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Leo Trotzki 19330310 Hitlers Sieg – die Schande der Arbeiterführer

Leo Trotzki: Hitlers Sieg – die Schande der Arbeiterführer

L. D. Trotzki im „Manchester Guardian“ v. 22. März 1933

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1, Nr. 2 (Anfang April 1933), S. 6]

Die Ansicht, dass nur rückständige Länder mit Diktaturmethoden regiert werden können, lässt sich nicht länger halten. Mit einiger Einschränkung konnte man diese Theorie vielleicht noch auf Italien anwenden, unmöglich aber auf Deutschland, das hoch entwickelte kapitalistische Land im Herzen Europas.

Es gibt einen allgemeinen Grund für den Verfall der Demokratie: Die kapitalistische Gesellschaft hat ihre Blütezeit überlebt. Sie zerstört durch nationale und internationale Gegensätze im Innern eines jeden Landes die demokratische Struktur, wie ihr Weltantagonismus das dekorative Gebäude des Völkerbundes zerstört. Wo sich die fortschrittliche Klasse unfähig zeigt, die Macht zu ergreifen und die Gesellschaft auf sozialistischer Basis neu aufzubauen, kann der im Todeskampf liegende Kapitalismus nur durch die brutalsten und barbarischsten Methoden aufrechterhalten werden; der konsequenteste Ausdruck dieser Herrschaftsform ist der Faschismus. Das ist die historische Tatsache, die sich in Hitlers Sieg widerspiegelt. Im Februar 1929 schrieb ich folgendes in einer amerikanische Zeitschrift:

„In Analogie zur Elektro-Industrie mag die Demokratie als ein System von Regulatoren und Stoßdämpfern gegen die heftigen Stromstöße des nationalen oder sozialen Kampfes definiert werden. Keine Epoche der Menschheitsgeschichte war so von Antagonismen erfüllt wie die Gegenwart. Die Regulatoren der Demokratie schmelzen oder brechen unter dem gewaltigen Druck der Klassenkämpfe und der internationalen Gegensätze zusammen. Das ist der Schlüssel zur Erklärung des rapiden Wachstums der Diktaturen."

Meine Gegner verwiesen auf die Tatsache, dass dieser Prozess vor den Toren der zivilisierten Welt haltgemacht habe. Aber ich erwiderte: „Der Druck der inneren und äußeren Gegensätze des Weltkapitalismus ist nicht im Abschwellen, sondern im Steigen begriffen … Die Gicht beginnt ihr Werk am kleinen Finger oder am dicken Zeh; aber sie ruht nicht, bis sie zum Herzen fortgeschritten ist".

Für viele ähnelt die Wahl zwischen Bolschewismus und Faschismus der zwischen Satan und Beelzebub. Es ist schwer, darüber etwas Trostreiches zu sagen. Das 20. Jahrhundert ist zweifellos das zerrissenste in der Geschichte der Menschheit. Diejenigen von unseren Zeitgenossen, die Frieden und Bequemlichkeit vor allem lieben, haben ihren Geburtstag schlecht gewählt.

17 Millionen verzweifelte Leute haben die Hitlerbewegung zum Siege geführt; das beweist, dass das kapitalistische Deutschland das Vertrauen zu dem in Verfall geratenen Europa – durch den Vertrag von Versailles in ein Zuchthaus, nur ohne die Einrichtung der gestreiften Jacken verwandelt – verloren hatte. Aber der Sieg der Partei der Verzweiflung war nur möglich, weil der Sozialismus, die Partei der Hoffnung, sich als unfähig erwies, die Macht zu ergreifen. Das deutsche Proletariat war sowohl an Zahl wie an Kultur stark genug, sein Ziel zu erreichen, aber die Führer der Arbeiterschaft haben sich als unfähig erwiesen.

Die Sozialdemokraten hofften in ihrer eigenartigen, konservativen Berechnung, zusammen mit den anderen parlamentarischen Parteien den Faschismus allmählich „erziehen" zu können. Die Stellung des Drilloffiziers gaben sie Hindenburg, dem Generalfeldmarschall der Hohenzollern; sie stimmten für ihn. Die Arbeiter hatten den richtigen Instinkt, sie wollten kämpfen. Aber die Sozialdemokraten hielten sie zurück, indem sie ihnen versprachen, ihnen dann das Signal zum Kampf zu geben, wenn Hitler endlich die „legalen" Methoden verlassen sollte. So haben die Sozialdemokraten Hitler nicht nur durch die Wahl Hindenburgs an die Macht gebracht, sondern auch dadurch, dass sie ihm die Regierungsgewalt Stück für Stück auslieferten.

Die Politik der Kommunistischen Partei war zutiefst irrig. Ihre Führer gingen von dem absurden Standpunkt aus, dass Sozialdemokratie und Nationalsozialismus zwei „Variationen des Faschismus" darstellen, dass sie nach Stalins unseliger Formel „nicht Gegensätze, sondern Zwillinge" sind. Es ist ohne Zweifel wahr, dass sowohl die Sozialdemokratie wie der Faschismus die bürgerliche Herrschaft gegen die proletarische Revolution verteidigen. Aber die Methoden der beiden Parteien sind äußerst verschieden. Die Sozialdemokratie ist die Herrschaftsform des Parlamentarismus und ohne gewerkschaftliche Massenorganisation nicht zu denken. Es ist jedoch die Aufgabe des Faschismus, beides zu zerstören. Auf der Grundlage dieses Gegensatzes musste ein Defensivbündnis zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten geschlossen werden. Aber die blinden Führer haben sich geweigert, diesen Weg zu beschreiten. Die Arbeiter auf der Linken waren gespalten, schutzlos, ohne Plan und Programm vor dem feindlichen Angriff. Diese Position demoralisierte das Proletariat und stärkte das Selbstvertrauen des Faschismus.

Vor zweieinhalb Jahren, im September 1930, schrieb ich folgendes (in der Broschüre: „Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland"):

Der Faschismus ist in Deutschland eine wirkliche Gefahr geworden; er drückt die äußerste Hoffnungslosigkeit des bürgerlichen Regimes aus, die konservative Rolle, die in dieser Gesellschaft von der Sozialdemokraten gespielt wird und die Unfähigkeit der Kommunistischen Partei, dieses Regime zu stürzen. Wer dies bestreitet, ist entweder blind oder ein Schwätzer."

Ich drückte diesen Gedanken in einer Reihe von Streitschriften aus, die im Laufe der letzten zwei Jahre in Deutschland erschienen sind. Im Oktober 1931 schrieb ich:

Wenn der deutschen Nationalsozialisten in Deutschland zur Macht gelangt, so bedeutet das vor allem die Vernichtung der Blüte des deutschen Proletariats, die Zerschlagung seiner Organisationen, die Zerstörung seines Vertrauens in sich Selbst und in seine Zukunft. Angesichts der in Deutschland weitaus schärferen und erbitterteren Gegensätze wird die höllische Arbeit der italienischen Faschisten wahrscheinlich mild und menschlich erscheinen gegenübe dem, was die deutschen Nationalsozialisten tun werden."

Die stalinistische Fraktion sagte, das sei Panikgeschrei. Aus der umfangreichen politischen Literatur, die dieser Frage gewidmet ist, will ich nur eine Rede herausgreifen, die von dem offiziellen Leiter der Kommunistischen Partei, Thälmann, vor dem Exekutiv-Komitee der Kommunistischen Internationale im April 1931 gehalten wurde, wo er gegen die sogenannten Pessimisten – d.h. die Leute, die etwas voraussehen konnten – folgende Sätze richtete:

Wir haben der Panikstimmung nicht erlaubt, uns von unserm Wege abzubringen … Wir sind überzeugt, dass seit dem 14. September 1930(wo die Nazis 107 Sitze im Reichstag gewannen) Hitler seinen Höhepunkt überschritten hat und dass er jetzt keine besseren, sondern nur schlechtere Ergebnisse erwarten kann Unsere Einschätzung der Entwicklung jener Partei ist durch die Ereignisse bestätigt worden … Der Faschismus hat heute keinen Grund sich zu freuen."

Das eine Zitat genügt!

So wurde, während die deutsche demokratische Bourgeoisie zerfiel, der Faschismus auf seinem Weg zur Macht durch die vereinten Anstrengungen der Führer der beiden Arbeiterparteien unterstützt.

Die Hitler-Bewegung hat keine Zeit verloren, sich in der Macht zu befestigen. Hitler kündigt an, dass er die Kommunisten in Konzentrationslagern erziehen will. Er verspricht, die Sozialdemokraten auszurotten; das ist, zusammengenommen, unter bedeutend schwereren Bedingungen die Aufgabe, für die die Kraft Bismarcks und Wilhelms II. nicht ausreichte. Hitlers politischer Anhang besteht aus Offizieren, Beamten, Angestellten, Kleinkrämern, Kaufleuten, Bauern, all den Zwischenschichten und zweifelhaften Klassen. Unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Bewusstseins sind sie menschlicher Staub.

Es ist ein Paradoxon, dass Hitler trotz seines Anti-Parlamentarismus im Parlament stärker ist als in der gesellschaftlichen Planung. Die Faschisten müssen jedes Mal von neuem ihre Häupter zählen. Andererseits sind die Arbeiter durch den Produktionsprozess vereinigt. Die Produktivkräfte der Nation sind in ihren Händen konzentriert. Hitlers Kampf für die Kontrolle über sie beginnt erst. Die Hauptschwierigkeiten liegen vor ihm. Eine Abschwächung der Handels- und Industriekrise bringt eine Kräfteverschiebung nicht zugunsten Hitlers, sondern zugunsten des Proletariats. Die bloße Tatsache des Falls der Arbeitslosenziffern wird das Selbstbewusstsein der Arbeiter heben. Die so lange Zeit ausgebliebene Konjunktur muss die Aufgabe erleichtern. Nach dem außerordentlichen Fall des Lebensstandards der Arbeiterschaft in den Krisenjahren kann eine Periode ausgedehnter ökonomischer Kämpfe mit Sicherheit erwartet werden.

Hitlers Hauptschwierigkeiten liegen vor ihm, auch seine Hauptkämpfe. In der internationalen Arena kann in nächster Zukunft von Hitler nichts anderes erwartet werden als Gesten und Phrasen. Er hat einen zu langen und ernsthaften Bürgerkrieg vor sich, um ernsthaft an einen Krieg mit Frankreich zu denken. Andererseits wird er mit aller Kraft versuchen, Frankreich und die anderen kapitalistischen Staaten von der Notwendigkeit zu überzeugen, seine Mission gegen den Bolschewismus unterstützen. Wie das auch konkret aussehen mag, die Außenpolitik Hitlers ist wesentlich gegen die Sowjetunion gerichtet.

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