ich weiß nicht, in welchem Ausmaße sie sich in Spanien fühlbar macht) muss das Gefühl der allgemeinen Unruhe steigern. Heute erzeugt dieser Zustand in den Reihen des Kleinbürgertums, vor allem seinem linken Flügel, den Studenten, lebhafte Sympathien für das Proletariat. Die breiten Massen beginnen bewusst oder unbewusst, im Proletariat die Kraft zu sehen, die berufen ist, Veränderungen herbeizuführen.

Der Streik ist die Waffe des Proletariats. Wir sehen, welche enormen Ausmaße die Streikbewegung annimmt, eben weil das Prol. beginnt, sich als die einzige Macht zu betrachten, die fähig ist, einen Ausweg aus der Landeskrise zu finden.

Welches sind die Perspektiven? Der Kampf der Arbeiterschaft wird sich weiter entwickeln bis zu seinem Sieg oder bis zu seiner endgültigen2 Niederlage. Ist der Sieg des Proletariats möglich? Die allgemeine Lage des Landes (leider kenne ich die politische Einstellung der Landbevölkerung nur sehr wenig) macht diesen Sieg sehr möglich. Aber der Zustand der proletarischen Organisationen und der Leitung des Proletariats schließt die Möglichkeit eines Sieges aus. Wie ich nach Ihrem Briefe beurteilen kann, folgen alle Organisationen und Gruppen dem Strome, d.h. nehmen an der Bewegung in dem Maße teil, in dem sie von ihr ergriffen werden. Keine Organisation hat ein revolutionäres Programm oder eine klar gezeichnete Perspektive. Die Sozialisten und die Anarcho-Syndikalisten sind ihrer Natur nach unfähig, die revolutionäre Bewegung zu leiten und zum Siege zu führen. Unter diesen Bedingungen kann sich die Streikbewegung entwickeln, immer schroffere und schroffere Formen annehmen, die das soziale Leben desorganisieren und die Krise verschärfen,ohne jedoch zu einem Ausweg zu führen. Das Kleinbürgertum, die Studenten inbegriffen, werden sich von der soz. Revolution abwenden.

Die faschistische Reaktion kann das Ergebnis einer ausweglosen revolutionären Krisis sein. Aber, gleich welche politischen Formen die Gegenrevolution annehmen wird, ihr Sieg bereitete sich unmittelbar durch den augenblicklichen Zustand der revolutionären Organisationen vor.

Ich denke, dass die linke Opposition gerade von dieser bedrohlichen Perspektive her den Ausgangspunkt für ihre Handlungen nehmen kann. Man muss es klar und offen allen revolutionären Organisationen und Gruppen sagen, wohin der ungestüme Gang der Ereignisse führt. Das eben Gesagte schließt unseren Block nicht mit den Anarcho-Syndikalisten aus, er muss vielmehr auf der Basis eines streng definierten Aktionsprogramms gebildet sein. Die Vereinigung der kommunistischen Kräfte ist die elementarste Schlussfolgerung der Situation (unter der Bedingung natürlich, dass die linke Opposition als Fraktion organisiert ist). Jedoch wie in Russland im Jahre 1905 und 1917 wartet die Bewegung nicht darauf, dass sich die Kommunisten organisieren. Ich habe keine genaue Vorstellung davon, wie die Generalstreiks in den Städten und in der Provinz heute organisiert und gelenkt werden. Es scheint mir jedoch, dass die Parole der Sowjets durch die ganze Lage angezeigt wird. Wenn man den Sowjets den Sinn (wieder)gäbe, den sie bei Anbeginn und während ihrer Entwicklung hatten: im Anfang waren sie nichts anderes als machtvolle Streikausschüsse! Keiner ihrer ersten Teilnehmer dachte auch nur daran, dass sie zukünftige Machtorganisationen seien. Ich gebe zu, dass das Wort Sowjet, das heute einen ganz anderen historischen Inhalt hat, einen Teil der Arbeiterschaft einfach abschrecken kann (obgleich ich dessen ganz und gar nicht sicher bin). In diesem Falle kann man im Anfang diese Organisation den Hauptsowjet für Streiks oder sogar das Zentralstreikkomitee nennen, jedoch unter der Bedingung, dass diese Organisation im ganzen Lande denselben Charakter und denselben Namen hat und dass dieser Name schnell populär wird. Es ist klar, dass die Sowjets nicht künstlich geschaffen werden dürfen. Jedoch bei jedem Lokalstreik, der die Mehrzahl der Korporationen umfasst und einen politischen Charakter annimmt, ist es unumgänglich, Sowjets zu schaffen. Das ist die einzige Organisationsform, die unter den gegebenen Umständen imstande ist, die Leitung der Bewegung in die Hand zu nehmen und sie der revolutionären Disziplin zu unterwerfen.

Ich glaube, dass die linke Opposition, so schwach sie auch sei, in sehr kurzer Zeit eine leitende Stellung in der Bewegung einnehmen kann, wenn sie die Initiative ergreift, die politischen Fragen (Agrarfrage) und die Frage der Organisation der Revolution auf die Tagesordnung zu bringen.

Ich sage ihnen offen, ich fürchte, dass die Geschichte die spanischen Revolutionäre wird anklagen müssen, dass sie sich eine außerordentlich günstige revolutionäre Lage haben entgehen lassen.

Ich erwarte voll Ungeduld und mit dem größten (ungeheuren) Interesse Ihre diesbezügliche Antwort.

2Oberhalb des Wortes in Klammer eingefügt: „entscheidenden“

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