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Leo Trotzki 19330126 Sowjetwirtschaft in Gefahr!

Leo Trotzki: Sowjetwirtschaft in Gefahr!

[Nach Permanente Revolution, 3. Jahrgang Nr. 6 (2. Februarwoche 1933), S. 2 f.]

Der nachstehende Brief war an die Redaktion der «SAZ» (Organ der SAP) gerichtet. Nachdem aber die Presse der SAP die bestellte Fälschung der stalinistischen Bürokratie über die «Liquidierung der Trotzkisten» gewissenlos nachdruckte, sah sich der Genosse Trotzki gezwungen, von der Absendung des Briefes Abstand zu nehmen.

Da der Brief trotzdem seine Bedeutung behält, bringen wir ihn nachstehend zum Abdruck.

Werte Genossen,

In den beiden Nummern Ihrer Zeitung vom 11. und 12. Januar erschien ein Artikel über meine Broschüre «Sowjetwirtschaft in Gefahr». Da es sich um eine überaus wichtige Frage handelt, über die sich jeder revolutionäre Arbeiter, wenn nicht heute, so morgen, eine klare Meinung bilden muss, bitte ich Sie, mir die Möglichkeit zu geben, durch vorliegenden Brief Ihren Lesern mit möglichst kurzen Worten jene Seiten der Sache zu erläutern, die meiner Meinung nach in Ihrer Zeitung einer falschen Auslegung unterzogen wurden.

1. In dem Artikel ist einige Male gesagt, dass Sie «nicht in allem» und «bei weitem nicht in allem» mit Trotzkis Anschauungen über die Sowjetwirtschaft einverstanden sind. Meinungsverschiedenheiten zwischen uns sind um so natürlicher, als wir verschiedenen Organisationen angehören. Jedoch kann ich mein Bedauern darüber nicht unterdrücken, dass Sie – mit einer einzigen, weiter unten behandelten Ausnahme – nicht darauf hingewiesen haben, mit welchen Anschauungen Sie denn nicht einverstanden sind. Erinnern wir uns, wie Marx, Engels, Lenin das Ausweichen in wesentlichen Fragen tadelten und verurteilten, das seinen Ausdruck meist in der nichtssagenden Formel «bei weitem nicht mit allem einverstanden» findet. Was jeder revolutionäre Arbeiter von seiner Organisation und von seiner Zeitung fordern kann, das ist eine bestimmte und klare Stellungnahme in Bezug auf die Fragen des sozialistischen Aufbaues in der USSSR.

2. Nur in einem Punkte versucht Ihr Artikel sich konkreter gegen meine Anschauungen abzugrenzen. «Wir glauben» – schreiben Sie –, «dass Trotzki die Dinge etwas zu einseitig betrachtet, wenn er die Hauptschuld für diese Zustände der stalinschen Bürokratie zuschiebt» (!) … Weiter setzt der Artikel auseinander, dass die Hauptschuld nicht an der Bürokratie liegt, sondern an dem Umstand, dass der Wirtschaft zu große Aufgaben gestellt seien, für deren Erfüllung es an den nötigen qualifizierten Kräften fehlt. Aber wer hat denn diese übertriebenen Aufgaben gestellt, wenn nicht die Bürokratie? Und wer hat rechtzeitig vor ihrem übertriebenen Maßstab gewarnt, wenn nicht die Linke Opposition? So ergibt sich dass gerade Ihr Artikel die ganze Schuld der Bürokratie «zuschiebt».

Ihr Vorwurf an meine Adresse ist auch aus einem tieferen Grunde ungerecht. Die Verantwortung für alle Schwierigkeiten und für alle Krisenerscheinungen auf die herrschende Fraktion zu schieben, vermöchte nur der, der an die Möglichkeit einer planmäßigen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft in nationalen Grenzen glaubt. Aber das ist nicht mein Standpunkt. Die Hauptschwierigkeiten für die USSR entspringen: a) aus der wirtschaftlichen und kulturellen Rückstandigkeit, die den Sowjetstaat zwingt viele von jenen Aufgaben zu lösen, die in fortgeschrittenen Ländern der Kapitalismus gelost hat: b) aus der Isolierung des Arbeiterstaats in einer Epoche, in der die Arbeitsteilung zwischen den Staaten der ganzen Welt zur wichtigsten Voraussetzung der nationalen Produktivkräfte geworden ist

3. Die Stalinsche Fraktion bezichtigen wir nicht der Schuld an den objektiven Schwierigkeiten, sondern des Unverständnisses für die Natur dieser Schwierigkeiten, der Unfähigkeit, die Dialektik in der Entwicklung derselben vorauszusehen und der hieraus entspringenden ununterbrochenen Fehler der Führung. Fern liegt uns selbstverständlich der Gedanke, dieses «Unverständnis» und diese Unfähigkeit mit den persönlichen Eigenschaften der einzelnen Führer zu erklären. Es handelt sich um das System des Denkens, um die politische Richtung, um die dem alten Bolschewismus entwachsenen Fraktionen. Eine und dieselbe Methodologie beobachten wir in der wirtschaftlichen Leitung Stalins, wie in der politischen Leitung Thälmanns. Man kann nicht mit Erfolg gegen die Zickzacks von Thälmann kämpfen, ohne verstanden zu haben, dass es sich nicht um Thälmann, sondern um die Natur des bürokratischen Zentrismus handelt.

4. An anderer Stelle erinnert Ihr Artikel daran, dass die Linke Opposition, insbesondere und vor allem Rakowski, rechtzeitig vor den übersteigerten Tempi des Aufbaues gewarnt hat. Aber gleich daneben schreiben Sie von angeblich analogen Warnungen Bucharins, Rykows und Tomskis. Auf den Scharfsinn der letzteren beruft sich Ihr Artikel zweimal, ohne mit einem Wort an die unversöhnlichen Gegensätze zwischen der rechten und Linken Opposition zu erinnern. Ich halte es für um so nötiger, diesen Punkt klarzustellen, weil gerade die stalinsche Fraktion keine Anstrengungen scheut um die tiefen Gegensätze zwischen dem opportunistischen und dem marxistischen Flügel im Lager des Bolschewismus zu verdecken oder zu verwischen.

Seit dem Jahre 1922 hat die Linke Opposition, richtiger ihr künftiger Stab, eine Kampagne für die Ausarbeitung eines Fünfjahresplanes geführt, dessen Achse die Industrialisierung des Landes sein sollte. Wir bewiesen schon damals, dass das Tempo der Entwicklung der nationalisierten Industrie schon in den nächsten Jahren das Tempo des russischen Kapitalismus (6 % jährliche Zunahme) «um das Zwei-, Drei- und Mehrfache» übertreffen könnte. Unsere Gegner nannten dieses Programm nicht anders als eine industrielle Phantasie. Wenn Bucharin, Tomski, Rykow sich durch irgend etwas von Stalin-Molotow unterschieden, so nur darin, dass sie noch entschiedener gegen unsere «Überindustrialisiererei» kämpften. Der Kampf gegen den «Trotzkismus» wurde theoretisch fast ausschließlich von Bucharin genährt. Seine Kritik des «Trotzkismus» hat im Weiteren auch als Plattform des rechten Flügels gedient.

Im Verlauf einer Reihe von Jahren war Bucharin, um seinen eigenen Ausdruck zu benutzen, Prediger des «Schildkröten-Tempos» der Industrialisierung. Er blieb es, sowohl damals, als die Linke Opposition den Übergang zum Fünfjahresplan und zu höheren Tempi der Industrialisierung forderte (in den Jahren 1923-1928), wie auch in den Jahren des ultralinken Zickzacks der Stalinisten, als die Linke Opposition vor der Umwandlung des Fünfjahresplanes in einen Vierjahresplan und insbesondere vor der abenteuerlichen Kollektivierung warnte (in den Jahren 1930-1932). Aus dem Mund Bucharms sprach nicht die dialektische Einschätzung der Sowjetwirtschaft in ihrer widerspruchsvollen Entwicklung, sondern eine von Anfang an opportunistische Einstellung, ein wirtschaftlicber Minimalismus.

5. Wie unbegründet Ihr Artikel die Kritik Bucharins mit der Kritik Rakowskis vermengt, ist aus folgendem Umstand ersichtlich: In den gleichen Tagen in denen Ihre Zeitung an den scheinbaren Scharfsinn Bucharins in der Vergangenheit erinnerte, hat sich Bucharin selbst auf dem Plenum des ZK kategorisch und vollständig von seiner ganzen früheren Kritik und von allen seinen früheren Prognosen als grundfalsch losgesagt («Prawda», 14. Januar 1933). Rakowski aber hat sich auf dem Plenum von nichts losgesagt, nicht deshalb, weil er als Verdickter an Barnaul gefesselt ist, sondern deshalb, weil er sich von nichts loszusagen braucht.

6. Gleich nach dem Erscheinen meiner Broschüre «Sowjetwirtschaft in Gefahr» fand in der sowjetistischen Wirtschaftspolitik ein Umschwung statt, der ein sehr helles Licht auf das uns beschäftigende Problem wirft und eine untrügliche Kontrolle aller Prognosen der verschiedenen Fraktionen ermöglicht. Die Geschichte des Umschwungs ist mit zwei Worten die folgende:

Die XVII. Konferenz der RKP billigte im Januar des Jahres 1932 die Prinzipien des zweiten Fünfjahresplanes. Das Tempo der Zunahme der Industrie wurde auf ungefähr 25 % festgesetzt, wobei Stalin auf der Konferenz erklärte, dass das nur die minimale Grenze sei, und dass bei der Ausarbeitung des Plans dieser Prozentsatz erhöht werden muss und wird.

Die Linke Opposition bezeichnete diese ganze Perspektive als eine Frucht bürokratischer Abenteurerei. Sie wurde, wie es sich von selbst versteht, des Strebens nach der Gegenrevolution, nach der Intervention Japans und nach der kapitalistischen, wenn nicht feudalen Restauration beschuldigt.

Genau ein Jahr ist vergangen. Auf dem letzten Plenum des ZK trug Stalin ein neues Projekt des zweiten Fünfjahresplanes vor. Nicht mit einem einzigen Wort erwähnte er die vor einem Jahr als minimal gebilligten Tempi. Niemand entschloss sich, ihn daran zu erinnern. Jetzt schlug Stalin für den zweiten Fünfjahresplan 13 % jährlicher Zunahme vor. Wir ziehen daraus durchaus nicht die Schlussfolgerung, als ob Stalin bestrebt sei, eine japanische Intervention und die Wiederherstellung des Kapitalismus hervorzurufen. Aber wir machen die Schlussfolgerung, dass die Bürokratie zur Herabsetzung der Tempi nicht auf Grund marxistischer Voraussicht gekommen ist, sondern hinterher, nachdem sie mit dem Schädel gegen die verhängnisvollsten Folgen ihrer eigenen wirtschaftlichen Abenteurerei gestoßen ist. Gerade dessen klagen wir sie an. Und gerade deswegen meinen wir, dass ihr neuer notgedrungener Zickzack keinerlei Garantien in Bezug auf die Zukunft enthält.

Noch greller treten die Unterschiede der drei Auffassungen (der rechten, zentristischen und marxistischen) auf dem Gebiet der Landwirtschaft hervor. Aber dieses Problem ist zu verwickelt, um auch nur flüchtig im Rahmen eines Briefes an die Redaktion gestreift zu werden. Im Verlauf der nächsten Wochen hoffe ich, über die Perspektiven der Sowjetwirtschaft eine neue Broschüre herauszubringen.

Prinkipo, den 26. Januar 1933.

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