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Leo Trotzki 19330910 Noch einmal über die Pariser Konferenz

Leo Trotzki: Noch einmal über die Pariser Konferenz

Ein Schritt nach vorn oder ein Schritt nach rechts?

[Nach dem maschinenschriftlichen Text in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 745, International Institute of Social History, Amsterdam]

Wenn eine Bewegung in ein neues, höheres Stadium übergeht, finden sich stets Elemente, die das Gestern verteidigen. Eine breitere Perspektive schreckt sie ab. Sie sehen nichts außer Schwierigkeiten und Gefahren.

Genossen, die auf einer der Versammlungen der Bolschewiki-Leninisten anwesend waren, teilten mir zum Beispiel eine solche Kritik eines der Teilnehmer mit: „Auf der Pariser Konferenz haben wir keine Eroberungen gemacht die Sache lief hinaus auf Besprechungen und Abmachungen zwischen den Spitzen; so eine Politik kann keine revolutionäre Bedeutung besitzen; das von den ,Spitzen' von vier Organisationen unterzeichnete gemeinsame Dokument bedeutet im Grunde eine Abweichung in Richtung auf die Sozialdemokratie …“ Da diese Kritik – allerdings in sehr übertriebener Form – nur die Zweifel und Beunruhigungen eines gewissen Teils von Genossen wiedergibt (allem Anschein nach einer kleinen Minderheit), so muss man bei den oben angeführten Einwänden ernstlich verweilen.

Die Besprechungen wurden zwischen den Spitzen geführt.“ Was bedeutet dieser Einwurf? Konferenzen und Kongresse finden stets nur statt zwischen den Spitzen, d.h. Vertretern. An einem Ort alle Mitglieder der Linken Opposition, SAP, RSP und OSP zusammenzubringen, ist eine nicht zu erfüllende Aufgabe. Wie kann man zu einer Abmachung kommen zwischen Organisationen ohne Unterredungen der Vertreter, d.h. der „Spitzen“? In diesem Punkt ist die Kritik offensichtlich jeglichen Sinnes bar.

Oder wollte der Autor der Kritik sagen, dass die Vertreter der Organisationen, die die gemeinsame Erklärung unterzeichnet haben, nicht die Meinung der Basis ausdrückten? Prüfen wir auch diesen Einwurf. Was die SAP betrifft, so weiß jeder, dass die einfachen Parteimitglieder längst nicht bloß nach einer Annäherung, sondern nach völliger Verschmelzung mit uns streben, während die Spitzen bis in die letzte Zeit auswichen und bremsten, aus Angst, sich von den möglichen Verbündeten zur Rechten loszureißen. Was bedeutet nun in einem solchen Fall die Tatsache, dass sich die Spitzen gezwungen sahen, zusammen mit uns ein in höchstem Grade verantwortungsvolles Dokument zu unterzeichnen? Die Antwort ist klar: der Druck der Basis nach links, d.h. zu uns hin, ist so stark geworden, dass die Führer der SAP ihr Gesicht uns zukehren mussten. Wer politische Tatsachen und Symptome richtig zu deuten versteht, der wird sagen: das ist ein gewaltiger Triumph. Diese Schlussfolgerung bleibt voll in Kraft auch unabhängig davon, wieweit die Unterredungen zwischen den Spitzen geschickt geführt wurden. Nicht Besprechungen haben die Sache entschieden, sondern die ganze vorhergehende Arbeit der Linken Opposition.

Mit der OSP steht es ungefähr ebenso. Diese Organisation stand in gar keiner Verbindung mit uns. Vor zwei Jahren befand sie sich in einem Block mit Seydewitz und Rosenfeld. Heute ist sie uns näher gekommen. Es ist klar, dass die Führer dieser Organisation so einen Schritt niemals getan hätten, wenn nicht ein entschiedener Ruck der Basis nach links da wäre.

Etwas anders verhält es sich mit der RSP (Sneevliet) Hier bestehen freundschaftliche Beziehungen schon ziemlich lange. Viele Genossen wissen, welche aktive Unterstützung Sneevliet und seine Freunde der Linken Opposition gewährten während der Kopenhagener Beratung und vor allem während des Amsterdamer Antikriegskongresses. Diese politische Verwandtschaft organisatorisch zu gestalten, stand die Frage der Komintern im Weg.* Als wir uns für die neue Internationale aussprachen, fiel die trennende Schranke. Ist es etwa nicht offenkundig, dass unsere neue Orientierung in diesem Fall ein konkretes und kostbares Ergebnis gebracht hat?

Etwa drei Monaten zuvor (am 15. Juni) schrieben wir hypothetisch davon, dass wir unter linkssozialistischen Gruppierungen bei breit angelegter und entschlossener Politik wahrscheinlich nicht wenig Verbündete würden finden können. Vor anderthalb Monaten sprachen wir die Vermutung aus, dass der Bruch mit der Komintern außerordentlich den Zustrom revolutionärer Gruppen sozialdemokratischen Ursprung zu uns erleichtern werde. Ist es etwa nicht klar, dass die Pariser Konferenz diese beiden Vermutungen bestätigt hat, dazu in einem solchen Umfange, wie wir vor zwei, drei Monaten selbst nicht erwarteten? Unter solchen Umständen sich zu beschweren, dass alles angeblich hinauslief auf Unterhaltungen der Spitzen, und zu behaupten, dass das neue Bündnis keine revolutionäre Bedeutung besitze, heißt, völliges Unverständnis für die Grundprozesse zu offenbaren, die heute in der proletarischen Vorhut sich vollziehen.

Doch besonders seltsam (gelinde gesprochen) klingt das Argument, dass wir eine Kehrtwende machen in Richtung auf … eine Versöhnung mit der Sozialdemokratie! So verleumden uns die Stalinisten und zwar nicht erst seit heute. Welche Gründe gibt es, um diese „Argumente“ in unsere eigene Organisation hinein zu tragen? Blicken wir jedoch näher auf die Sache. Die Pariser Konferenz wurde nicht von uns einberufen. Für ihre Zusammensetzung tragen wir nicht die geringste Verantwortung. Wir sind auf dieser Konferenz erschienen, um dort unseren Standpunkt darzulegen. Enthielt vielleicht unsere Erklärung irgendwelche Zugeständnisse an die Sozialdemokratie? Möge sich jemand entschließen, das zu sagen! Die von vier Organisationen unterzeichnete Erklärung enthält selbstverständlich nicht unser Programm. Aber sie kennzeichnet den Weg der Vierten Internationale deutlich auf der Grundlage eines unversöhnlichen Kampfes mit der Sozialdemokratie, des vollständigen Bruchs mit dem bürokratischen Zentrismus und einer entschiedenen Verurteilung aller Versuche im Geiste der Internationale Nummer Zweieinhalb. Wo ist da ein Zugeständnis an die Sozialdemokratie?

Die Vierererklärung gibt keine Antwort – und konnte es auch dem ganzen Stand der Dinge nach nicht tun – auf alle Fragen des Programms und der Strategie. Die neue Internationale aufbauen einzig und allein auf Grund dieser Erklärung ist selbstverständlich unmöglich. Aber wir haben ja auch gar nicht vor, es zu tun. In der Erklärung selbst ist klar gesagt, dass die sie unterzeichnenden Organisationen sich verpflichten, in kurzer Zeit ein Programmmanifest auszuarbeiten, das zum grundlegenden Dokument der neuen Internationale werden soll. Zu dieser Arbeit müssen alle unsere Sektionen herangezogen werden, alle drei Bundesorganisationen wie auch alle sympathisierenden Gruppen und Elemente. Schicken wir uns an, in diesem Manifest der Sozialdemokratie Zugeständnisse zu machen? Die auf der Konferenz der Öffentlichkeit unterbreitete Erklärung der Bolschewiki-Leninisten sagt klar, auf welcher Grundlage wir das Manifest zu bauen gedenken: die Beschlüsse der ersten vier Komintern-Kongresse, die „21 Bedingungen“, die „11 Punkte“ der Linken Opposition. Ob wir auf diesem Boden ernste Meinungsverschiedenheiten mit den Verbündeten haben werden, wird die Zukunft erweisen. Wenn Meinungsverschiedenheiten auftauchen, werden wir ernsthaft für unsere Ansichten kämpfen. In Prinzipienfragen haben wir bisher keine überflüssige Nachgiebigkeit gezeigt. Wo sind also die Begründungen für das Gerede von der Kehrtwendung zur Sozialdemokratie?

Dieselben Kritiker fügen noch folgendes Argument hinzu: die neue Internationale könne man errichten nur auf einer ansteigenden Welle der revolutionären Bewegung; heute aber, in der Atmosphäre des Niedergangs, seien alle Versuche in dieser Richtung im Voraus zum Scheitern verurteilt. Dies tiefsinnige historische Argument ist – ach! – ganz und gar entlehnt bei dem unfruchtbaren Scholastiker Souvarine (der, so viel ich weiß, inzwischen eine Wende um 180° vollbracht hat). Die Notwendigkeit eines Bruchs mit der Zweiten Internationale und die Notwendigkeit der Vorbereitung der Dritten wurde von den Bolschewiki ausgesprochen im Herbst 1914, d.h. in einer Lage fürchterlichsten Zusammenbruchs der sozialistischen Parteien. Auch damals gab es nicht wenig Weise, die von dem „Utopismus“ (das Wort „Bürokratismus“ wurde damals noch nicht missbraucht) der Losung der dritten Internationale redeten. Kautsky ging in seinem bekannten Aphorismus noch weiter: „Die Internationale ist ein Werkzeug des Friedens, nicht des Krieges.“ Im Wesentlichen sprechen auch die oben angeführten Kritiker den gleichen Gedanken aus: „Die Internationale ist ein Werkzeug des Aufstiegs und nicht des Niedergangs.“ Eine Internationale braucht das Proletariat immer und unter allen Umständen. Wenn es heute keine Internationale gibt, so muss man es laut sagen und unverzüglich an die Vorbereitung einer neuen Internationale schreiten. Wie schnell es gelingt, sie auf die Füße zu stellen, hängt natürlich vom genauen Verlauf des Klassenkampfes ab, vom Niedergang oder Aufstieg der Arbeiterbewegung usw. Aber auch in der Zeit des schwersten Niedergangs muss man sich auf den kommenden Aufstieg vorbereiten, indem man den eigenen Kadern eine richtige Orientierung gibt. Die fatalistischen Klagen über den objektiven Niedergang spiegeln meistens den eigenen subjektiven Niedergang wider.

Nehmen wir als Vergleich die Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal. Sie sind in die Geschichte eingegangen als unumgängliche Stufen zwischen der Zweiten und der Dritten Internationale. Was stellten diese Konferenzen an sich in Wirklichkeit dar? Sie setzten sich notwendigerweise nur aus „Spitzen“ zusammen (jede Konferenz besteht aus Spitzen). Der Anzahl unmittelbar vertretener Arbeiter nach waren sie schwächer als die Pariser Konferenz. Die Mehrheit in Zimmerwald und Kienthal bestand aus rechtszentristischen Elementen (Ledebour, der noch schwankte, ob er gegen die Kriegskredite stimmen sollte, Hoffmann, Bourderon, Merrheim, Grimm, Axelrod, Martow usw.). Lenin hielt es für möglich, ein Manifest aller Organisationen zu unterzeichnen trotz aller Unbestimmtheit dieses Dokuments.**

Was die Zimmerwalder „Linke“ betrifft, war sie außerordentlich schwach. Nach der Niederschlagung der Dumafraktion der Bolschewiki und ihrer Ortsorganisationen war die Bolschewistische Partei in der Kriegszeit nicht stärker als die heutige russische linke Opposition. Die übrigen linken Gruppen waren unvergleichlich schwächer als unsere heutigen drei Verbündeten. Die allgemeine Lage der Arbeiterbewegung schien unter den Umständen des Krieges völlig hoffnungslos. Nichtsdestoweniger nahmen die Bolschewiki wie die Gruppe „Nasche Slowo“ von Anfang an Kurs auf die Dritte Internationale. Ohne diesen Kurs wäre die Oktoberrevolution unmöglich gewesen.

Wiederholen wir: Lenin hielt es unter den damals bestehenden Umständen für möglich, zusammen mit Ledebour, Bourderon, Grimm und Martow ein Manifest gegen den Krieg zu unterzeichnen. Die Bolschewiki-LeninistInnen haben heute die Resolution der Mehrheit der Pariser Konferenz nicht unterzeichnet und übernehmen selbstverständlich keinerlei Verantwortung für diese Mehrheit. War etwa Lenins Politik in Zimmerwald und Kienthal … eine Kehrtwendung zum Sozialpatriotismus? Man mag erwidern, dass unter den Bedingungen des Friedens eine noch strengere Auslese nötig sei als zur Zeit des Krieges. Richtig! Ledebour und Bourderon setzten etwas aufs Spiel, als sie das Zimmerwalder Manifest unterzeichneten, aber Tranmæl & Co betreiben ihre Manöver (die rechte Hand der skandinavischen Sozialdemokratie, den kleinen Finger der linken Hand der Pariser Konferenz) ohne das geringste Risiko. Aber darum haben wir es abgelehnt, die inhaltslose Resolution der Pariser Mehrheit zu unterzeichnen. Wo ist da ein Zugeständnis an die Sozialdemokratie?

Jedoch zwei unserer Verbündeten – erwidern uns die Kritiker – haben die Resolution der Mehrheit unterzeichnet und damit bewiesen, dass sie noch keine endgültige Wahl getroffen haben. Vollkommen wahr! Doch tragen wir auch für unsere Verbündeten keine Verantwortung, ebenso wie sie keine für uns tragen. Die Bedingungen unseres Abkommens sind genau formuliert und heute jedermann zugänglich. In welche Richtung unsere Verbündeten ihre endgültige Wahl treffen werden, wird die Zukunft zeigen. Wir wollen ihnen helfen, die richtige Wahl zu treffen. Eine der Hauptregeln der revolutionären Strategie lautet: Beobachte den Verbündeten genau so wie den Gegner. Dasselbe Recht räumen wir natürlich auch den Verbündeten uns gegenüber ein. Gegenseitige Kritik – auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung! Darin ist auch nicht die geringste Spur von Kulissendiplomatie der Spitzen, alles geht und wird vor sich gehen vor den Augen der Massen, unter ihrer Kontrolle, zum Zweck, die Massen zu schulen. Andere Wege und Methoden für revolutionäre Politik gibt es überhaupt nicht.

Es gibt noch andere Regeln für die revolutionären Politik, an welche sich zu erinnern nicht schaden kann: erschrecke dich nicht unnötig und erschrecke ohne Grund nicht andere; ersinne keine falschen Beschuldigungen; suche nicht Kapitulationen dort, wo es keine gibt; stoße keine Organisation zurück, wenn sie dabei sind, sich vorwärts zu bewegen; ersetze nicht die marxistische Diskussion durch prinzipienlose Cliquenkämpfe. Lange Erfahrung zeigt, dass gerade in den Augenblicken wenn eine Organisation sich anschickt, aus einer engen Winkelgasse herauszutreten auf ein breiteres Kampffeld, sich stets Elemente auffinden, die in ihrem Krähwinkel Wurzeln geschlagen haben, alle Nachbarn und Nachbarinnen kennen, gewohnt sind, alle Neuigkeiten und Gerüchte der Gasse weiterzugeben und sich mit schrecklich wichtigen Sachen wie dem „Ministeristurz“ in ihrem eigenen Krähwinkel befassen. Diese konservativen und sektiererhaften Elemente haben eine grässliche Angst, dass es auf einem breiteren Kampffeld für ihre Kunst keine Anwendung mehr geben wird. Sie greifen daher in die Wagenräder, versuchen sie zurückzudrehen und rechtfertigen ihr im Grunde reaktionäres Tun mit schrecklich „revolutionären“ und „prinzipiellen“ Argumenten. Weiter oben haben wir versucht, diese Argumente auf die Waage der marxistischen Dialektik zu legen. Mögen die Genossen selbst entscheiden, welches Gewicht sie anzeigt

G. Gurow

10. September 1933

*Die Meinungsverschiedenheiten in der Gewerkschaftsfrage haben offensichtlich ihre frühere Schärfe eingebüßt, wenn sie nicht sich endgültig in Nichts aufgelöst haben.

**Beiläufig: manche Weise erinnern ohne Sinn und Verstand an den „Augustblock“ von 1912, dessen Rahmen ein rein national war, lassen aber die internationale Konferenz von Zimmerwalder unbeachtet, mit der die Analogie sich von selbst aufdrängt.

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