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Leo Trotzki 19350608 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 174-177]

8. Juni

Auf der Reise von London nach Wien besuchte uns L. S. geborene Kljatschko, Tochter eines vor dem Krieg gestorbenen russischen Altemigranten. Ihre Mutter, unsere alte gute Bekannte, war vor kurzem in Moskau und hat anscheinend versucht, Erkundigungen über Serjoscha einzuziehen, den sie als kleinen Buben in Wien gekannt hatte. Das Ergebnis war, dass sie Moskau in größter Eile verlassen musste. Einzelheiten haben wir noch nicht erfahren…

Von einer Studentengruppe der Edinburgher Universität, die sich aus Vertretern »aller politischen Denkrichtungen« zusammensetzt, bin ich aufgefordert worden, als Rektor zu kandidieren. Ein reines »Ehren«-Amt –, der Rektor wird auf drei Jahre gewählt, hat irgendeine Charta zu veröffentlichen und außerdem noch irgendwelche symbolische Handlungen zu vollziehen. Unter den bisherigen Inhabern dieses Amts werden genannt: Gladstone, Smuts, Nansen, Marconi… Eine derart extravagante Idee wie die Aufstellung meiner Kandidatur als Rektor einer Universität ist nur in England, gegenwärtig vielleicht nur noch in Schottland denkbar. Selbstverständlich lehnte ich freundschaftlich dankend ab:

»7. Juni 1935

Ich bin Ihnen für Ihr unerwartetes und mir schmeichelndes Angebot: meine Kandidatur zum Rektor der Edinburgher Universität aufzustellen, sehr verbunden. Die Unabhängigkeit von nationalistischen Motiven, die in diesem Angebot ihren Ausdruck gefunden hat, gereicht den Edinburgher Studenten zur Ehre. Ich schätze Ihr Vertrauen um so mehr, als nach Ihren eigenen Worten die Weigerung der britischen Regierung, mir ein Einreisevisum zu erteilen, Sie von Ihrem Vorhaben nicht zurückhält. Und doch fühle ich mich nicht berechtigt, Ihr Angebot anzunehmen. Die Rektorwahl vollzieht sich, wie Sie mir schreiben, auf unpolitischer Grundlage, und Ihr Schreiben trägt die Unterschriften der Vertreter aller politischen Denkrichtungen. Allein, ich vertrete persönlich einen ganz eindeutigen politischen Standpunkt: seit meiner Jugend ist mein ganzes Wirken auf die revolutionäre Befreiung des Proletariats vom Joch des Kapitals gerichtet. Ich kann mich keiner anderen, die Übernahme eines verantwortlichen Amtes rechtfertigenden Verdienste rühmen. Deshalb würde ich es als einen Vertrauensbruch der Arbeiterklasse gegenüber und als Illoyalität Ihnen gegenüber ansehen, wenn ich auf irgendeinem Gebiet öffentlichen Wirkens nicht unter dem Banner des Bolschewismus hervorträte. Ich zweifle nicht daran, dass Sie einen Kandidaten finden werden, dessen Persönlichkeit der Überlieferung Ihrer Hochschule in einem viel höheren Maße entsprechen würde.

Von Herzen wünsche ich Ihnen Erfolg für Ihre Arbeit und verbleibe in Dankbarkeit…1

Äußerlich ist bei uns daheim alles beim alten geblieben. In Wirklichkeit aber hat sich alles verändert. Jedes Mal, wenn ich mich Serjoschas erinnere, empfinde ich bitteren Schmerz. N. aber »erinnert« sich nicht, sondern trägt immer das tiefe Leid im Innersten ihrer Seele. »Er hat sich auf uns verlassen…«, sagte sie dieser Tage zu mir ( – ihre Stimme klingt noch heute in meiner Seele nach)… »Er war der Meinung, da wir ihn dort zurückgelassen haben, dass es auch so nötig war.« Und das Ergebnis ist, dass wir ihn geopfert haben. Genau das ist es…

Hinzugekommen ist nun noch die akute Verschlechterung meines Gesundheitszustandes. Auch darunter leidet N. sehr schwer. Eins zum anderen. Zudem hat sie viel Arbeit im Haushalt. Ich bin immer wieder erstaunt, woher sie so viel gesammelte, leidenschaftliche und zugleich doch verhaltene Energie hat? S. L. Kljatschko, unser alter Wiener Freund, der N. sehr schätzte, sagte einmal, dass er eine solche Stimme, wie sie N. hat, nur bei der Eleonore Duse gehört hätte. (Die Duse war für S. L. Kljatschko die vollkommenste Verkörperung der weiblichen Persönlichkeit.) Doch war die Duse eine Tragödin. Dagegen ist an N. nichts »Bühnenhaftes«. Sie ist unfähig, zu »spielen«. Alles, was sie erlebt, erlebt sie in äußerster Geschlossenheit, wobei sie ihrem Erleben künstlerischen Ausdruck verleiht. Das Geheimnis dieses künstlerischen Ausdrucks ist die Tiefe, die Unmittelbarkeit und die Ganzheit ihres Wesens.

Dieser Tage erinnerte ich Natascha im Zusammenhang mit den Schicksalsschlägen, von denen wir betroffen wurden, beiläufig an die Lebensbeschreibung des Protopopen Awwakum. Zusammen schleppten sie sich quer durch Sibirien, der Erzpriester und sein Priesterweib versanken im Schnee; die arme todmüde Frau brach in die Schneelöcher ein. Awwakum berichtet:

»Wie ich nun komme, jammert die Arme, beschuldigt mich und spricht: >Wird dieses Leides noch lange sein, Erzpriester?< Und ich sage zu ihr: >Markowna, bis in den Tod.< Sie aber seufzte und antwortete also: >Wohl denn, Petrowitsch, so lass uns noch weiter pilgern.<«2

Eines nur kann ich sagen: nie hat mich N. »jammernd beschuldigt«, nie, auch nicht in den bittersten Stunden; auch jetzt, in den schwärzesten Tagen unseres Lebens, wo alles sich gegen uns verschworen hat, gibt sie mir keine Schuld…

1 Briefentwurf mit vielen Korrekturen und Einfügungen

2 Ausschnitt aus einer Buchseite, vermutlich aus einer frühen Ausgabe der Lebensbeschreibung des Erzpriesters Awwakum. Die Worte von »Wird dieses Leides« bis zum Schluss sind dick mit Bleistift unterstrichen.

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