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Leo Trotzki 19360917 Brief an Leo Sedow

Leo Trotzki: Brief an Leo Sedow

[Nach dem handschriftlichen Text in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 309, International Institute of Social History, Amsterdam]

17. 9. 36

Lieber Ljowa,

Mama hat dir einen längeren Brief geschrieben (über unser Leben hier), nun stellt sich aber heraus, dass man keine russischen Briefe von hier aus schicken darf, – jetzt wird Mama versuchen, ein kurzes Resumé des Briefes französisch zu schreiben.

Am 6. Sept. (?) habe ich dir einen längeren recommandierten Brief in den „Prozess“sachen geschrieben mit der Bitte, seinen Empfang telegraphisch zu bestätigen. Heute haben wir den 17. – und die Bestätigung ist noch immer nicht angekommen (der Brief war dazu als Luftpost geschickt). Die moderne Technik scheint ihren Wert gänzlich verloren zu haben … Der Briefwechsel bekommt dadurch höchstens einen „theoretischen“, keinesfalls aber „aktuellen“ Charakter.

Nichtsdestoweniger versuche ich hiermit, dir einen zweiten Brief über den Prozess zu schreiben.

1. Bei dem Aufsuchen der Zeugen, Dokumente etc. ist die höchste Vorsicht notwendig, dabei in zweierlei Hinsicht:

a) Jede Ungenauigkeit, auch die kleinste, auch die zufälligste, kann die ganze Aussage kompromittieren, wenigstens in den Augen des Spießers; und wir müssen auch dem dümmsten Spießer die Augen öffnen. Daher muss jede Aussage ganz sorgfältig geprüft und wieder geprüft werden. b) Während unserer Untersuchung wird die GPU sicher versuchen, uns ihre eigenen Agenten als „Freunde“, „Zeugen“, „Entlarver“ etc. zu unterschieben: sie können bewusst falsche Dokumente liefern oder die Verbindung für ein neues Amalgam ausnützen. Man soll daher den sich plötzlich meldenden „Freunden“ gut auf die Finger sehen. (Herr R. Molinier schickt mir seine Zirkularbriefe in der Prozesssache zu. Von diesem Herrn will ich nichts mehr hören.)

2, Die Geschichte mit dem Hotel Bristol in Kopenhagen war mir schon aus der norwegischen Presse bekannt. Es wundert mich nur, dass Du bis jetzt dem dänischen Social-Demokraten (wie der Presse überhaupt) keine Mitteilung darüber machtest, dass du überhaupt nicht in Kopenhagen gewesen warst.* Die Sache ist doch ganz leicht durch die Visa zu beweisen, ohne von den paar Dutzend Zeugen zu sprechen. – Die Berliner Agenten der GPU sollten – vielleicht durch Olberg? – erfahren haben, dass du zu einer Zusammenkunft mit Mama und mir aus Berlin wegfährst, wussten aber nicht, dass die Zusammenkunft nicht in Kopenhagen, sondern in Paris stattfinden würde (im französischen Ministerium des Äußeren ist sicher ganz leicht Mamas Telegramm an den damaligen Ministerpräsidenten Herriot aufzufinden, den sie ersuchte, dir ein Eintrittsvisum nach Frankreich zu verleihen: das Datum würde beweisen, dass die Zusammenkunft erst nach unserem (Mamas u. Meinem) Aufenthalt in Kopenhagen stattfand)

Somit habe der wichtigste Zeuge (Holzmann) dich im November 1932 in Kopenhagen gesehen, wo du überhaupt niemals warst, dabei in einem Hotel, das seit 1917 nicht mehr existiert hatte. Die Kerle von der GPU sind nicht nur Schurken, sondern auch Faulenzer und Taugenichtse!

3. Ich habe alle Berliner Briefe (eher Zettel) Olbergs an dich gefunden aus den Jahren 1931-32: über Bücher, die du mir aus Berlin nach Prinkipo geschickt hattest, über Zeitungsausschnitte, über kleine Geschehnisse in der Arbeiterbewegung – alles viel weiter vom „Terrorismus“ als vom Polarstern. Dieser Fund ist fast ebenso kostbar wie der Fund der Briefe Pfemferts über Olberg an mich. Dieser zweitwichtigste Zeuge ist schon jetzt erledigt; wir sind aber bei weitem noch nicht am Ende unseres Lateins!

4. Olberg hat auf dem Prozess den Prager Tukalewsky als Agenten der Gestapo genannt. Der Name sagt mir nichts, aus den Zeitungen werde ich auch darüber nicht klug, ob es sich um einen russischen Emigranten oder um einen Tschechen handelt. Die Presse, die gegen den Moskauer Prozess eine scharf ablehnende Stellung eingenommen hat, meint, Olberg habe Tukalewsky mit einer gewissen Absicht verleumdet. Möglich. Aber auch das andere ist möglich und sogar mehr wahrscheinlich. Tukalewsky, den die weißrussische Presse als … Korrespondenten der Moskauer Iswestija kennzeichnet, dementiert die Denunziation sehr verlegen, unentschieden, schüchtern, als ob er zu seinem Herrn um Gnade flehte. Ganz möglich, dass Tuk-ky Agent der GPU war und auf deren Befehl Agent der Gestapo geworden war. Olberg konnte ihn wiederum nur auf direkter Befehl der GPU denunzieren. Da musst doch die GPU dabei was im Schilde tragen. Was aber? Man hoffte vielleicht, dass unsere Freunde sich des Tuk-ky annehmen und dadurch sich kompromittieren würden.

Alles oben gesagte ist nichts als Hypothese. Möglich, dass sie in diesem Falle nicht zutrifft (man soll daher – bis zur Nachprüfung – keinen öffentlichen Gebrauch aus ihr machen). Aber sie kann, scheint mir, zur Orientierung in ähnlichen Fällen dienen.

5. Ich kenne (jedenfalls als zweiter, obwohl ganz sicherer, Hand) einen folgenden Fall. X befand sich im Dienste der Sowjetvertretung in Berlin. Nach dem Nazi-Umsturz forderte die Gestapo X auf, in ihren Dienst einzutreten (X ist halb deutsch oder so was). X meldete den Fall an seine Obrigkeit. Der Berliner Vertreter der GPU forderte X auf, sogleich in den Dienst der Gestapo einzutreten. Von der Perspektive, zwischen zwei mächtigen Apparaten zermalmt zu werden, ganz erschrocken, flüchtete X ins Ausland, und lebt jetzt dort als Emigrant. Könnte man von X eine öffentliche Erklärung über diesen keinesfalls außerordentlichen Fall erhalten, so würde sie sehr viel zum Verständnis der Aussagen Olbergs, Lurjes und anderer Lockspitzel dienen, die sich rühmten als „Trotzkisten“ im Dienste der Gestapo gestanden zu haben.

6. Die Sowjetdiplomaten arbeiten seit Jahr und Tag in Genf an der Frage der internationalen Behandlung des „Terrorismus“. Dabei blieben die „Terroristen“ immer anonym. Jetzt ist es ganz klar, dass man parallel mit dem Aufziehen des gerichtlichen Amalgams auf diplomatischem Wege für meine u. Deine Auslieferung Vorkehrungen traf. Es ist daher sehr wichtig, die Geschichte der Genfer Verhandlungen über die Terroristen zu studieren, um die versteckten Absichten der Sowjetdiplomatie aufzudecken. Diese Arbeit muss sehr sorgfältig und mit Sachkenntnis gemacht werden. Man würde dabei sehr gut beweisen können, dass die „Entdeckungen“ der Untersuchung angeblich vom Juli 1936 in Wirklichkeit vor langer Zeit vorbereitet wurden.

7. Das Echo de Paris brachte (Mitte August?) einen sehr klugen politischen Artikel über den Prozess. Der Artikel ist doppelt wichtig, weil Echo de Paris ein klerikal-militaristisches Blatt ist. Diesen Artikel sollte man ins Deutsche (vielleicht auch hier ins Norwegische) übersetzen und an Herrn Puntervold und an die norwegische Regierung zuschicken.

Mit besten Grüßen von Mama, sie umarmt dich (ihr Brief geht morgen ab)

Dein Alter

PS: Ich brauche nicht zu sagen, dass wir mit Mama ganz, ruhig, fest und unserer Sache sicher sind.

L

*Man soll die Enthüllungen nicht auf Vorrat halten, sondern sogleich der Presse mitteilen, wenigsten die klarsten und anschaulichsten!

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