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Leo Trotzki 19330224 Gespräch mit einem sozialdemokratischen Arbeiter

Leo Trotzki: Gespräch mit einem sozialdemokratischen Arbeiter

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1, Nr 1 (Mitte März), S. 3 f. und 2 (Anfang April 1933), S. 4 f. und nach Schriften über Deutschland, Band 2, S. 449-72]

[Die Linke Opposition beabsichtigte eine Broschüre von Leo Trotzkis „Gespräch mit einem sozialdemokratischen Arbeiter“ herauszugeben. Die Ereignisse in Deutschland haben sie daran verhindert. Wir bringen nachstehend einen Abschnitt aus dieser Broschüre, der manchen Lesern vielleicht überholt erscheint. Wir drucken aber diese Arbeit deshalb, weil heute in Deutschland viele sozialdemokratische Arbeiter der Ansicht sind, die Schuld daran, dass die Einheitsfront nicht zustande gekommen sei, trüge allein die Schuld der KPD, die Sozialdemokratie habe ja die Einheitsfront gewollt. Eben diese irrige Ansicht widerlegt nachstehende Arbeit des Genossenschaften Trotzki.]

Über die Abwehr-Einheitsfront

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie sind sehr tief. Ich halte sie für unversöhnlich. Doch stellt der Gang der Ereignisse die Arbeiterklasse nicht selten vor Aufgaben, die das gemeinsame Vorgehen der beiden Parteien gebieterisch fordern. Ist dies möglich? Die geschichtliche Erfahrung und die theoretische Betrachtung beweisen, dass es vollauf möglich ist; alles hängt von den Bedingungen und vom Charakter der Aufgaben ab. So sind gemeinsame Aktionen bedeutend leichter zu verwirklichen, wenn es nicht um den Angriff des Proletariats im Namen neuer Ziele, sondern um die Verteidigung der alten Positionen geht.

Gerade so ist heute die Lage in Deutschland. Das deutsche Proletariat befindet sich im Zustand des Rückzugs und der Preisgabe von Positionen. Zwar gibt es nicht wenige Schaumschläger, die unaufhörlich von einem angeblich stattfindenden revolutionären Angriff brüllen; diese Menschen sind offensichtlich nicht imstande, ihre rechte Hand von der linken zu unterscheiden. Zweifellos wird auch die Stunde des Angriffs schlagen. Doch im gegenwärtigen Augenblick besteht die Aufgabe darin, den ungeordneten Rückzug aufzuhalten und die Kräfte für die Abwehr umzugruppieren. Die Aufgabe klar zu erfassen bedeutet in der Politik wie im Kriege, ihre Lösung zu erleichtern. Sich an Phrasen zu berauschen, heißt dem Gegner Hilfe leisten. Man muss klar sehen, was vor sich geht: Auf der ganzen Front vollzieht sich der Angriff des Klassenfeindes, d.h. des Monopolkapitals und des halb feudalen Grundbesitzes, die von der Novemberrevolution geschont wurden. Der Feind bedient sich dabei zweier Mittel von verschiedenem historischen Ursprung: erstens des militärisch-polizeilichen Apparates, den die vorhergehenden Regierungen, die auf dem Boden der Weimarer Republik wirkten, vorbereitet haben; zweitens – des Nationalsozialismus, d.h. der Kampftruppen der kleinbürgerlichen Konterrevolution, die vom Finanzkapital bewaffnet und gegen die Arbeiter gehetzt werden.

Die Aufgabe des Kapitals und der Junker ist klar: die Arbeiterorganisationen zertrümmern, die Arbeiter politisch entwaffnen, ihnen nicht nur die Angriffs-, sondern auch die Abwehrmöglichkeit nehmen. Wie wir sehen, haben zwei Jahrzehnte der Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und Bourgeoisie das Herz der Kapitalisten nicht im Geringsten erweicht. Diese Herren kennen nur ein Gesetz: den Kampf um die Profite. Und sie führen ihn hartnäckig, unnachgiebig, rücksichtslos, vor nichts zurückhaltend, am wenigsten vor ihren eigenen Gesetzen.

Die Ausbeuterklasse würde es vorziehen, die Entwaffnung und Zersetzung des Proletariats mit möglichst geringen Unkosten durchzusetzen, – ohne Bürgerkrieg, mit Hilfe militärisch-polizeilicher Mittel der Weimarer Republik. Aber sie befürchtet, und dies mit vollem Recht, dass „legale" Mittel allein nicht ausreichen werden, um die Arbeiter in den Zustand völliger Rechtlosigkeit zurückzuwerfen. Dazu braucht man als ergänzende Hilfskraft den Faschismus. Indessen will die durch das Monopolkapital hochgezüchtete Hitlerpartei keine ergänzende, sondern die entscheidende und einzige Macht in Deutschland werden. Über diese Frage gibt es unter den regierenden Bundesgenossen ununterbrochene Streitigkeiten, die zeitweise heftigen Charakter annehmen. Den Luxus gegenseitiger Intrigen können sich die Retter nur darum erlauben, weil das Proletariat seine Positionen kampflos räumt, weil es ohne Plan, ohne System, ohne Führung zurückweicht. Die Feinde sind so zügellos geworden, dass sie sich nicht scheuen, laut zu beraten, wie und wohin der nächste Schlag geführt werden soll: ob man den Angriff direkt aufs Haupt führt oder erst den linken kommunistischen Flügel abschneidet, ob man weit in den Rücken der Gewerkschaften einmarschiert und die Verbindungen abschneidet usw., usf. Über die Weimarer Republik reden die durch sie geretteten Ausbeuter nicht anders, als ginge es um einen alten Kochtopf – ob man sie noch eine Weile benutzt oder schon heute auf den Misthaufen wandern lässt?

Die Bourgeoisie besitzt die unbeschränkte Freiheit des Manövrierens, d.h. die Wahl der Mittel, der Zeit und des Ortes. Ihre Führer kombinieren die Waffen des Gesetzes mit den Waffen des Banditentums. Das Proletariat kombiniert nicht und kämpft nicht. Seine Reihen sind gespalten, und die Führer der proletarischen Truppen philosophieren flau über das Thema, ob es überhaupt notwendig ist, die Kräfte des Proletariats zu kombinieren; eben darin besteht das Wesen der endlosen Diskussionen über die so genannte Einheitsfront. Wenn die fortgeschrittenen Arbeiter die Lage nicht begreifen und nicht gebieterisch in den Streit eingreifen, dann wird das deutsche Proletariat für Jahre ans faschistische Kreuz geschlagen werden.

Ist es nicht zu spät?

Hier kann mich der sozialdemokratische Gesprächsteilnehmer mit den Worten unterbrechen: Kommen Sie mit der Propaganda der Einheitsfront nicht zu spät? Wo waren Sie früher? Ein solcher Einwand ist unberechtigt. Die Frage nach der Einheitsfront zur Abwehr des Faschismus wird nicht zum ersten Male erhoben. Ich erlaube mir, mich darauf zu berufen, was ich selber zu dieser Frage im September 1930, nach dem ersten großen Erfolg der Nationalsozialisten sagte. Mich an die kommunistischen Arbeiter wendend, schrieb ich: „Die Kommunistische Partei muss zur Verteidigung jener materiellen und geistigen Positionen aufrufen, die das Proletariat in Deutschland bereits errungen hat. Es geht unmittelbar um das Schicksal seiner politischen Organisationen, seiner Gewerkschaften, seiner Zeitungen und Druckereien, seiner Heime, Bibliotheken usw. Der kommunistische Arbeiter muss zum sozialdemokratischen Arbeiter sagen: ,Die Politik unserer Parteien ist unversöhnlich; aber wenn die Faschisten heute Nacht kommen, um die Räume Deiner Organisation zu zerstören, so werde ich Dir mit der Waffe in der Hand zu Hilfe kommen. Versprichst Du, ebenfalls zu helfen, wenn die Gefahr meine Organisation bedroht?' Das ist die Quintessenz der Politik der jetzigen Periode. Die gesamte Agitation muss in diesem Stil geführt werden.

Je entschlossener, ernsthafter und überlegter … wir diese Agitation führen werden, je sachlicher die organisatorischen Verteidigungsmaßnahmen sein werden, die wir in jedem Betriebe, in jedem Arbeiterviertel und Bezirk vorschlagen, umso geringer ist die Gefahr, dass der Angriff der Faschisten uns überraschen wird, umso größer ist die Gewissheit, dass dieser Angriff die Arbeiterreihen zusammenschweißen und nicht spalten wird."

Die Broschüre, aus der ich dieses Zitat anführe, ist vor 2½ Jahren geschrieben worden. Es kann heute nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, dass, wenn diese Politik rechtzeitig aufgenommen worden wäre, Hitler heute nicht Reichskanzler wäre und die Positionen des deutschen Proletariats unerschütterlich wären. Doch Vergangenes ist nicht zurückzunehmen. Infolge der gemachten Fehler und des Zeitverlustes ist die Aufgabe der Abwehr heute unvergleichlich schwieriger geworden, doch die Aufgabe selbst bleibt. Das Kräfteverhältnis kann auch heute noch jäh zugunsten des Proletariats geändert werden. Dazu braucht man einen Abwehrplan, ein Abwehrsystem, eine Kombination der Kräfte zur Abwehr. Aber zuallererst braucht man einen Willen zur Abwehr. Hier sei noch hinzugefügt: es verteidigt sich nur der gut, der sich nicht auf die Verteidigung zu beschränken beabsichtigt, sondern entschlossen ist, bei der ersten Möglichkeit zum Angriff überzugehen.

Und wie steht die Sozialdemokratie zu dieser Frage?

Der „Nichtangriffspakt"

Die sozialdemokratischen Führer schlagen der Kommunistischen Partei einen „Nichtangriffspakt" vor. Als ich zum ersten Mal einen derartigen Satz im „Vorwärts" las, dachte ich mir, dies sei ein zufälliger und nicht ganz gelungener Scherz. Aber nein, die Formel des „Nichtangriffspakts" ist in Umlauf gekommen und steht heute im Mittelpunkt aller Diskussionen. Unter den sozialdemokratischen Führern gibt es viele erfahrene und geschickte Politiker. Umso mehr muss man staunen, wie sie eine für ihre eigenen Ziele so untaugliche Parole wählen konnten.

Die Formel des Nichtangriffspakts ist von der Diplomatie entlehnt. Der Sinn derartiger Pakte besteht darin, dass zwei Staaten, die wohl genügend Gründe zum Kriege haben, sich für eine bestimmte Frist verpflichten, keine Waffen gegeneinander anzuwenden. Einen Pakt mit solchem streng begrenzten Inhalt hat z. B. die Sowjetunion mit Polen abgeschlossen. Wenn, sagen wir, zwischen Deutschland und Polen ein Krieg entstünde, so würde der Pakt die Sowjetunion keineswegs verpflichten, Polen zu Hilfe zu kommen. Nichtangriff ist Nichtangriff und weiter nichts. Er bedeutet durchaus nicht gemeinsame Abwehrhandlungen, sondern im Gegenteil, er schließt sie aus – sonst würde er einen anderen Charakter und auch einen anderen Namen tragen. Welchen Sinn hat dann diese Formel im Munde der sozialdemokratischen Führer? Drohen etwa die Kommunisten, die sozialdemokratischen Organisationen zu zerschlagen? Oder etwa umgekehrt: Plant die Sozialdemokratie einen Kreuzzug gegen die Kommunisten? Wenn man sich schon der Diplomatensprache bedienen will, so musste man nicht um einem gegenseitigen Nichtangriffspakt, sondern von einem Abwehrbündnis gegen einen Dritten reden, d.h. gegen den Faschismus. Die Aufgabe besteht nicht darin, dem bewaffneten Kampf zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten vorzubeugen – von einer solchen Gefahr kann keine Rede sein –, sondern darin, die Kräfte der Sozialdemokraten und Kommunisten gegen den bereits begonnenen bewaffneten Angriff der Nationalsozialisten zusammenzufassen.

So unglaublich es ist, die sozialdemokratischen Führer ersetzen die Frage der realen Abwehr gegen die bewaffneten Angriffe des Faschismus durch die Frage der politischen Polemik zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Das ist, als wolle man die Frage der Verhinderung einer drohenden Zugkatastrophe durch die Frage der gegenseitigen Höflichkeit zwischen den Fahrgästen der zweiten und dritten Klasse ersetzen.

Das Unglück besteht jedoch darin, dass die unglückselige Formel des „gegenseitigen Nichtangriffs" auch für jenen nebensächlichen Zweck untauglich ist, für welchen sie an den Haaren herbeigezogen wurde. Die Verpflichtung des Nichtangriffs zwischen zwei Staaten beseitigt durchaus nicht den Kampf unter ihnen, wie sie auch ihre gegenseitige Polemik, Intrigen und Gemeinheiten nicht beseitigt. Die offiziellen polnischen Blätter schreiben über die Sowjetunion trotz des Paktes nicht anders als mit dem Speichel eines tollen Hundes. Die Sowjetpresse ist ihrerseits sehr weit entfernt von Komplimenten an die Adresse des polnischen Regimes. Nein, die sozialdemokratischen Führer sind offensichtlich auf dem Holzwege, wenn sie versuchen, die Aufgaben der proletarischen Politik durch eine konventionelle Formel der Diplomatie zu ersetzen.

[Diese Arbeit L. D. Trotzkis wurde vor dem Reichstagsbrand und vor dem Einheitsfrontangebot der KI vom 5. März verfasst.

D. Red.]

Gemeinsam sich verteidigen, die Vergangenheit nicht vergessen, die Zukunft vorbereiten

Vorsichtigere sozialdemokratische Journalisten drücken sich folgendermaßen aus: Sie hätten nichts gegen „sachliche Kritik", aber sie seien gegen Verdächtigungen, Schimpferei und Hetze. Sehr lobenswerte Regeln! Doch wie findet man die Grenze, bei der die erlaubte Kritik in unzulässige Hetze übergeht, und wo ist der unvoreingenommene Richter? Demjenigen, der kritisiert wird, gefällt die Kritik in der Regel nie, insbesondere, wenn er im Grunde nichts einzuwenden weiß. Ob die Kritik der Kommunisten gut oder schlecht ist – das ist eine Frage für sich. Wenn Kommunisten und Sozialdemokraten darüber gleicher Meinung wären, gäbe es auch nicht zwei unabhängige Parteien. Aber gesetzt den Fall, die Polemik der Kommunisten ist schlecht. Verringert das etwa die tödliche Gefahr des Faschismus oder beseitigt es die Notwendigkeit der gemeinsamen Abwehr?

Betrachten wir jedoch die andere Seite der Medaille, die Polemik der Sozialdemokratie gegen den Kommunismus. Im „Vorwärts" (ich nehme die Nummer, die gerade auf meinem Tisch liegt) wird über die Rede Stampfers über den Nichtangriffspakt berichtet. Gleich daneben eine Karikatur: Der Bolschewik schließt mit Pilsudski einen Nichtangriffsvertrag ab, lehnt aber einen solchen Vertrag mit der Sozialdemokratie ab. Die Karikatur ist doch auch ein polemischer Angriff, dazu noch ein offensichtlich missglückter. Der „Vorwärts" vergisst einfach, dass ein Nichtangriffspakt zwischen den Sowjets und Deutschland zu einer Zeit bestand, als an der Spitze der deutschen Regierung der Sozialdemokrat Hermann Müller stand!

Im „Vorwärts" vom 15. Februar wird in der ersten Spalte die Idee des Nichtangriffspakts verteidigt, aber in der vierten Spalte derselben Seite werden die Kommunisten beschuldigt, dass ihr Betriebsrat bei Aschinger einen Verrat an den Interessen der Arbeiter beim Abschluss des Tarifvertrags begangen habe. So steht's geschrieben: „Verrat". Das Geheimnis dieser Polemik (sachliche Kritik oder Hetze?) ist einfach: Bei Aschinger stand die Neuwahl des Betriebsrats bevor. Kann man verlangen, der „Vorwärts" möge im Interesse der Einheitsfront auf derartige Angriffe verzichten? Dazu müsste der „Vorwärts" sich selbst aufgeben, d.h. aufhören, eine sozialdemokratische Zeitung zu sein. Wenn der „Vorwärts" daran glaubt, was er über die Kommunisten schreibt, so ist es seine direkte Pflicht, den Arbeitern über deren Fehler, Verbrechen und „Verrat" die Augen zu öffnen. Wie denn sonst? Die Notwendigkeit des Kampfbündnisses geht hervor aus der Tatsache des Vorhandenseins zweier Parteien, doch beseitigt sie diese Tatsache nicht. Das politische Leben geht weiter. Keine der Parteien kann, selbst beim ehrlichsten Verhalten zur Einheitsfront, ihren morgigen Tag vergessen.

1{Vor der gemeinsamen Gefahr müssen die Gegner die Reihen schließen

Stellen wir uns für einen Augenblick vor, ein kommunistisches Mitglied des Betriebsrats bei Aschinger sagte zu einem sozialdemokratischen Betriebsratsmitglied: „Da der Vorwärts meine Haltung in der Lohnfrage als verräterisch einschätzt, will ich nicht mit Dir gemeinsam mich gegen die Kugeln der Faschisten verteidigen". Auch bei größter Nachsicht könnte man das nicht anders als töricht nennen.

Der vernünftige Kommunist, der ernsthafte Bolschewik wird dem Sozialdemokraten sagen: „Du kennst meine Feindschaft gegenüber dem Vorwärts. Ich werde alles daransetzen, den verhängnisvollen Einfluss, den dies Blatt auf die Arbeiter hat, zu untergraben, und zwar durch Wort, Kritik und Überzeugung. Die Faschisten aber wollen den Vorwärts zerstören. Ich verspreche Dir, mit aller Kraft mit Dir zusammen Deine Zeitung zu verteidigen, aber ich erwarte, dass auch Du auf den ersten Appell hin kommst, die Rote Fahne zu verteidigen, gleichgültig, wie Du zu ihr stehst". Ist das nicht die richtige Art, diese Frage zu behandeln, und entspricht das nicht den elementaren Interessen des ganzen Proletariats?

Der Bolschewik verlangt vom Sozialdemokraten nicht, seine Meinung über den Bolschewismus und die bolschewistischen Blätter zu ändern. Er fordert auch nicht, dass der Sozialdemokrat sich verpflichtet, während der Zeit des Abkommens seine Meinung über den Kommunismus zu verhehlen. Eine solche Forderung wäre völlig unannehmbar. „Solange weder ich Dich, noch Du mich überzeugt hast", sagt der Kommunist, „werden wir einander in völliger Freiheit kritisieren, mit den Argumenten und Vokabeln, die wir beide für nötig halten. Aber wenn der Faschist uns einen Knebel in den Mund stoßen will, werden wir uns gemeinsam wehren!" Kann ein vernünftiger sozialdemokratischer Arbeiter dies Angebot ausschlagen?

Die Polemik zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Zeitungen mag noch so scharf sein – das wird die Drucker dieser Zeitungen nicht hindern, ein Kampfabkommen zu schließen, um die gemeinsame Verteidigung ihrer Druckereien gegen den Angriff der faschistischen Banden zu organisieren. Sozialdemokratische und kommunistische Reichstags-, Landtagsabgeordnete und Stadtverordnete müssen einander beistehen, wenn die Nazis zu Stöcken und Stühlen greifen. Braucht man weitere Beispiele?

Was in jedem besonderen Falle richtig ist, taugt auch zur allgemeinen Regel: Der unvermeidliche Kampf, den Sozialdemokratie und Kommunismus um die Führung der Arbeiterklasse führen, kann und darf sie nicht hindern, die Reihen zu schließen, wenn die Schläge die ganze Arbeiterklasse bedrohen. Ist das nicht klar?

Zweierlei Maß

Der Vorwärts entrüstet sich darüber, dass die Kommunisten die Sozialdemokraten (Ebert, Scheidemann, Noske, Hermann Müller, Grzesinski) beschuldigen, Hitler den Weg zu bereiten. Das ist sein gutes Recht. Aber er geht weiter: Wie kann man, ruft er, mit solchen Verleumdern eine Einheitsfront bilden! Ist das Sentimentalität oder prüde Empfindsamkeit? Nein, das schmeckt schon nach Scheinheiligkeit. Die Führer der deutschen Sozialdemokratie können nicht vergessen haben, dass Wilhelm Liebknecht und August Bebel viele Male erklärt haben, die Sozialdemokratie sei bereit, sich um bestimmter Ziele willen selbst mit dem Teufel und seiner Großmutter zu verständigen. Die Gründer der Sozialdemokratie erwarteten keineswegs, dass der Teufel seine Hörner ins Museum bringe und seine Großmutter sich zum Luthertum bekehre. Woher kommt nun die Prüderie der sozialdemokratischen Politiker, die seit 1914 durch die Einheitsfront mit dem Kaiser, mit Ludendorff, Groener, Brüning und Hindenburg hindurchgegangen sind? Warum zweierlei Maß für die Bourgeois-Parteien und für die Kommunisten?

Die Führer des Zentrums glauben, dass jeder Frevler, der die Dogmen der allein selig machenden katholischen Kirche leugnet, verloren und fortan der ewigen Pein anheim gegeben ist. Das hat Hilferding, der wohl kaum sehr stark an die unbefleckte Empfängnis glaubt, nicht abgehalten, mit den Katholiken eine Einheitsfront in Regierung und Parlament zu bilden. Die Sozialdemokraten haben gemeinsam mit dem Zentrum die „Eiserne Front" geschaffen. Nun, die Katholiken haben deshalb keinen Augenblick mit ihrer unerträglichen Propaganda und ihrer Polemik in den Kirchen aufgehört. Warum stellt Hilferding dann solche Ansprüche an die Kommunisten? Entweder völlige Einstellung der beiderseitigen Kritik, d.h. des Kampfes der Tendenzen in der Arbeiterklasse, oder Verweigerung jeder gemeinsamen Aktion. „Alles oder nichts!" Die Sozialdemokratie hat der bürgerlichen Gesellschaft nie solche Ultimaten gestellt. Jeder sozialdemokratische Arbeiter muss über dies zweierlei Maß nachdenken.

Wenn Wels heute in öffentlicher Versammlung gefragt würde, wie es geschehen konnte, dass die Sozialdemokratie, die der Republik den ersten Kanzler und den ersten Präsidenten stellte. das Land Hitler zuführte, so wird er zweifellos antworten, das sei zum großen Teil die Schuld des Bolschewismus. Kein Tag, an dem der Vorwärts nicht diese Erklärung herunter leiert. Kann man sich vorstellen, dass er während der Einheitsfront mit den Kommunisten auf sein Recht und seine Pflicht verzichten wird, den Arbeitern das, was er für die Wahrheit hält, zu sagen? Die Kommunisten brauchen einen solchen Verzicht gar nicht. Die Einheitsfront gegen den Faschismus ist nur ein Kapitel im Buch des Kampfes des Proletariats. Man kann die vorhergehenden nicht auslöschen. Man kann die Vergangenheit nicht vergessen, man muss sich darüber unterrichten. Wir bewahren die Erinnerung an das Bündnis Eberts mit Groener und an die Rolle Noskes. Wir erinnern uns, unter welchen Umständen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht umgekommen sind. Wir Bolschewisten haben die Arbeiter gelehrt, nichts zu vergessen. Wir verlangen vom Teufel nicht, dass er sich den Schwanz abschneiden lässt; das würde ihm schaden und uns keinerlei Nutzen bringen. Wir akzeptieren den Teufel so, wie die Natur ihn schuf. Nutzen können wir nur aus der Reue der sozialdemokratischen Führer und aus ihrer Treue zum Marxismus ziehen; aber wir brauchen den Willen der Sozialdemokratie, gegen den Feind zu kämpfen, der sie mit dem Tode bedroht. Wir sind bereit, in dem gemeinsamen Kampf alle Verpflichtungen zu erfüllen, die wir eingegangen sind. Wir versprechen, uns gut zu schlagen und den Kampf bis zum Ende zu führen. Das genügt vollauf für ein Kampfabkommen.}

Aber die sozialdemokratischen Führer wollen nicht kämpfen

Es bleibt aber doch die Frage offen: Warum sind die sozialdemokratischen Führer bereit, über alles Mögliche zu reden – über die Polemik, über den Nichtangriff, über die schlechten Sitten der Kommunisten u. a., anstatt die einfache Frage zu beantworten, wie man gegen die Faschisten kämpft? Aus einem ganz einfachen Grunde: Die sozialdemokratischen Führer wollen keinen Kampf. Früher hofften sie, Hindenburg würde sie vor Hitler retten. Jetzt warten sie auf irgendein anderes Wunder. Aber kämpfen wollen sie nicht. Sie haben das Kämpfen verlernt; sie fürchten den Kampf.

Anlässlich des faschistischen Banditismus in Eisleben schreibt Stampfer: „Der Glaube an Recht und Gerechtigkeit ist in Deutschland nicht tot" („Vorwärts", 14. Februar). Man kann diese Zeilen nicht ohne Entrüstung lesen. An Stelle eines Aufrufs zur einheitlichen Kampffront – ein Pfaffentrost: „Der Glaube an die Gerechtigkeit ist nicht tot". Aber die Bourgeoisie hat eine andere Gerechtigkeit als das Proletariat. Eine Gerechtigkeit, die über den Klassen steht, gibt es nicht. Die bewaffnete Ungerechtigkeit siegt stets über die unbewaffnete Gerechtigkeit. Davon zeugt die gesamte Geschichte der Menschheit. Wer an ein Phantom appelliert, der betrügt die Arbeiter. Wer den Sieg der proletarischen Gerechtigkeit über die faschistische Vergewaltigung will, der muss zum Kampfe rufen und Organe der proletarischen Einheitsfront schaffen.

In der gesamten sozialdemokratischen Presse kann man nicht eine Zeile finden, die von einer wirklichen Vorbereitung des Kampfes zeugt. Nichts außer allgemeinen Phrasen, Hinweisen auf eine unbestimmte Zukunft, nebelhaften Vertröstungen. „Sollen die Nazis versuchen, und dann …" Und die Nazis werden versuchen. Sie rücken Schritt um Schritt vor, erobern ruhig eine Position nach der anderen. Diese bösartigen, reaktionären Kleinbürger riskieren nicht gern. Doch sie sind auch nicht gezwungen zu riskieren – sie wissen im Voraus, dass der Gegner kampflos zurückweichen wird. Und sie irren sich nicht in ihren Berechnungen.

Selbstverständlich muss ein Kämpfer manchmal ein Stück zurückweichen, um einen besseren Anlauf zum Sprung zu nehmen. Aber die sozialdemokratischen Führer haben nicht die Absicht zu springen. Sie wollen nicht springen. All ihre Ausführungen dienen letzten Endes dazu, diese Tatsache zu verbergen. Erst erklären sie, solange die Nazis den Boden der Legalität nicht verlassen, bestehe keine Veranlassung zum Kampf. Aber wir haben doch diese „Legalität" gesehen: Der Staatsstreich wird in Raten vollzogen. Dies ist nur darum möglich, weil die sozialdemokratischen Führer die Arbeiter durch Phrasen über die Legalität des Staatsstreichs einschläfern, sie mit Hoffnungen auf den neuen Reichstag vertrösten, der noch machtloser sein wird als die vorangegangenen. Etwas Besseres können die Faschisten gar nicht wünschen.

Heute hat die Sozialdemokratie sogar schon aufgehört, von Kämpfen in der unbestimmten Zukunft zu reden. Anlässlich der begonnenen Zerschlagung der Arbeiterorganisationen und der Arbeiterpresse „erinnert" der „Vorwärts" die Regierung: Vergesst nicht, dass in einem entwickelten kapitalistischen Lande die Arbeiter schon durch die Bedingungen der Produktion im Betriebe vereinigt sind. Diese Worte besagen, dass die Leitung der Sozialdemokratie sich schon im Voraus mit der Zerschlagung der politischen, ökonomischen und Kulturorganisationen, die durch drei Generationen des Proletariats geschaffen wurden, abgefunden hat. Die Arbeiter werden ja „sowieso" in den Unternehmen selbst vereinigt bleiben. Wozu dann eigentlich überhaupt proletarische Organisationen, wenn sich die Frage so einfach lösen lässt?

Die Führer der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften waschen die Hände in Unschuld, treten zur Seite und warten ab. Wenn die Arbeiter selbst, „durch die Betriebe vereinigt", das Band der Disziplin zerreißen und den Kampf beginnen werden, dann werden sich die Führer selbstverständlich wie 1918 einmischen, dann werden sie als Friedensstifter und Vermittler versuchen, ihre verlorenen Positionen auf dem Rücken der Arbeiterklasse zurück zu gewinnen.

Ihren Verzicht auf den Kampf, ihre Furcht vor dem Kampf maskieren die Führer vor den Massen durch hohles Gerede über den Nichtangriffspakt. Sozialdemokratische Arbeiter! Eure Führer wollen nicht kämpfen.

Also ist es ein Manöver?

Hier wird uns der Sozialdemokrat erneut unterbrechen: „Doch wenn ihr an den Willen unserer Führer, gegen den Faschismus zu kämpfen, nicht glaubt, ist dann euer Einheitsfrontangebot nicht ein einfaches Manöver?" Weiter wird er die Erwägungen des „Vorwärts" darüber wiederholen, dass die Arbeiter die Einheit brauchen und nicht „Manöver".

Ein solches Argument klingt ziemlich überzeugend, In Wirklichkeit ist es völlig hohl. Ja, wir Kommunisten zweifeln nicht daran, dass die sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Beamten auch weiterhin mit allen Kräften dem Kampf ausweichen werden. Ein bedeutender Teil der Arbeiterbürokratie wird in der kritischen Stunde einfach zu den Faschisten überlaufen. Ein anderer Teil, dem es gelingen wird, die wohl erworbenen „Ersparnisse" ins Ausland zu verschieben, wird rechtzeitig auswandern. All das hat schon begonnen und wird sich unvermeidlich weiter entwickeln. Doch sind wir weit davon entfernt, diesen heute einflussreichsten Teil der reformistischen Bürokratie mit der sozialdemokratischen Partei und mit den Gewerkschaften insgesamt gleichzusetzen. Der proletarische Kern der Partei wird zweifellos kämpfen und einen bedeutenden Teil des Apparats mitreißen. Wo wird die Trennungslinie zwischen den Überläufern, Verrätern, Deserteuren einerseits und denen, die kämpfen wollen, andererseits durchgehen? Diese Linie kann man nur in der Praxis finden. Das ist der Grund, warum die Kommunisten, ohne auch das geringste Vertrauen gegenüber der reformistischen Bürokratie zu besitzen, es nicht unterlassen können, sich an die Partei im Ganzen zu wenden. Nur auf diese Weise kann man die Teile, die kämpfen wollen, von denen trennen, die sich zu verdrücken gedenken. Wenn wir uns in der Einschätzung der Wels, Breitscheid, Hilferding, Crispien und anderer irren – mögen sie uns durch die Tat widerlegen. Wir werden auf allen Plätzen unseren Irrtum bekennen. Wenn das alles unsererseits ein „Manöver" ist, so ist es ein richtiges, notwendiges, dem Interesse der Sache dienendes Manöver.

Ihr, Sozialdemokraten, bleibt in Eurer Partei, weil Ihr an ihr Programm, an ihre Taktik, an ihre Führung glaubt. Wir rechnen mit dieser Tatsache. Ihr haltet unsere Kritik für falsch. Das ist Euer Recht, ihr seid durchaus nicht verpflichtet, den Kommunisten aufs Wort zu glauben, und kein vernünftiger Kommunist wird es von Euch verlangen. Aber auch die Kommunisten haben das Recht, den Beamten der Sozialdemokratie zu misstrauen, sie für keine Marxisten, keine Revolutionäre und keine wirklichen Sozialisten zu halten. Anderenfalls hatten die Kommunisten keine besondere Partei und keine besondere Internationale geschaffen. Man muss die Tatsachen nehmen, wie sie sind. Die Einheitsfront kann man nicht im Himmel bauen, sondern auf der Grundlage, die durch die gesamte vergangene Entwicklung geschaffen worden ist. Wenn Ihr wirklich überzeugt seid, dass Eure Führung die Arbeiter zum Kampf gegen den Faschismus führen wird – welches kommunistische Manöver befürchtet Ihr eigentlich? Von welchem Manöver redet unaufhörlich der „Vorwärts"? Denkt Euch gründlich in die Lage hinein: Gibt es hier nicht ein bewusstes Manöver seitens Eurer Führer, die Euch durch das leere Wort „Manöver" einschüchtern und von der Einheitsfront mit den Kommunisten abhalten wollen?

Aufgaben und Methoden der Einheitsfront

Die Einheitsfront muss ihre Organe haben. Hier braucht man nichts auszudenken, der Charakter der Organe wird durch die Umstände selbst diktiert. An vielen Orten haben die Arbeiter bereits die organisatorische Form der Einheitsfront aufgezeigt, in der Gestalt von Abwehrkartells, die sich auf alle örtlichen Arbeiterorganisationen stützen. Diese Initiative muss man ergreifen, vertiefen, befestigen, verbreitern, alle Industriezentren durch Kartelle umfassen, die Kartelle untereinander verbinden. einen alldeutschen Arbeiter-Abwehrkongress vorbereiten.

Die wachsende Entfremdung zwischen den Arbeitslosen und den Beschäftigten bedeutet eine tödliche Gefahr nicht nur für die Kollektivverträge, sondern auch für die Gewerkschaftsverbände, sogar ohne den Kreuzzug der Faschisten. Die Einheitsfront zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten bedeutet in erster Linie die Einheitsfront zwischen den beschäftigten Arbeitern und den Arbeitslosen. Ohne diese Voraussetzung ist in Deutschland überhaupt kein ernsthafter Kampf denkbar.

Die Rote Gewerkschaftsopposition (RGO) muss in die freien Gewerkschaften als kommunistische Fraktion hineingehen. Das ist eine der Hauptbedingungen für den Erfolg der Einheitsfront. Die Kommunisten müssen innerhalb der Verbände alle Rechte der Arbeiterdemokratie genießen, in erster Linie die Freiheit der Kritik. Ihrerseits müssen sie die Statuten der Gewerkschaftsverbände und deren Disziplin einhalten.

Die Abwehr des Faschismus ist keine isolierte Frage. Der Faschismus ist nur ein Knüppel in den Händen des Finanzkapitals. Das Ziel der Vernichtung der Arbeiterdemokratie ist die Steigerung der Ausbeutungsrate der Arbeitskraft. Hier eröffnet sich der geeinten Arbeiterfront ein breites Feld: Der Kampf um das Stück Brot muss unter den heutigen Bedingungen in seiner Vertiefung und Verbreiterung unmittelbar zum Kampf um die Arbeiterkontrolle der Produktion führen.

Die Betriebe, Bergwerke, Güter erfüllen ihre gesellschaftlichen Funktionen nur dank der Arbeit des Proletariats. Haben denn die Arbeiter nicht das Recht, zu wissen, wohin der Besitzer das Unternehmen steuert, warum er die Produktion einschränkt und die Arbeiter hinauswirft, wie er die Preise festsetzt u.a.m.? Man erwidert uns darauf: „Geschäftsgeheimnis". Was ist ein Geschäftsgeheimnis? Es ist eine Verschwörung der Kapitalisten gegen die Arbeiter und gegen das ganze Volk. Als Hersteller wie als Verbraucher müssen die Arbeiter für sich das Recht erkämpfen, alle Operationen ihres Unternehmens zu kontrollieren, Fälschung und Betrug aufzudecken, um ihre Interessen und die Interessen des ganzen Volkes mit Tatsachen in der Hand zu verteidigen. Der Kampf um die Arbeiterkontrolle der Produktion kann und muss zu einer Parole der Einheitsfront werden.

Die notwendigen organisatorischen Formen der Zusammenarbeit der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiter werden sich ohne Mühe finden – man braucht nur von Worten zur Tat überzugehen.

Die Unversöhnlichkeit der sozialdemokratischen und der kommunistischen Parteien

Doch wenn ein gemeinsamer Abwehrkampf gegen die Angriffe des Kapitals möglich ist – kann man nicht weitergehen und einen dauernden Block der beiden Arbeiterparteien in allen Fragen scharfen? Dann würde auch die Polemik unter ihnen einen internen, friedlichen, kameradschaftlichen Charakter annehmen. Einige linke Sozialdemokraten, wie Seydewitz, träumen bekanntlich von einer vollständigen Vereinigung der Sozialdemokratie mit der Kommunistischen Partei. Das alles sind aber nur nutzlose Träume! Die Kommunisten sind von der Sozialdemokratie durch grundsätzliche Gegensätze getrennt. Der Sinn dieser Gegensätze lässt sich am einfachsten durch einen kurzen Satz ausdrücken: Die Sozialdemokratie betrachtet sich als den demokratischen Arzt des Kapitalismus, wir aber sind seine revolutionären Totengräber. Wie kann man bei einer solchen Verschiedenheit der historischen Rollen an eine Vereinigung denken?

Die Unversöhnlichkeit der beiden Parteien wird besonders anschaulich im Lichte der neuesten Entwicklung in Deutschland. Leipart beklagt sich darüber, dass durch die Berufung Hitlers an die Macht die „Eingliederung der Arbeiter in den Staat wieder völlig zerstört wird", und warnt die Bourgeoisie vor der für sie daraus entspringenden „Gefahr" (Vorwärts, 15. Februar 33). Folglich ist Leipart ein Wächter des bürgerlichen Staates, den er gegen die proletarische Revolution bewacht. Können die Kommunisten an eine Vereinigung mit Leipart denken?

Der „Vorwärts" rühmt sich täglich, dass Hunderttausende von Sozialdemokraten im Kriege für die „Idee eines besseren, freieren Deutschland" … gefallen sind. Die Zeitung vergisst nur zu erklären, warum dieses bessere Deutschland sich als das Deutschland der Hitler-Hugenberg erwiesen hat. In Wirklichkeit fielen die deutschen Arbeiter – wie auch die Arbeiter aller anderen kriegführenden Länder – als Kanonenfutter, als Sklaven des Kapitals. Diese Tatsache idealisieren heißt, den Verrat des 4. August 1914 fortsetzen.

Der „Vorwärts" beruft sich auch heute noch auf Marx, Engels, Wilhelm Liebknecht, Bebel, die in den Jahren 1848-71 vom Kampf um die Einheit der deutschen Nation sprachen. Falsche Berufungen! In jener Epoche ging es um die Vollendung der bürgerlichen Revolution. Jeder proletarische Revolutionär musste im Namen der Gründung eines nationalen Staates gegen den mittelalterlichen Partikularismus und Provinzialismus kämpfen. Heute hat eine derartige Aufgabe nur in China, Indochina, Indien, Indonesien und anderen zurückgebliebenen, kolonialen und halbkolonialen Ländern fortschrittlichen Charakter. Für die fortgeschrittenen Länder Europas sind die nationalstaatlichen Grenzen zu ebenso reaktionären Bindungen geworden, wie es einst die Grenzen der feindlichen Provinzen waren.

Nation und Demokratie sind Zwillinge", wiederholt der „Vorwärts". Richtig! Doch diese Zwillinge sind alt und morsch geworden. Die Nation als wirtschaftliches Ganzes und die Demokratie als Form der bürgerlichen Herrschaft sind zu Hemmnissen der Produktivkräfte und der Kultur geworden. Erinnern wir uns nochmals an Goethes Worte: „Alles Entstehende ist des Untergangs wert".

Man kann noch einige Millionen Seelen wegen des „Korridors", wegen Elsass-Lothringen, wegen Malmedy abschlachten lassen. Man kann diese umstrittenen Landstriche vollkommen mit Leichen bedecken – in drei, fünf oder zehn Reihen. Man kann das alles als nationale Verteidigung bezeichnen. Doch die Menschheit wird dabei nicht vorwärts gehen, sondern auf allen Vieren nach rückwärts kriechen – in die Barbarei. Der Ausweg ist nicht die „nationale Befreiung" Deutschlands, sondern die Befreiung Europas von den nationalen Schranken. Die Bourgeoisie ist nicht imstande, diese Aufgabe zu lösen, wie die Feudalen seinerzeit nicht vermochten, mit dem Partikularismus fertig zu werden. Die Koalition mit der Bourgeoisie ist daher doppelt verbrecherisch. Man braucht die proletarische Revolution. Man braucht die Föderation der proletarischen Republiken Europas und der ganzen Erde.

Der Sozialpatriotismus ist ein Programm der Ärzte des Kapitalismus, der Internationalismus ein Programm der Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser Gegensatz ist unversöhnlich.

Demokratie und Diktatur

Die Sozialdemokraten glauben, dass die demokratische Verfassung über dem Klassenkampf steht. Für uns steht der Klassenkampf über der demokratischen Verfassung. Ist denn die Erfahrung des Nachkriegsdeutschlands ebenso spurlos vergangen wie die Erfahrung des Krieges? Die Novemberrevolution stellte die Sozialdemokratie an die Macht. Die Sozialdemokratie lenkte die machtvolle Massenbewegung in die Bahnen des „Rechts" und der „Verfassung". Das gesamte weitere politische Leben Deutschlands entwickelte sich auf der Grundlage und im Rahmen der Weimarer Republik. Vor uns liegen die Ergebnisse: Die bürgerliche Demokratie verwandelt sich legal und friedlich in die faschistische Diktatur. Das Geheimnis dieser Umwandlung ist einfach – die bürgerliche Demokratie und die faschistische Diktatur sind Werkzeuge einer und derselben Klasse – der Ausbeuter. Die Ersetzung des einen Werkzeugs durch das andere mit Hilfe von Appellen an die Verfassung zu verhindern – Leipziger Staatsgerichtshof, neue Wahlordnung u. a. – ist völlig unmöglich; es bedarf der Mobilisierung der revolutionären Kräfte des Proletariats. Der konstitutionelle Fetischismus erweist dem Faschismus die größten Dienste. Heute ist es keine Prognose mehr, keine Theorie, sondern eine lebendige Tatsache. Ich frage Dich, sozialdemokratischer Arbeiter: Wenn die Weimarer Demokratie der faschistischen Diktatur den Weg gebahnt hat, – wie kann man erwarten, dass sie den Weg zum Sozialismus bahnen wird?

Aber können wir Arbeiter denn nicht die Mehrheit im demokratischen Reichstag erobern?

Nein, das geht nicht. Der Kapitalismus hat aufgehört, sich zu entwickeln, er verfault. Die Zahl der Industriearbeiter wächst nicht. Ein bedeutender Teil des Proletariats zersetzt sich in der dauernden Arbeitslosigkeit. Allein schon diese sozialen Tatsachen schließen die Möglichkeit eines sicheren und dauernden Wachsens der Arbeiterpartei im Parlament, so wie es vor dem
Kriege war, aus. Doch selbst wenn die Arbeitervertretung, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, schnell anwachsen würde, würde die Bourgeoisie etwa auf die friedliche Expropriation warten? Der wirkliche Machtapparat ist doch in ihren Händen! Und schließlich, wenn die Bourgeoisie sogar die Zeit versäumte und dem Proletariat gestattete, 51% der Parlamentsmandate zu erobern, würden etwa Reichswehr, Polizei und Stahlhelm zusammen mit den faschistischen Abteilungen dieses Parlament nicht auseinanderjagen, wie die Kamarilla heute durch einen Federstrich alle Parlamente auseinanderjagt, die ihr nicht gefallen?

Also nieder mit dem Reichstag und Schluss mit den Wahlen?

Nein, das bedeutet es nicht. Wir sind Marxisten, nicht Anarchisten. Wir sind für die Ausnützung des Parlaments: Es ist kein Mittel zur Umwandlung einer Gesellschaft in eine andere, sondern eines der Mittel zur Sammlung, der Arbeiter. Doch tritt in der Entwicklung des Klassenkampfes ein Augenblick ein, wo die Frage gelöst werden muss, wer weiter Herr im Lande sein soll: das Finanzkapital oder das Proletariat? Die Gespräche über die Nation im Allgemeinen und über die Demokratie im Allgemeinen sind unter solchen Bedingungen der ehrloseste Betrug.

Vor unseren Augen organisiert und bewaffnet eine kleine Minderheit des deutschen Volkes fast die Hälfte der Nation, um mit deren Hilfe die andere Hälfte zu zerschlagen und zu ersticken. Es geht heute nicht um zweitrangige Reformen, sondern um Tod und Leben der bürgerlichen Gesellschaft. Niemals wurden solche Fragen durch Abstimmungen gelöst. Wer heute auf das Parlament oder auf das Leipziger Schiedsgericht vertröstet, der betrügt die Arbeiter und nützt in Wirklichkeit dem Faschismus.

Es gibt keinen anderen Weg

Was bleibt also?, wird der sozialdemokratische Arbeiter fragen.

Die proletarische Revolution.

Und weiter?

Die Diktatur des Proletariats.

Wie in Russland? Opfer und Entbehrungen? Völlige Unterdrückung der Meinungsfreiheit? Nein, damit bin ich nicht einverstanden.

Eben darum können wir ja nicht in einer Partei sein, weil Du nicht bereit bist, den Weg der Revolution und der Diktatur zu gehen. Doch gestatte, Dir zu sagen, dass Dein Einwand eines klassenbewussten Proletariers unwürdig ist. Ja, die Opfer der russischen Arbeiter sind sehr groß. Aber die russischen Arbeiter wissen, wofür sie diese Opfer bringen. Selbst wenn sie eine Niederlage erlitten, würde die Menschheit viel aus ihrer Erfahrung lernen. Und wofür hat die deutsche Arbeiterklasse in den Jahren des imperialistischen Krieges Opfer gebracht? Oder heute, in den Jahren der Arbeitslosigkeit? Wohin führen diese Opfer, was geben sie, was lehren sie? Nur jene Opfer sind des Menschen würdig, die den Weg zu einer besseren Zukunft bahnen. Dies ist mein erster Einwand. Mein erster, aber nicht der einzige.

Die Leiden der russischen werktätigen Massen sind so groß, weil in Russland kraft besonderer historischer Bedingungen der erste Arbeiterstaat entstand, der gezwungen ist, aus äußerstem Elend durch eigene Kraft emporzusteigen. Vergiss nicht: Russland war das zurückgebliebenste Land in Europa. Das Proletariat bildete eine geringe Minderheit der Bevölkerung. In einem solchen Lande musste die Diktatur des Proletariats allerschärfste Formen annehmen. Hieraus ergaben sich auch alle weiteren Folgen: das Wachstum der Bürokratie, die in ihren Händen die Macht konzentriert, und die Kette von Fehlern einer politischen Führung, die unter den Einfluss der Bürokratie geriet. Wenn die deutsche Sozialdemokratie Ende 1918, als die ganze Macht in ihrer Hand lag, kühn den Weg des Sozialismus beschritten und im unzerstörbares Bündnis mit Sowjetrussland geschlossen hätte, dann hätte die Geschichte Europas eine andere Richtung bekommen, und die Menschheit wäre in bedeutend kürzerer Frist und mit unvergleichlich kleineren Opfern zum Sozialismus gelangt. Es ist nicht unsere Schuld, dass dies nicht geschah.

Ja, die Diktatur in der Sowjetunion trägt gegenwärtig einen außerordentlich bürokratischen und deformierten Charakter. Ich habe selber mehr als einmal das heutige Sowjetregime, das eine Entartung des Arbeiterstaates darstellt, in der Presse kritisiert. Tausende und Tausende meiner Freunde überfüllen die Gefängnisse und Verbannungsorte als Strafe für ihren Kampf gegen die Stalinbürokratie. Doch auch in der Einschätzung der negativen Seiten des gegenwärtigen Sowjetregimes muss man eine richtige historische Perspektive wahren. Wenn das deutsche Proletariat, das viel zahlreicher und kultivierter ist als die Arbeiterklasse Russlands, morgen die Macht in seine Hände nehmen würde, würde das nicht nur unabsehbare ökonomische und kulturelle Perspektiven vor den Völkern Europas öffnen, sondern auch sofort zu einer entscheidenden Milderung der Diktatur in Sowjetrussland führen.

Man muss nicht denken, dass die Diktatur des Proletariats unbedingt mit jenen Methoden des roten Terrors verbunden ist, die wir in Russland anzuwenden gezwungen waren. Wir waren Pioniere. Die von Verbrechen besudelten herrschenden Klassen Russlands glaubten nicht, dass das neue Regime sich halten würde. Die Bourgeoisie Europas und Amerikas unterstützte die russische Konterrevolution. Unter diesen Bedingungen konnte man sich nur durch eine furchtbare Kraftanspannung und durch rücksichtslose Vernichtung der Klassenfeinde behaupten. Der Sieg des Proletariats in Deutschland würde einen ganz anderen Charakter haben. Einmal die Macht verloren, würde die deutsche Bourgeoisie keinerlei Hoffnung haben, sie zurück zu gewinnen. Das Bündnis Sowjetdeutschlands mit Sowjetrussland würde die Kräfte der beiden Länder nicht verdoppeln, sondern verzehnfachen. Im ganzen übrigen Europa ist die Lage der Bourgeoisie derartig kompromittiert, dass es ihr kaum gelingen würde, ihre Armeen gegen ein proletarisches Deutschland in Bewegung zu setzen. Zwar wäre der Bürgerkrieg unvermeidlich, dafür genügt der Faschismus. Aber das mit der Macht ausgerüstete deutsche Proletariat würde, mit der Sowjetunion im Rücken, den Faschismus sehr schnell zersetzen und bedeutende Massen der Kleinbourgeoisie auf seine Seite ziehen. Die Diktatur des Proletariats in Deutschland hätte bedeutend mildere und zivilisiertere Formen als die Diktatur des Proletariats in Russland.

Wozu denn dann überhaupt Diktatur?

Um die Ausbeutung, den Parasitismus zu vernichten, um den Widerstand der Ausbeuter zu brechen, um ihnen abzugewöhnen, an die Wiederherstellung der Ausbeutung zu denken, um die ganze Macht, alle Mittel der Produktion, alle Möglichkeiten der Kultur in die Hände des Proletariats zu legen, um dem Proletariat die Möglichkeit zu geben, alle Kräfte und Mittel im Interesse der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft zu gebrauchen. Einen anderen Weg gibt es nicht.

{Das deutsche Proletariat wird die Revolution unter deutschen, nicht unter russischen Bedingungen machen

Aber es kommt öfters vor, dass unsere Kommunisten uns Sozialdemokraten drohen: Wartet, wenn wir erst an der Macht sind, stellen wir Euch an die Wand.

Nur Dummköpfe, Schwätzer oder Prahlhänse, die sich im Augenblick der Gefahr unfehlbar aus dem Staube machen werden, können solche Drohungen ausstoßen. Ein ernsthafter Revolutionär, der die Unvermeidlichkeit der revolutionären Gewalt und ihre schöpferische Rolle gänzlich anerkennt, begreift zugleich, dass die Gewaltanwendung in der sozialistischen Transformation der Gesellschaft wohl definierte Grenzen hat. Die Kommunisten müssen wechselseitige Verständigung und Annäherung an die sozialdemokratischen Arbeiter suchen. Die revolutionäre Einmütigkeit der überwältigenden Mehrheit des deutschen Proletariats wird die Repression, die die revolutionäre Diktatur ausüben wird, auf ein Minimum reduzieren. Es geht nicht darum, Sowjetrussland servil zu kopieren und dabei aus seinen Nöten ebenso viele Tugenden zu machen. Das ist ein unwürdiges Verhalten für Marxisten. Will man sich die Erfahrungen der Oktoberrevolution zunutze machen, so darf man sie nicht blindlings kopieren. Man muss dem Unterschied der Sozialstruktur der Nationen und vor allem dem relativen Gewicht und dem kulturellen Niveau des Proletariats Rechnung tragen. Nur unheilbare Spießbürger sind imstande zu glauben, dass man die sozialistische Revolution auf sozusagen konstitutionelle, friedliche Art machen kann, mit Billigung der Bourgeoisie und des Leipziger Reichsgerichts. Das deutsche Proletariat wird nicht um die Revolution herumkommen. Aber in seiner Revolution wird es deutsch und nicht russisch reden. Ich bin sicher, dass es eine viel bessere Sprache führen wird als wir.}

Was werden wir verteidigen?

Gut, aber wir Sozialdemokraten wollen doch über die Demokratie zum Sozialismus gelangen. Ihr Kommunisten haltet dies für eine unsinnige Utopie. Ist in diesem Falle eine Abwehr-Einheitsfront möglich? Man muss doch genau wissen, was zu verteidigen ist. Wenn wir das eine verteidigen, und Ihr das andere, so werden wir nie zu gemeinsamen Aktionen kommen. Seid Ihr Kommunisten bereit, die Weimarer Verfassung zu verteidigen?

Die Frage ist berechtigt, und ich werde versuchen, sie in aller Offenheit zu beantworten. Die Weimarer Verfassung umfasst ein ganzes System von Einrichtungen, Rechten und Gesetzen. Fangen wir von oben an.

Die Republik wird vom Präsidenten gekrönt. Sind wir Kommunisten bereit, Hindenburg vor dem Faschismus zu verteidigen? Dazu besteht, hoffe ich, keine Notwendigkeit: Hindenburg hat die Faschisten selber zur Macht berufen. Weiter folgt die Regierung, mit Hitler an der Spitze. Auch sie bedarf keines Schutzes vor dem Faschismus. Weiter folgt das Parlament. Wenn diese Zeilen in der Presse erscheinen, wird das Schicksal des aus der Wahl vom 5. März hervorgegangenen Reichstags wahrscheinlich bereits entschieden sein. Man kann aber eines schon heute mit Gewissheit behaupten: Wenn der Reichstag der Regierung feindlich sein wird, wenn Hitler versuchen wird, den Reichstag zu liquidieren, und wenn die Sozialdemokratie sich entschlossen zeigt, um den Reichstag zu kämpfen – dann werden die Kommunisten die Sozialdemokratie aus allen Kräften darin unterstützen.

Die Diktatur des Proletariats gegen Euch oder ohne Euch, sozialdemokratische Arbeiter, können und wollen wir Kommunisten nicht verwirklichen. Zur Diktatur des Proletariats wollen wir mit Euch gemeinsam gelangen. Die gemeinsame Abwehr des Faschismus betrachten wir als den ersten Schritt auf diesem Wege. Nicht der Reichstag ist in unseren Augen die größte historische Eroberung, welche das Proletariat gegen die faschistischen Vandalen verteidigen muss. Es gibt höhere Werte. Im Rahmen der bürgerlichen Demokratie und gleichzeitig in ständigem Kampf mit ihr haben sich im Laufe von Jahrzehnten die Elemente der proletarischen Demokratie gebildet: politische Parteien, Arbeiterpresse, Gewerkschaftsverbände, Fabrikkomitees, Klubs, Genossenschaften, Sportorganisationen u. a. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht so sehr darin, die Reste der bürgerlichen Demokratie zu erledigen, als darin, die Keime der proletarischen Demokratie zu vernichten. Unsere Aufgabe hingegen ist es, die schon entstandenen Elemente der proletarischen Demokratie zur Grundlage des Sowjetsystems des Arbeiterstaates zu machen. Zu diesem Zweck muss man die Schale der bürgerlichen Demokratie sprengen und den Kern der Arbeiterdemokratie aus ihr herausholen – darin besteht eben das Wesen der proletarischen Revolution. Der Faschismus bedroht den Lebenskeim der Arbeiterdemokratie. Dadurch wird auch das Programm der Einheitsfront eindeutig diktiert. Wir sind bereit, Eure und unsere Druckereien zu verteidigen, aber auch das demokratische Prinzip der Pressefreiheit; Eure und unsere Arbeiterhäuser, aber auch das demokratische Prinzip der Freiheit der Versammlungen und Vereine. Wir sind Materialisten und trennen die Seele nicht vom Leibe. Solange unsere Kraft noch nicht reicht, um das Sowjetsystem zu verwirklichen, stehen wir auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie. Aber wir geben uns keinerlei Illusionen über sie hin.

Über die Pressefreiheit

Und was werdet Ihr mit der sozialdemokratischen Presse machen, wenn es Euch gelingt, die Macht zu erobern, werdet Ihr unsere Zeitungen verbieten, so wie die russischen Bolschewiki die Zeitungen der Menschewiki verboten haben?

Die Frage ist schlecht gestellt. Was heißt „unsere" Zeitungen? In Russland wurde die Diktatur des Proletariats erst möglich, nachdem die erdrückende Mehrheit der Arbeiter-Menschewiki auf die Seite der Bolschewiki überging, während die kleinbürgerlichen Reste des Menschewismus sich daran machten, der Bourgeoisie im Kampf um die Wiederaufrichtung der „Demokratie", d.h. des Kapitalismus, zu helfen. Aber auch in Russland schrieben wir das Verbot der menschewistischen Zeitungen keineswegs auf unser Banner. Wir waren dazu durch außerordentlich schwierige Bedingungen des Kampfes um die Rettung und Aufrechterhaltung der revolutionären Diktatur gezwungen. In Sowjetdeutschland wird, wie ich schon sagte, die Lage unvergleichlich günstiger sein, und das wird sich zweifellos auch auf das Presseregime auswirken. Ich glaube überhaupt nicht, dass das deutsche Proletariat auf diesem Gebiet Repressalien benötigen wird.

Selbstverständlich will ich damit nicht sagen, dass der Arbeiterstaat auch nur einen Tag das Regime der bürgerlichen „Pressefreiheit" dulden wird, d.h. die Ordnung, bei welcher nur diejenigen Bücher und Zeitungen herausgeben können, in deren Händen die Druckereien, Papierfabriken, Bücherlager usw. konzentriert sind, mit anderen Worten die Kapitalisten. Die bürgerliche „Pressefreiheit" bedeutet das Monopol des Finanzkapitals, dem Volk kapitalistische Vorurteile aufzuzwingen, mit Hilfe von Hunderten und Tausenden von Zeitungen, die das Gift der Lüge in der technisch vollkommensten Form verbreiten. Die proletarische Pressefreiheit wird die Verstaatlichung der Druckereien, Papierfabriken und Lager im Interesse der Werktätigen bedeuten. Wir trennen die Seele nicht vom Leibe. Die Freiheit der Presse ohne Setzmaschinen, Rotationspressen und Papier ist eine hohle Täuschung. Im Arbeiterstaat werden die technischen Mittel der Presse den Gruppen der Bürger je nach ihrer wirklichen zahlenmäßigen Stärke zur Verfügung gestellt werden. Herr Hugenberg wird sich dabei etwas einschränken müssen, wie auch alle anderen kapitalistischen Monopolisten des Zeitungsgeschäfts.: Da kann man schon nichts machen. Die Sozialdemokratie wird Publikationsmittel entsprechend der Zahl ihrer Anhänger erhalten. Ich glaube nicht, dass diese Zahl dann sehr groß sein wird; andernfalls wäre auch das Regime der proletarischen Diktatur selbst unmöglich. Überlassen wir aber die Entscheidung dieser Frage der Zukunft. Jedenfalls ist, wie ich hoffe, das Prinzip, die technischen Mittel der Presse nicht der Stärke des Scheckbuches, sondern der Zahl der Anhänger eines bestimmten Programms, einer bestimmten Strömung, einer bestimmten Schule entsprechend zu verteilen, das ehrlichste, das demokratischste, das wirklich proletarische Prinzip. Nicht wahr?

Vielleicht.

Also abgemacht, nicht?

Ich muss noch überlegen.

Nichts anderes will ich, Freund: Das Ziel aller meiner Ausführungen besteht darin, Dich zu veranlassen, noch einmal über alle großen Fragen der Arbeiterpolitik nachzudenken.

Prinkipo, 24. Februar 1933

L. Tr.

1Die folgende Passage und die Passage weiter unten in geschweiften Klammern {} fehlen in „Unser Wort“ und sind nach „Schriften über Deutschland“, Band II ergänzt

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