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Leo Trotzki 19321228 Über jene, die das ABC vergessen haben

Leo Trotzki: Über jene, die das ABC vergessen haben

Gegen r.-w. und die Anderen

[Nach Permanente Revolution, 3. Jahrgang Nr. 1 (1. Januarwoche 1933), S. 4]

Der Protest einiger deutscher Genossen gegen den Artikel «Mit beiden Händen» kann auf zweierlei Art gedeutet werden. Erstens, als Suche nach einem geeigneten Vorwand zur Kapitulation; zweitens, als prinzipieller Fehler eines in Verwirrung geratenen ehrlichen Oppositionellen. Die erste Variante lasse ich beiseite: sie ist ohne theoretisches Interesse. Der zweite Fall verdient untersucht zu werden

Der Artikel «Mit beiden Händen» warnt davor, dass Stalins Politik sich in den wichtigsten Fragen solchen Entscheidungen genähert hat, die unabänderlichen Charakter annehmen können. Der Artikel erinnert daran, dass sich die Stalinfraktion dem Kelloggpakt und dem amerikanischen Abrüstungsprogramm angeschlossen hat. Über die Bewertung dieser ausnehmend wichtigen Handlungen gab es bei uns niemals Meinungsverschiedenheiten. Der Artikel führt das skandalöse Gespräch Stalins mit Campbell an, das sehr grell jenen Weg beleuchtet, den Stalin eingeschlagen hat.

«Aber glauben Sie denn etwa, dass Stalin wirklich zu Verrat fähig ist?», ertönt als Einwand. Ein erstaunliches Argument, das beweist, dass manche Genossen trotz ihrer Jugend dabei angelangt sind, das marxistische ABC zu vergessen. Bewerten wir denn die Politik in Abhängigkeit von einem vorweggenommenen Vertrauen oder Misstrauen zu dieser oder jener Person? Die politische Linie kommt zustande durch den Druck der Klassenkräfte und der objektiven Umstände und entwickelt ihre eigene Logik.

Im Jahre 1922 ging das Sowjetland durch eine schwere wirtschaftliche Krise hindurch. Auf dem Novemberplenum des ZK nahmen Stalin und andere einen Beschluss an, der im Wesen das Außenhandelsmonopol abschaffte. Wie einen solchen Beschluss charakterisieren? Als Verrat oder nicht als Verrat? Subjektiv wollte Stalin die sozialistische Zukunft gewiss nicht verraten. Doch die Abschaffung des Monopols unterscheidet sich in ihren unvermeidlichen und dabei in ihren nächsten Folgen in nichts von der Abschaffung der Nationalisierung der Produktionsmittel. Nicht umsonst bemühte sich in den ersten Jahren des Sowjetregimes die gesamte kapitalistische Welt aus allen Kräften um die «Milderung» des Außenhandelsmonopols. Objektiv war der Beschluss vom November 1922 ein Akt des Verrates am Sozialismus. Subjektiv wurde er möglich dadurch, dass Stalin und andere nicht über eine hinlängliche theoretische und politische Widerstandskraft gegen den Druck der Wirtschaftskrise verfügten.

Das historische Beispiel mit dem Außenhandelsmonopol beleuchtet am besten die heutige Streitfrage. Wir haben seither Stalins Politik in einer ganzen Reihe wichtigster geschichtlicher Etappen beobachten können. Wie seine Politik in China, d. h sein Bündnis mit Tschiang Kai-schek gegen das Proletariat bezeichnen? Wir bezeichneten sie immer als verräterisch. In diesem Falle war der rechte Zickzack des bürokratischen Zentrismus bis zu den letzten logischen Schlussfolgerungen geführt worden. Oder wird sich etwa ein Oppositioneller finden, der verneinen möchte, dass Stalins Politik in China der Bourgeoisie diente – gegen das Proletariat? Erinnern wir daran dass Stalin diese Politik durch die Niederschlagung jener russischen Bolschewiki ergänzte die dem chinesischen Proletariat gegen die Bourgeoisie helfen wollten Was ist das den anderes als Verrat?

Seit dem November i922 sind mehr als 10 Jahre verstrichen. Die Wirtschaftslage der UdSSR ist in eine ausnehmend scharfe Krisenperiode getreten. In der Weltlage gibt es gleichfalls nicht wenig Gefahren, die mit einem Male bei weiterer Verschärfung der inneren Schwierigkeiten sich verdichten können. Die verbrecherische Politik der durchgehenden Kollektivierung und der abenteuerlichen Industrialisierungstempos ist endgültig in die Sackgasse geraten. Bleibt man im Rahmen des bürokratischen Zentrismus, so gibt es keinen Ausweg. Möglich ist nur ein Suchen nach Palliativen und Verschleppungen. Ausländische Kredite könnten zweifellos eine Milderung der inneren Krise bewirken. Amerika sagt, es sei nicht bereit, auf die Kriegsschulden ohne «Äquivalente» zu verzichten. Es fordert Äquivalente auch für neue Kredite. Das Programm seiner Forderungen ist uns aus der Vergangenheit genügend bekannt: Anerkennung der Vorkriegs- und Kriegsschulden; «Milderung» des Außenhandelsmonopols; faktischer Bruch mit der Kommunistischen Internationale; Unterstützung der amerikanischen Politik im Fernen Osten usw.

Gewisse Zugeständnisse (in Bezug auf die Schulden z. B.) sind vollkommen zulässig. Aber gerade dieses Äquivalent interessiert die Vereinigten Staaten am wenigsten. Wie aber steht die Sache z. B. mit der Komintern? Schon das fünfte Jahr wird kein Kongress einberufen. Das ist wohl ein Zufall, wie? Eines der Motive Stalins ist zweifellos der Gedanke: es steht nicht dafür, Hoover zu reizen, die internationale proletarische Avantgarde wird schon irgendwie ohne Kongress auskommen. Was bleibt denn dann von der Komintern in Moskau? Klägliche Plenums unter Manuilskis Leitung, dessen Wert Stalin sehr gut kennt. Wäre es schwer, auf diese «Reste» zu verzichten?

Das Außenhandelsmonopol stellt als «Äquivalent» mehr Hindernisse dar. Aber auch hier kann von irgendwelchen absoluten Garantien nicht die Rede sein. Wenn vor zehn Jahren, als die Sowjetindustrie sich im Zustande völligen Verfalls befand, Stalin in dieser Frage auf die größten Zugeständnisse an das ausländische Kapital einging, so muss man desto mehr eine Übergabe der Positionen jetzt befürchten, wo die Industrie bedeutend gewachsen ist. «Wir sind so stark», wird der Apparat den Arbeitern sagen, «dass wir uns eine Milderung des Außenhandelsmonopols gestatten können». Die kapitulantenhafte Schwäche in Bezug auf das Weltkapital wird sich in diesem wie in vielen anderen Fällen unter dem Schein der Stärke verstecken.

Worauf sind eigentlich die Einwände der in Verwirrung geratenen Protestanten begründet? Auf dem Glauben an die guten Absichten Stalins. Nur darauf, auf mehr nicht. «Immerhin», denken oder sagen sie «hat doch Stalin die Sowjetrepublik bisher nicht verraten.» Welch bemerkenswerter Tiefsinn! Erstens, antworten wir, bestand einer der Gründe, die Stalin gezwungen haben, mit seiner Politik auf halbem Wege Halt zu machen, in den energischen Aktionen der Opposition, die nie von seligem Vertrauen triefte, sondern im Gegenteil die Arbeiter in jedem kritischen Moment zu entschlossener Wachsamkeit aufrief; zweitens hat Stalins Politik in China immerhin eine restlose Entfaltung gefunden und zum vollständigen Zusammenbruch der zweiten chinesischen Revolution geführt.

Hier wird der hoffnungslos in Verwirrung geratene Protestant, ins Hintertreffen geraten, eine neue Position einnehmen. «Das alles sind Ihre Vermutungen», wird er sagen, «Sie können sie nicht beweisen». Das ist richtig: um sie zu beweisen, muss man die Ergebnisse abwarten, d. h. den Zusammenbruch des Sowjetvaterlandes als Resultat der zu Ende geführten Politik des bürokratischen Zentrismus.

Stünde der Apparat unter Kontrolle der Partei; würden die Arbeiter die Fragen der Politik diskutieren und ihre Vollzugsorgane überprüfen können, wir hatten ernste Garantien einer konsequenten Verfolgung der Politik. Aber gerade das fehlt ja. Niemand außerhalb des engen und sich immer mehr verengenden stalinschen Zirkels weiß, welche Maßnahmen für den Ausweg aus der Krise vorbereitet werden. Kann man sich ernst verhalten zu jenem «Revolutionär» der in einer ähnlichen Lage, wo machtvolle historische Faktoren wirken, seine Perspektiven auf psychologischen Vermutungen oder auf moralischen Wertungen dieser oder jener Person aufbaut? Als Ustrjalow die Hoffnung ausdrückte, die Nep werde die bolschewistische Partei zum bürgerlichen Regime führen, sagte Lenin: «Solche Dinge, von denen Ustrjalow spricht, sind möglich. Die Geschichte kennt Umwälzungen aller Art; sich auf Überzeugung, Ergebenheit und ähnliche ausgezeichnete seelische Eigenschaften zu . verlassen, das ist eine in der Politik ganz unernste Sache». Lenin sagte das über die Partei im Jahre 1922. Was soll man jetzt sagen?

Manche der Protestanten beschwören anlässlich unseres Artikels das Gespenst Urbahns herauf: wir hätten uns angeblich seiner Einschätzung des Stalinismus genähert. Es ist eine Pein, ein solches Argument Ende Dezember 1932 analysieren zu müssen. Zwischen Urbahns und uns ging der Streit um das Wesen des Sowjetstaates. Urbahns konnte nicht verstehen und hat bis heute nicht verstanden, dass die zentristische Politik auf der Grundlage des proletarischen Staates noch keineswegs automatisch den Charakter des Staates ändert. Alles hängt vom Grade, vom Verhältnis der kämpfenden Kräfte, von der Etappe, die die widerspruchsvolle Entwicklung erreicht hat, ab. Der bürokratische Zentrismus schwächt die proletarische Diktatur, hemmt deren Entwicklung, untergräbt wie eine Krankheit, deren Knochengerüst, das Proletariat. Allein, Krankheit bedeutet noch nicht den Tod. Von einer Krankheit kann man geheilt werden. Urbahns aber erklärte die Diktatur für liquidiert, während wir für die Wiederbelebung und Festigung der noch lebendigen, noch bestehenden, wenn auch durch den stalinschen Zentrismus stark untergrabenen Diktatur kämpfen.

Was soll man aber von jenen Unglücks-Oppositionellen sagen, die aus der Tatsache des Bestehens der proletarischen Diktatur auf die Notwendigkeit des Vertrauens zum bürokratischen Zentrismus schließen, der diese Diktatur untergraben hat? Was sagen von solchen «Medizinern», die unerwartet die Entdeckung machen, es sei für das Wohlbefinden des Kranken das Beste, die Symptome seiner Krankheit zu übersehen, die Lage zu beschönigen und statt systematischer Behandlung sich mit der Hoffnung zu begnügen, der Kranke werde mit Gottes Hilfe von selbst gesunden?

Unsere Protestanten offenbaren ein ebenso tiefes Unverständnis für die Wechselbeziehungen zwischen Sowjetstaat und bürokratischen Zentrismus wie Urbahns. Nur übertünchen sie ihr Unverständnis mit einer von ihm abstechenden Farbe.

Nur das erschreckend niedrige Niveau, auf dem die Stalinbürokratie die kommunistische Bewegung hält, kann die im höchsten Grade betrübliche Tatsache erklären, dass Genossen, die während mehrerer Jahre in der Schule der Opposition gelernt haben, in so klägliche und kompromittierende Irrtümer verfallen können. Nichts zu machen! Wir werden einige Stunden mit der Wiederholung des ABC verlieren; hilft es nicht, dann werden wir über die hartnäckig Zurückbleibenden hinweg schreiten und vorwärtsgehen.

Prinkipo, den 28. Dezember 1932.

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