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Leo Trotzki 19351208 Brief an W

Leo Trotzki: Brief an W.

[Nach Informationsdienst der IKD, Nr. 10, Februar 1936, S. 2-5]

H., den 8. Dezember 35

Lieber Freund W.

Es hat mich sehr gefreut, endlich von Ihnen nach einer so langen Unterbrechung ein Lebenszeichen zu bekommen. Dass Sie trotz aller Erschütterungen und harten Prüfungen ungebeugt und kampfbereit dastehen, ist für mich keinesfalls unerwartet, nichtsdestoweniger aber höchst erfreulich:, in dieser Zeit, wo so viele den Mut verlieren, sich an den Reformismus anpassen oder unter schillerndsten Farben der ultraradikalen Kritik beiseite stehen bleiben.

Die aus der KP oder aus der Sinowjew-Fraktion zu uns neigenden Genossen,, darunter einige politisch qualifizierte, finden leider nicht so leicht der. richtigen Weg und die richtige Sprache. Das Thema ist teilweise in den Artikel „Die Nichterfassten" in der letzten Nummer „Unser Wert" angeschnitten. Die führende Schicht der europäischen Kommunisten (somit auch der Sinowjewisten) hatte seinerzeit die „Masse" mit einem Schlag in den Schoß bekommen – dank dem Kriege und der Oktoberrevolution. Sie haben sich dann an die Bequemlichkeit gewöhnt, die Massen durch kurze und bündige Formeln zu „kommandieren". Sie meinten., die Kräfte liegen in ihnen selbst und in ihren Formeln. In Wirklichkeit befanden sich die Kräfte im Vertrauen der erwachten Massen an die Oktoberrevolution und an die Komintern trotz der immer falscheren Formeln. Daher ähneln auch manche Elemente aus dieser Schicht dem Sohne, der das väterliche Erbteil durchgebracht hat und jetzt nach einer Zauberformel sucht, die ihm von Neuem die Taschen füllen soll. Die hartnäckige vorbereitende und erzieherische Arbeit der revolutionären Pioniere sagt ihm nicht zu. Demgegenüber ist er immer auf der Suche nicht nur unserer Fehler (die natürlich zahlreich sind) sondern des Fehlers, der es verhindert, dass ihm die Massen wieder im Haufen zufluten. Dass der Bolschewismus nicht nur Perioden der Flut, sondern auch Perioden der Ebbe kannte (1906-1912, 1914-1917) ist ihnen zwar aus Büchern bekannt, ist aber von ihnen politisch nie erfasst worden. Daher dieses ewige Schwanken, die Gleichstellung des Nebensächlichen mit dem Ausschlaggebenden in unserer Politik und die Geneigtheit, dem spießerischen SAP-Klatsche Gehör zu schenken, eigentlich nicht nur dem Klatsche, sondern auch zuweilen der echten opportunistischen Kritik.

Ein frisches Beispiel: Erde, der die Internationale Hilfe für die internationalistischen Parteien übernehmen sollte, hatte ein Krach mit dem IS wegen praktisch bedeutender, aber doch sekundär Dinge. Ich hatte den Eindruck, dass seitens des IS wirklich nicht alles gemacht worden ist, wie es hätte sein sollen. Den Bruch Erdes habe ich nichtsdestoweniger (oder desto mehr) als absolut falsch betrachtet. In diesem Sinne habe ich ihm auch einen Brief geschrieben. Vor kurzem ist die Antwort eingetroffen. Erde setzt an den Bolschewiki-Leninisten vieles aus, wobei das Wichtige und Unwichtige durcheinandergerät und woraus sich keine allgemeine Perspektive schälen lässt. Das ganze Dokument aber ist durch den Grundton der Feindschaft charakterisiert, nicht mir persönlich, sondern unserer internationalen Organisation und mehreren einzelnen Genossen gegenüber. In diesem Brief befinden sich jedoch zwei Stellen, die für mich als eine Offenbarung gelten: die eine bezieht sich auf die Sektionen, die andere auf die SAP. Erde schreibt:

Da die Arbeiterklasse nichts tut, nichts kann und zum großen Teile nicht will, müssen die Maßnahmen der Bourgeoisie als Basis für einen Kampf genommen werden. Jede negative Stellungnahme dient dem Faschismus."

Unter diesem Gesichtswinkel verwirft Erde die Stellungnahme unserer italienischen Genossen zu den Sanktionen. Welchen Standpunkt aber nimmt im Grunde Erde selbst gegenüber den Reformisten und Stalinisten ein? Da das Proletariat jetzt schwach ist, muss es sich … auf die Bourgeoisie stützen. Die Schwäche des Proletariats besteht ja eben darin, dass es die Bourgeoisie schalten und walten lässt und wenn man diese Passivität dem eigenen Imperialismus gegenüber zum Prinzip erhebt, so stärkt man nicht das Proletariat, sondern untergräbt nur die Zukunft seiner Avantgarde.

Weiter schreibt Erde:

Wie ist ein so alberner Beschluss möglich, den die holländische Sektion fasste, nicht mehr mit Emigranten zu verkehren, die Mitglieder der SAP sind? Die SAP-Genossen sind unsere nächsten Freunde."

Den Beschluss der holländischen Sektion halte ich nicht für albern sondern für heilbringend. Die amerikanische Partei hat auch vor kurzem beschlossen, mit der SAP und IAG alle freundschaftlichen Beziehungen abzubrechen. Die SAP ist doch jetzt nichts anderes als die organisierte Agentur aller Unzulänglichkeiten und Zweideutigkeiten in den führenden und exführenden Schichten der alten Organisationen – für den tückischen, spießerischen und verleumderischen Kampf gegen die IV. Internationale.

Wenn Erde in diesen zwei Fragen, die übrigens miteinander eng verknüpft sind (Sanktionen und SAP, d.h. der nach rechts gerichtete Opportunismus), die oben angeführte Stellung einnimmt, was für einen Sinn hat es dann, über die praktischen Fehler des IS oder die wirklichen oder vermeintlichen Fehler von „UW“ noch Zeit zu verlieren? Wir stehen auf verschiedenen Seiten des Schützengrabens .

Ich weiß nicht, wie Genosse Hardt, der, wie ich glaube, in der ersten Zeit mit Erde zusammen marschierte, sich zu den Sanktionen und zu „unseren nächsten Freunden" verhält. Kaum ist er mit Erde einverstanden. Aber wie ich nach seinen Briefen beurteilen kann, gehört er auch zu den Ungeduldigen, die gestern noch die Massen „kommandiert" haben, die diese Gewohnheit noch nicht losgeworden sind, für die sie aber in unseren Reihen keine Anwendung finden. Nicht nur, weil wir keine großen Massen haben, sondern auch, weil die „kleinen Massen", die wir doch mit immer größerem Erfolg um uns scharen, sich nach der sinowjew-stalinschen Erfahrung nicht mehr „kommandieren" lassen wollen. Dass unsere jungen Genossen öfters guter Ratschläge bedürfen, ist nicht zu bestreiten. Daher legte ich auch immer das größte Gewicht darauf, dass wir die besten Elemente aus der alten Generation heranziehen. Nun aber wollen manche von ihnen die langwierige erzieherische Arbeit durch das Fuchteln mit dem Kommandostab ersetzen. Das wird nicht gehen. Denn auch die Jüngsten bei uns haben das Gefühl der Selbständigkeit, das sie ziemlich teuer bezahlt haben. Und dieses Gefühl macht sie eben widerstandsfähig gegen die alten Organisationen mit ihrer Einheitsfront, Volksfront und anderen großartigen Dingen, die jedem Philister so mächtig imponieren.

Sie schreiben, ein Genosse meine, ich sei schon selbst der Meinung, dass die Konterrevolution in der Sowjetunion vollzogen sei, nur halte ich es noch nicht für opportun, dies öffentlich zu sagen. Dieser Genosse konnte mir wahrhaftig – vielleicht ohne zu wollen – keine größere Beleidigung antun. Das Aussprechen, was ist haben wir immer zu unserem leitenden Prinzip erheben. Dass ich 2 Meinungen habe, eine für mich (oder für mich und die nächsten Freunde) und die andere für die Außenwelt, das ist doch wirklich zu stark. In der Frage der geschichtlichen Analogie mit dem Thermidor habe ich mich in der letzten Zeit selbst öffentlich korrigiert. Es handelt sich aber um nicht mehr als eine Analogie, die immer einseitig, niemals erschöpfend ist. Was das Wesen der Sache anbetrifft, so kann ich dem, was ich darüber schon gesagt habe, wirklich nichts Neues hinzufügen. Gen. Braun wird Ihnen eine ganz kurze, auf das Elementarste zusammengedrängte Formulierung meiner Stellungnahme zur Sowjet-Union im Zusammenhang mit dem Krieg mitteilen. Ob wir mit Genossen, die in dieser ausschlaggebenden Frage anderer Meinung sind, zusammenarbeiten können? Diese Frage lässt sich nicht durch ein einfaches Ja oder Nein beantworten, Die Treint-Gruppe in Frankreich erklärt, sie sei mit uns in allen Fragen einverstanden, nur in der Frage des sozialen Charakters der Sowjet-Union nicht und daher unterzeichnet sie den „Offenen Brief" nicht. Wenn aber jemand persönlich oder eine Gruppe trotz der Differenz in der SU-Frage der IV. Internationale beitritt, so bedeutet dies, dass er sich entweder nicht ganz sicher fühlt oder die Wichtigkeit der Frage unterschätzt. In beiden Fällen wäre es falsch, solche Genossen abzustoßen. Man sollte sie aufnehmen, um mit ihnen weiterhin auf Grund der Ereignisse zu diskutieren. Eine genauere Antwort lässt sich meines Erachtens au: die Frage nicht geben.

Was die Einheitsfront-Frage anbetrifft, so glaube ich, dass man hier öfters großen terminologischen Unfug stiftet und dadurch die klare Fragestellung erschwert. Der Begriff der Einheitsfront hängt eng zusammen mit der bekannten Formel: Getrennt marschieren, vereint schlagen. Um vereint schlagen zu können, muss man eine einheitliche Front beziehen. Es handelt sich somit nicht um eine permanente Institution, sondern eher um eine vorübergehende Kriegssituation. In „ruhigen" Zeiten ist die Anwendung der Eiheitsfront eher eine Ausnahme. In einer revolutionären Periode kann sie andauernd sein und sogar eine organisatorische Form annehmen (Z.B. die Form der revolutionären Sowjets). Jedenfalls handelt es sich unter allen Umständen um das Zusammenschließen der Reihen zum Schlagen, was Massenorganisationen voraussetzt,

Nehmen wir z.B. die seelige „Einheitsfront" der ILP mit der KP Englands. Es handelte sich um ein permanentes Bündnis zweier propagandistischer Gruppen. Das ist keine Einheitsfront, sondern ein öffentliches Bekenntnis, dass eine der zwei Gruppen oder vielleicht beide kein Recht auf eine selbständige politische Existenz haben. Denn sie marschieren zusammen, noch bevor sie die Kraft zum Zuschlagen erlangt haben. Marschieren soll man aber getrennt wenn man wirklich etwas der Arbeiterklasse zu sagen hat.

Ich bin nicht sicher, ob diese flüchtigen Bemerkungen mit den von Ihnen erwähnten Diskussionen zusammenfallen und ob sie somit der Klärung der Frage dienlich sind. Doch das werden Sie sehen selbst besser beurteilen können.

Jedenfalls müssen wir geduldig sein in Bezug auf alle Gruppierungen, die sich uns annähern, wenn auch manchmal mit den Gebärden einer nicht ganz begründeten Überlegenheit. Nichts auf dem Gebiete der Prinzipien nachgeben, aber keine Prestigepolitik treiben; sich nicht von unangenehmen Erinnerungen beeinflussen lassen und nicht die eigene Nerven verlieren. Das glaube ich, müsste unsere Regel sein. Sogar den SAP-Leuten gegenüber haben wir im Laufe von mehreren Jahren die größte Geduld aufgebracht. Dass diese Frist sich als Galgenfrist erwiesen hat, ist ihre eigene Schuld. Auch jeder anderen Gruppe und jedem einzelnen Genossen gegenüber müssen wir den guten Willen zeigen, denn wir sind die stärkeren. Wir haben eine Tradition hinter uns und für unsere Zukunft hegen wir nicht die geringsten Zweifel.

Bleiben Sie mir, lieber Freund, gesund und über das Pech des Lebens immer erhaben.

L. Trotzki.

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