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Leo Trotzki 19301126 Über Thermidor und Bonapartismus

Leo Trotzki: Über Thermidor und Bonapartismus

[Nach Kommunist. Organ der Linken Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten), 2. Jahrgang 1931, Nr. 1 (Januar), S. 4, und Nr. 2 (Februar), S. 3. Später hat Trotzki die Begriffe Thermidor und Bonapartismus anders verwandt, siehe „Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus“]

Historische Analogien muss man verständnisvoll anwenden, denn sonst können sie sich leicht in metaphysische Abstraktionen verwandeln, welche die Orientierung nicht erleichtern, sondern im Gegenteil auf den falschen Weg stoßen.

Einige Genossen in den Reihen der ausländischen Opposition glauben einen Widerspruch darin zu sehen, dass wir bald von thermidorianischen Tendenzen und Kräften in der UdSSR sprechen, bald von den bonapartistischen Zügen im Regime der WKP. Sie ziehen daraus sogar die Schlussfolgerung von einer Überprüfung unserer Grundbewertung des Sowjetstaates. Das ist falsch. Das kommt daher, dass die erwähnten Genossen die historischen Begriffe (Thermidorianertum, Bonapartismus) als abstrakte Kategorien auffassen, und nicht als lebendige, d. h. widerspruchsvolle Vorgänge.

In der UdSSR entwickelt sich ein erfolgreicher sozialistischer Aufbau. Allein dieser Vorgang geht äußerst widerspruchsvoll vor sich: sowohl dank der kapitalistischen Umgebung, wie dank der Gegenwirkung der inneren antiproletarischen Kräfte, wie auch dank der falschen Politik der Führung, die dem Einfluss der feindlichen Kräfte unterliegt.

Können, allgemein gesprochen, die Widersprüche des sozialistischen Aufbaus eine solche Spannung erreichen, die die Grundlagen des sozialistischen Aufbaus, gelegt von der Oktoberrevolution und befestigt von weiteren wirtschaftlichen Erfolgen – besonders durch die Erfolge des Fünfjahresplans – sprengen muss? Ja, sie können es.

Was würde in diesem Falle an Stelle der gegenwärtigen Sowjetgesellschaft in deren Gesamtheit (Ökonomik, Klassen, Staat, Partei) treten? Das gegenwärtige Regime als ein Übergangsregime vom Kapitalismus zum Sozialismus kann in dem oben genannten Falle nur durch den Kapitalismus ersetzt werden. Das wäre ein Kapitalismus von ganz besonderem Typus: dem Wesen nach ein kolonialer, mit Kompradoren-Bourgeoisie, ein Kapitalismus, der durch Widersprüche gesättigt ist und die Möglichkeit seiner progressiven Entwicklung ausschließt. Denn alle jene Widersprüche, welche nach unserer Hypothese zu einer Sprengung des Sowjetregimes führen könnten, würden sich sofort in innere Widersprüche des Kapitalismus verwandeln und sehr bald noch eine weit größere Schärfe annehmen. Das bedeutet, dass in der kapitalistischen Konterrevolution die Grundlage einer neuen Oktoberrevolution gelegt wäre.

Der Staat ist ein Überbau. Ihn ohne Berücksichtigung seines Charakters, der Produktionsverhältnisse und der Eigentumsformen betrachten (wie das z. B. Urbahns gegenüber dem Sowjetstaate tut) würde ein Verlassen des Bodens des Marxismus bedeuten. Doch der Staat ist, ebenso wenig wie die Partei, ein passiver Überbau. Unter der Einwirkung der Stöße, die von der Klassenbasis der Gesellschaft erfolgen, gehen im staatlichen und parteilichen Überbau neue Prozesse vor sich, die — in gewissen Grenzen — einen selbständigen Charakter besitzen, und wenn sie sich mit den Prozessen in der ökonomischen Basis vereinigen, eine entscheidende Bedeutung für den Klassencharakter des Gesamtregimes bekommen können, indem sie das Regime nach der einen oder nach der anderen Seite drehen.

Es wäre Doktrinarismus schlimmster Art, ein umgestülpter Konfusionismus à la Urbahns, wenn man glauben würde, dass die Tatsachen der Nationalisierung der Industrie, ergänzt durch die Tatsache des hohen Entwicklungstempos, bereits an und für sich eine Garantie für eine ununterbrochene Entwicklung zum Sozialismus, ganz unabhängig von den Prozessen in der Partei und im Staat, bietet. Wenn man so denkt, bedeutet das, dass man nichts von den Funktionen der Partei begriffen hat, deren doppelter und dreifacher Funktion in dem einzigen Lande der proletarischen Diktatur und gleichzeitig in einem wirtschaftlich rückständigen Lande.

Würde man für einen Augenblick annehmen, dass die Wirtschaftler einerseits und die führenden Schichten der Arbeiter andererseits sich vollständig von der Parteidisziplin, welche identisch ist mit der Staatsdisziplin, kosreißen, so wäre der Weg zum Sozialismus verbarrikadiert. Die nationalisierte Industrie würde sich in kämpfende Gruppen differenzieren, die Konflikte zwischen der Verwaltung der Trusts und den Arbeitern würden einen offenen Charakter anzunehmen beginnen, die Trusts würden eine immer größere Selbständigkeit bekommen. Der Anfang der Planwirtschaft müsste dabei naturgemäß zunichte werden, und das Außenhandelsmonopol dabei mit sich ziehen. Alle diese Prozesse, die zum Kapitalismus führen, würden unfehlbar den Zusammenbruch der Diktatur des Proletariats bedeuten. Droht das gegenwärtige Parteiregime, trotz der wirtschaftlichen Erfolge, mit dem Zerfall der Parteibindungen und der Parteidisziplin? Ohne weiteres. Es wäre verbrecherisch, die Gefahr der Entartung des Partei- und Staatsorganismus, auf der Basis der wirtschaftlichen Erfolge, zu unterschätzen. Die Partei besteht als Partei bereits heute nicht mehr. Sie ist durch den zentristischen Apparat erstickt worden. Aber es besteht eine Linke Opposition, die der zentristische Apparat wie Feuer fürchtet, und unter deren Peitschenschlägen er sein Zickzack macht. Schon dieses Verhältnis zwischen der Linken Opposition und dem zentristischen Apparat bildet das Surrogat einer Partei und hält die Rechten im Zaume. Selbst bei einer völligen und offenen Sprengung der offiziellen Parteibindungen wird die Partei nicht verschwinden. Nicht darum, weil ein Apparat vorhanden ist: dieser wird zuallererst ein Opfer seiner Verbrechen werden, – sondern darum, weil eine Linke Opposition vorhanden ist. Wer das nicht begriffen hat, hat nichts begriffen.

Doch wir reden jetzt nicht davon, wie und auf welche Weise die Opposition ihre Grundaufgabe erfüllen kann, der proletarischen Avantgarde zu helfen, die sozialistische Entwicklung gegen die Konterrevolution zu verteidigen. Wir gehen von der Annahme aus, dass das nicht gelungen ist, um sich ganz konkret die historischen Folgen eines solchen Misslingens vorstellen zu können. Wie bereits gesagt, könnte der Zusammenbruch der Diktatur des Proletariats nichts anderes als die Restauration des Kapitalismus bedeuten. Doch unter welchen politischen Formen diese Restauration vor sich gehen wird, wie die Reihenfolge dieser Formen sein würde und in welchen Kombinationen sie auftreten würden, das alles ist eine selbständige und dabei eine sehr komplizierte Frage. Selbstverständlich können nur Blinde glauben, dass die Wiedergeburt des Kompradoren-Kapitalismus mit der „Demokratie" vereinbar ist. Für den Sehenden ist es klar, dass die demokratische Konterrevolution völlig ausgeschlossen ist. Die konkrete Frage aber über die möglichen politischen Formen der Konterrevolution läßt nur eine bedingte Antwort zu.

Als die Opposition von der thermidorianischen Gefahr sprach, hatte sie vor allen Dingen den sehr wichtigen und bedeutenden Prozess in der Partei im Auge gehabt: das Anwachsen der von den Massen losgelösten Schicht jener Bolschewiki, die sozial gesichert, mit nichtproletarischen Kreisen verbunden und mit ihrer sozialen Lage zufrieden sind, ganz analog jener Schicht fett gewordener Jakobiner, die zum Teil eine Stütze, hauptsächlich aber der ausführende Teil des Thermidor-Umsturzes (1794) geworden sind und so den Weg für den Bonapartismus gebahnt haben. Indem die Opposition den Prozess der thermidorianischen Entartung analysierte, wollte sie damit durchaus nicht behaupten, dass der konterrevolutionäre Umsturz, falls ein solcher erfolgen sollte, unbedingt die. Form des Thermidors annehmen müsste, d. h. als eine mehr oder weniger lang andauernde Herrschaft von verbürgerlichten Bolschewiki mit einer formellen Aufrechterhaltung des Sowjetsystems – ähnlich dem, wie die Thermidorianer den Konvent aufrecht erhielten. Die Geschichte wiederholt sich niemals, am allerwenigsten bei einem derartig tiefen Unterschied der Klassenbasis. [Schluss folgt.]

[Schluss] Der französische Thermidor war im Keim bereits in den Widersprüchen des Jakobinerregimes enthalten. Aber dieselben Widersprüche hatte auch im Keim der Bonapartismus enthalten, d. h. das Regime der bürokratischen, militärischen Diktatur, die von der Bourgeoisie über sich geduldet wurde, um um so sicherer unter deren Schutz die Beherrschung der Allgemeinheit in eigene Hände zu bekommen. In der Jakobinerdiktatur sind bereits sämtliche Elemente des Bonapartismus enthalten, obwohl wir sie dort noch in einer unentwickelten Form und im Kampfe gegen die sansculottischen Elemente des Regimes treffen. Der Thermidor war lediglich zu einer vorbereitenden Etappe für den Bonapartismus geworden. Das war alles. Es ist kein Zufall, dass Bonaparte aus der jakobinischen Bürokratie die Bürokratie des Imperiums geschaffen hatte.

Indem wir in dem gegenwärtigen Stalinschen Regime Elemente des Thermidor und Elemente des Bonapartismus entdecken, verfallen wir keineswegs in Widersprüche, wie das jene glauben, für die Thermidorianertum und Bonapartismus abstrakte Begriffe bedeuten und nicht lebendige Tendenzen, die ineinander hinüber wachsen.

Die Staatsform, die ein konterrevolutionärer Umsturz in Russland im Falle des Gelingens (was ganz und gar nicht so einfach wäre) einnehmen würde, hängt vom Zusammenwirken einer Reihe konkreter Faktoren ab. In erster Linie hängt das von der Schärfe der wirtschaftlichen Gegensätze in jenem Augenblick und von dem Kräfteverhältnis der kapitalistischen und der sozialistischen Tendenzen In der Wirtschaft ab. Ferner von dem Kräfteverhältnis der proletarischen Bolschewiki und der bürgerlichen „Bolschewiki". Und endlich, von dem spezifischen Gewicht und vom Charakter der ausländischen Intervention. Es wäre jedenfalls der reinste Unsinn, zu glauben, dass das konterrevolutionäre Regime auf jeden Fall die Stadien des Direktoriums, des Konsulats und des Imperiums, durchlaufen müsste, um zur Restauration des Zarismus zu gelangen. Doch ganz gleich, wie das konterrevolutionäre Regime beschaffen sein wird, die Elemente des Thermidorianertums und des Bonapartismus werden auf jeden Fall in ihm Platz finden.

D. h. die bolschewistische Sowjetbürokratie, die zivile wie die militärische, wird darin eine mehr oder weniger große Rolle spielen, und das Regime selbst wird gleichzeitig eine Diktatur des Säbels über die Gesellschaft im Interesse der Bourgeoisie gegen Volk sein.

Darum ist es gegenwärtig wichtig, zu verfolgen, wie diese Elemente und Tendenzen sich gegenwärtig im Schoße der offiziellen Partei herausbilden, die auf alle Fälle das Laboratorium der Zukunft bleiben wird, d. h. also sowohl im Falle einer ununterbrochenen sozialistischen Entwicklung wie im Falle eines Durchbruchs der Konterrevolution.

Soll etwa das Obengesagte bedeuten, dass wir das Stalinsche Regime gleichsetzen dem Regime Robespierres? Keineswegs, wir sind ebenso weit entfernt von einer vulgären Analogie in Bezug auf die Gegenwart, wie auch in Bezug auf die mögliche oder wahrscheinliche Zukunft. Unter dem Gesichtswinkel der uns interessierenden Frage betrachtet, bestand das Wesen der Politik Robespierres in seinem sich immer mehr zuspitzenden Kampf gegen zwei Fronten: gegen die Sansculotten, d. h. gegen die Besitzlosen, wie gegen die „Faulenden", „Liederlichen", d. h. gegen die Jakobinerbourgeoisie. Robespierre führte die Politik eines Kleinbürgers durch, welcher versucht, sich zum Absoluten zu erheben. Daraus entstand sein Kampf gegen rechts und links. Auch ein proletarischer Revolutionär kann unter Umständen genötigt werden, den Kampf nach zwei Fronten zu führen. Doch dieser Kampf kann nur ein episodischer bleiben. Sein Hauptkampf bleibt der Kampf gegen die Bourgeoisie, der Kampf der Klasse gegen Klasse. Kleinbürgerliche Revolutionäre aber waren sogar in der Epoche ihrer historischen Kulmination stets und unabänderlich genötigt, den Kampf gegen zwei Fronten zu führen.

Gerade das hatte zu einer allmählichen Erdrosselung der Jakobinerpartei, zur Vernichtung des Jakobinerklubs und zur Bürokratisierung des revolutionären Terrors geführt, d. h. zu einer Selbstisolierung Robespierres, die dann einem Block seiner rechten und linken Gegner so leicht gestattet bat, ihn zu erledigen.

Die Ähnlichkeitszüge mit dem Stalinschen Regime sind hier augenscheinlich. Allein die abweichenden Züge sind stärker als die Ähnlichkeit. Das historische Verdienst Robespierres ist die schonungslose Reinigung der Gesellschaft von dem Gerümpel des Feudalismus. Allein vor dem Angesicht der zukünftigen Gesellschaft war Robespierre machtlos. Ein Proletariat als Klasse existiert noch nicht, der Sozialismus konnte nur einen utopischen Charakter besitzen. Die einzige reelle Perspektive war eine Perspektive der bürgerlichen Entwicklung. Der Sturz des Jakobinerregimes war unabänderlich.

Die damaligen Linken, die sich auf die Sansculotten, die Besitzlosen, die Plebs – eine sehr unsichere Hilfe – gestützt hatten, konnten keinen selbständigen Weg haben. Dadurch war der Block zwischen ihnen und den Rechten vorausbestimmt, wie auch letzten lindem die Anhänger Robespierres in ihrer Mehrheit die Rechten im weiteren Verlauf unterstützten. Dieser Prozess war der Ausdruck des politischen Sieges der bürgerlichen Entwicklung über die utopischen Prätensionen der Kleinbourgeoisie und über die revolutionären Krämpfe des Plebs.

Es ist überflüssig darüber zu reden, dass Stalin keinerlei Ursachen hat, auf die Verdienste eines Robespierres Anspruch zu erheben. Die Säuberung Russlands vom Gerümpel des Feudalismus und die Zertrümmerung der Restaurationsversuche war bereits in der leninschen Periode endgültig vollendet. Der Stalinismus ist durch die Abkehr vom Leninismus hochgewachsen. Allein diese Abkehr war niemals eine endgültige. Sie ist es auch heute nicht. Stalin führt keinen episodischen, sondern einen permanenten systematischen organischen Kampf gegen zwei Fronten. Das ist der Grundzug einer kleinbürgerlichen Politik. Rechts von Stalin befinden sich bewusste und unbewusste kapitalistische Restauratoren verschiedener Grade. Links – die proletarische Opposition. Diese Gliederungsart ist im Feuer der internationalen Ereignisse nachgewiesen worden. Die Erwürgung der Partei durch den Apparat wird nicht durch die Notwendigkeit des Kampfes gegen die bürgerliche Restauration hervorgerufen, – im Gegenteil, dieser Kampf verlangt die allergrößte Aktivität und Selbsttätigkeit der Partei –, sondern durch den Kampf gegen die Linke, oder, genauer, durch die Notwendigkeit für den Apparat, sich die Freiheit des ständigen Manövrierens zwischen den Rechten und den Linken zu sichern. Hier besteht die Ähnlichkeit mit Robespierre. Das ist jener Boden, auf dem die bonapartistischen Züge des Regimes Robespierre genährt wurden, die später zu dessen Untergang führten. Allein Robespierre hatte keine Wahl gehabt. Die Zickzacklinie Robespierres war der Ausdruck der Kämpfe des Jakobinerregimes.

Ist gegenwärtig in der UdSSR eine folgerichtige, revolutionäre Politik – auf proletarischer Grundlage, die Robespierre fehlte – denkbar? Und wenn es der Fall Ist, kann man darauf rechnen, dass diese Politik noch rechtzeitig durch Revolutionen in anderen Ländern gestützt werden wird? Von der Beantwortung dieser beiden Fragen hängt die Bewertung der Kampfperspektive der feindlichen Tendenzen, sowohl in der Wirtschaft wie in der Politik der Sowjetunion, ab. Wir Bolschewiki-Leninisten beantworten diese beiden Fragen bejahend und werden sie solange bejahend beantworten, bis die Geschichte durch Tatsachen und Ereignisse, d. h. durch einen schonungslosen Kampf auf Leben und Tod uns das Gegenteil beweisen würde.

So und nur so kann dieser Problem für Revolutionäre stehen, die sich als eine lebendige Kraft im Prozesse fühlen, im Gegensatz zu den Doktrinären, die den Prozess von außen betrachten und ihn in tote Kategorien zu zerlegen versuchen.

Wir beabsichtigen zu dieser Frage in einem anderen Zusammenhang in der nächsten Zeit zurückzukehren. Wir wollen hier nur einige besonders grobe und gefährliche Missverständnisse beseitigen. Die linke Opposition hat es jedenfalls nicht nötig, ihre Grundlagen zu überprüfen, bevor diese Überprüfung der letzteren nicht durch große historische Ereignisse auf die Tagesordnung gesetzt wird.

26. November 1930.

L. Trotzki.

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