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Leo Trotzki 19380523 Noch einmal über die Gen. Sneevliet und Vereecken

Leo Trotzki: Noch einmal über die Gen. Sneevliet und Vereecken.

[Nach Mitteilungsblatt der IKD, Nr. 3, (September 1938), S. 4-8]

I.

Die Frage des falschen Verhaltens des Gen. Sneevliet in der Angelegenheit Reiss hatte ich in einem privaten, streng vertraulichen Brief an den Gen. Sneevliet gestellt. Es war mein Bestreben, Sneevliet selbst die Möglichkeit zu geben, den von ihm begangenen politischen Fehler einzusehen.

Gen. Vereecken hat es für nötig gehalten, diesen vertraulichen Brief in die Diskussion der Brüsseler Organisation über die Politik der holländischen RSAP hineinzuziehen. Mit anderen Worten, Gen. Vereecken hat meinen Brief zu Fraktionszwecken glatt missbraucht. Und dabei beklagt er sich über die Beschmutzung des prinzipiellen Kampfes durch falsche Methoden. Doch da die Frage einmal offen gestellt ist, bin ich gezwungen, näher darauf einzugehen.

Sneevliets erster Fehler bestand darin, dass er die politischen und praktischen Gegebenheiten des Falles Reiss völlig falsch einschätzte und sich unfähig zeigte, dem Gen. Reiss die nötigen Ratschläge zu erteilen. Davon sprach ich, ohne Sneevliet zu nennen, in dem Artikel „Eine tragische Lehre“ der in verschiedenen Sprachen veröffentlicht wurde, unter andern auch im Organ der belgischen Sektion. Ich will meine Argumente hier nicht noch einmal anführen. Walter Kriwitzki und A. Barmin haben eben das Verhalten beobachtet, das ich in dem Artikel „Eine tragische Lehre“ empfahl. Die Resultate waren bis jetzt unvergleichlich besser, sowohl in politischer Beziehung wie im Hinblick auf die persönliche Sicherheit.

Sneevliets zweiter Fehler bestand darin, dass er eine ungeheuer wichtige politische Tatsache (Reiss' Bruch mit Moskau) den zweitrangigen Erwägungen der Priorität seiner Organisation, seiner Zeitung, seiner Firma unterordnete. Er beriet sich nicht nur nicht mit den Vertretern der russischen Sektion, insbesondere mit mir, über den einzuschlagenden Weg, er schleppte im Gegenteil auf jede Weise und unter den verschiedensten Vorwänden das Zusammentreffen zwischen Reiss und Sedow hinaus.

Wer Sneevliets politische Position und seine Art zu handeln kennt, der wird mühelos begreifen, dass Sneevliet sich in dieser Sache von seiner Feindschaft gegen unsere internationale Organisation leiten ließ. Reiss wandte sich an Sneevliet nicht um Sneevliets willen, er wandte sich an ihn als an einen Vertreter der IV. Internationale. Er sah in Sneevliet einen Verbindungsmann zu unserer internationalen Organisation, insbesondere zu mir. Sneevliet konnte oder wollte ihm nicht sagen, dass er in Wirklichkeit schon mit unserer Organisation gebrochen hatte und dass er sie im internationalen Maßstabe bekämpfte. Sneevliet ließ Reiss über die tatsächliche Lage im Unklaren und manövrierte, verschleppte und verhinderte mit allen Kräften das Zusammentreffen und die Annäherung Reiss' an uns. Die zweideutige Stellung Sneevliets zur IV. Internationale erzeugte bei ihm eine doppelt zweideutige Stellung zur Person von Reiss.

Hätte Reiss gewusst, dass Sneevliet mit der IV. Internationale im Kampf lag, so hätte er zweifellos andere Wege gesucht und vielleicht wäre es uns gelungen, ihm rechtzeitig den richtigen politischen Rat zu geben.

Damit kommen wir zu unserer eigenen kollektiven Schuld: wir haben zu lange das zweideutige Verhalten Sneevliets geduldet d.h. wir haben ihm die Möglichkeit gegeben, nach außen als einer der Führer der IV. Internationale aufzutreten und gleichzeitig unsere internationale Organisation zu ignorieren und sie mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu unterhöhlen. Eine revolutionäre Organisation hat nicht das Recht, solche Zweideutigkeiten zu dulden, weil diese immer schwere und selbst tragische Folgen haben können.

Diese Lehre müssen wir ernsthaft berücksichtigen. Wir können die größte Kameradschaftlichkeit und Geduld an den Tag legen gegenüber den Parteien und Gruppen, die außerhalb unserer internationalen Organisation stehen, sich aber in Richtung zu uns entwickeln. Wir können und müssen die größte Geduld an den Tag legen bei der Beurteilung innerorganisatorischer Fragen. Aber wir können keine doppelte Buchführung zulassen, d.h. wir können unseren Ideologischen Gegnern nicht das Recht geben, den Namen der IV. Internationale in Anspruch zu nehmen und gleichzeitig mit jeden Schritt ihre innere Disziplin zu verletzen und die elementare Solidaritätspflicht mit Füßen zu treten.

Diese Lehre basagt insbesondere, dass wir ein für allemal Schluss machen müssen mit den lächerlichen und unpassenden Wörtchen für die IV. Internationale" Unsere Organisation ist die Organisation der IV. Internationale. Wer das nicht einsehen will, der mag einstweilen seine Selbständigkeit bewahren. Doch wir können es niemanden gestatten, mit dem einen Fuß innerhalb, mit den andern außerhalb unserer Organisation zu stehen, um uns umso freier Schläge versetzen zu können.

II.

Der von Vereecken aus rein fraktionellen Motiven unternommene Versuch, Sneevliet auf Kosten Sedows reinzuwaschen, ist im vollen Sinne des Wortes ausgezeichnet dargelegt in den Brief der Gen. Etienne und Paulson, der im belgischen Bulletin der PSB Nr. 14 abgedruckt ist. Man muss entweder blind oder durch und durch gewissenlos sein, um nach diesen Brief, der aus genauen Tatsachen und Zitaten besteht, eine Resolution in Stile Vereeckens zu verfassen.

Nach zahllosen Verschleppungen Sneevliets war der schwerkranke Sedow außerstande, am 6. September nach Reims zu einer Zusammenkunft mit Reiss zu fahren, wovon er Sneevliet vorher benachrichtigte. Doch dieser verkündete mit der ihm eigenen Manier: „Jetzt oder nie". In seinem Brief an mich spricht Sneevliet mit Ironie von den Respekt, den man in Paris vor den „Ferien" habe. Über das gleiche Thema ergeht sich auch Vereecken. In Wirklichkeit hat Sedow so etwas wie Ferien nie gekannt, obwohl er nicht weniger, sondern mehr für die Bewegung arbeitete, als mancher andere. Wenn er sich gezwungen sah, auf 2 Wochen Paris zu verlassen, so nur deshalb, weil sein körperlicher Zustand unerträglich geworden war: das ist eine Tatsache, die von den Ärzten festgestellt wurde, als Sedow mit dem Tode rang. Der Hinweis auf Sedows Ferien ist nicht nur unwürdig, sondern auch sinnlos; denn am 6. September, als die Zusammenkunft in Reims stattfinden sollte, war Reiss schon ermordet. Folglich hatte das physische Unvermögen Sedows, zu der Zusammenkunft zu erscheinen, nicht den geringsten Einfluss auf Reiss' Schicksal. Die erste Begegnung zwischen Reiss und Sneevliet fand an 10. Juni (oder Juli?) statt. Zwischen diesem ersten Zusammentreffen und dem geplanten Zusammentreffen in Reims befand sich Reiss größtenteils in Paris, d.h. am selben Ort wie Sedow. Dafür, dass sie sich in dieser Zeit nicht trafen, trägt Sneevliet die volle Verantwortung. Alle Briefe Sedows, die diese Angelegenheit betreffen, befinden sich in meinen Händen. Nötigenfalls werde ich sie veröffentlichen.

Sneevliets Fehler im Fall Reiss sind nicht zufällig. Sneevliet hat völlig mit der revolutionären Grundauffassung gebrochen Er betrachtet alle Fragen vom Standpunkt des kleinen bürokratischen Apparats. Sneevliet ist nicht Marxist, sondern Gewerkschaftler. Ihn interessiert nur sein eigenes kleines Unternehmen: das NAS. Die Partei ist für ihn nur ein Anhängsel des NAS, und die Firma der IV. Internationale – nur eine Parade-Eskorte. Während der letzten internationalen Konferenz im Jahre 1936 boykottierte Sneevliet als Delegierter in der Stadt G. die Konferenzsitzungen unter dem Vorwand, ich hätte mir in einem Brief an die Konferenz erlaubt, seine Politik zu kritisieren. Diese Nichtachtung gegenüber den Bruderdelegationen zeigt zur Genüge, dass Sneevliet unserer Organisation innerlich fremd ist. Ganz genau so ging Sneevliet an die Reiss-Sache heran nicht unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Aufgaben des revolutionären Kampfes, sondern unter dem Gesichtswinkel der zweitrangigen Interessen seines kleinen Unternehmens. Nur Fraktionsadvokaten sind dazu imstande, Sneevliets Verhalten in dieser Angelegenheit zu verteidigen.

III.

Gen. Vereecken kämpft gegen den „Fraktionismus". Das ist fast zu seiner Spezialität geworden. Er will den Bolschewiki verbieten, „Fraktions"-arbeit in der zentristischen POUM zu machen. Er will den Mitgliedern der IV. Internationale verbieten, Fraktionsarbeit in der zentristischen Partei Sneevliets zu machen. Er ist „unfraktionell" besorgt um den Ruf des schmutzigen Intriganten Eiffel, mit dem sogar die Oehler-Sekte öffentlich gebrochen hat. Schließlich bezeichnet Vereecken jede Kritik an seiner eigenen Politik als „Fraktionismus". Ist das nicht ungeheuerlich? Für einen Revolutionär ist eine marxistische Fraktion in einer opportunistischen Partei ein Plus; eine zentristische Fraktion in einer revolutionären Partei ein Minus. Derjenige holländische Bolschewik, der es ablehnen würde, gegen Sneevliet, der mit unserer Organisation treulos gebrochen hat, „Fraktionsarbeit" – wie schrecklich! – zu machen, wäre ein Verräter und kein Revolutionär. Ist das nicht etwa klar?

Das Merkwürdigste ist jedoch, dass die unermüdlichste Fraktionsarbeit in der IV. Internationale ausgerechnet von Vereecken geleistet wird. Mit seiner kleinen Fraktion trennte er sich von unserer belgischen und internationalen Organisation, als die belgische Sektion vorübergehend der Sozialistischen Partei beitrat. Die fraktionelle und ganz und gar illoyale Kritik Vereeckens hinderte unsere belgische Sektion, innerhalb der Sozialistischen Partei eine erfolgreichere Arbeit zu entfalten. Nach seiner Rückkehr in die Organisation vereinigte sich Vereecken mit allen ultralinken und vielen zentristischen Gegnern des Bolschewismus in den verschiedenen Ländern. Geneinsan mit Sneevliet unterstützt er Oehler und Muste gegen unsere amerikanische Sektion. Wo ist jetzt Oehler? Wo ist Muste? Inzwischen errang unsere amerikanisch Sektion die größten Erfolge – gegen Vereecken und seine internationale Fraktion.

Alle unsere Versuche, mit Sneevliet zu einer ehrlichen Diskussion zu kommen, scheiterten an dem hartnäckigen Widerstand dieses Gewerkschaftsbürokraten. Und Vereecken fand jedes mal einen Grund, sich zur Verteidigung des Opportunisten Sneevliet gegen den Marxismus zu erheben. Natürlich, Vereecken ist mit Sneevliet „nicht in allem einverstanden'", doch das hindert ihn nicht, Sneevliet immer zu unterstützen, so wie er überhaupt alle die unterstützt, die die IV. Internationale verlassen oder sich darauf vorbereiten sie zu verlassen. Vereecken begleitet sie alle freundschaftlich bis zur Tür, und manchmal geht er auch selbst zur Tür hinaus, um dann zurückzukehren und die IV. Internationale übler Methoden zu beschuldigen.

IV.

Es wäre angebracht, ein namentliches Verzeichnis all jener Deserteure und Überläufer aufzustellen, denen Vereecken im Laufe der Zeit seine Teilnahme schenkte. Es wäre andererseits angebracht ein Verzeichnis all jener ergebenen und unbeugsamen Revolutionäre aufzustellen, die Vereecken bekämpfte, ohne sich bei der Wahl des Mittel jemals einen Zwang aufzuerlegen. Indem er die POUM verteidigte, bezeichnet er unsere aufopferungsbereiten spanischen Gesinnungsgenossen als Abenteurer. Indem er Sneevliet verteidigt, versucht er einen Schatten auf Sedow zu werfen. In Frankreich versucht er unsere Sektion mit der Molinier-Gruppe auf eine Stufe zu stellen. Er beunruhigt sich bereits, ob nicht Diego Rivera den unschuldigen Eiffel beleidigte. Gegenüber den Internationalen Sekretariat bedient sich Vereecken eines ganz unzulässigen Tones. Was bedeutet dies alles?

Erst in diesen Tagen hat unser „unparteiischer" und „unfraktioneller" Vereecken mich fast vor der ganzen Welt beschuldigt, dass ich die belgische Sektion „nicht anerkenne". Worauf stützt sich die Beschuldigung? Ein Brief Diego Riveras war an die Adresse Lesoils und nicht an die Vereeckens geschickt worden. Mit der Absendung dieses Briefes hatte ich jedoch nicht das Mindeste zu tun und überhaupt besorge ich nicht die Adressierung. Gen. Van hat das in der Erklärung, die er vor kurzen gab, ausführlich auseinandergesetzt. Diese kleine Episode ist bezeichnend für die Loyalität Vereeckens und für die Triftigkeit der von ihn ausgestreuten Beschuldigungen. Dabei ist zu bemerken, dass diese Beschuldigungen sich nie gegen die Ultralinken oder Zentristen richten, sondern stets gegen diejenigen, die die marxistische Linie der Vierten Internationale verteidigen.

Nein, der Kern der Sache liegt nicht in den schlechten" „Methoden" des IS, sondern in der Einstellung Vereeckens selbst. In seinem organisatorischen Kampf hat sich Vereecken weit von den Prinzipien des Marxismus entfernt. Die bolschewistische Position beengt und bedrückt ihn auf Schritt und Tritt. Ihm ist nicht wohl in seiner Haut. Das ist der Grund, weshalb er sich über unsere „Methoden" beklagt, während er selbst Revolutionäre angreift und Opportunisten verteidigt.

Die internationale Konferenz wird nach meiner Meinung unserer belgischem Sektion den größten Dienst erweisen, wenn sie die Fraktionsarbeit Vereeckens im nationalen wie in internationalen Maststab gebührend einschätzt. Wir werfen Vereecken nicht vor, das er „Fraktionsmann" ist - Fraktionsmann zu sein gegen Opportunismus und Sektierertun ist höchst ehrenvoll! - sondern dass er den prinzipiellen Boden unter den Füßen verloren hat; wir werfen ihm vor dass er an der Spitze der antimarxistischen Fraktion steht, die die Rolle eines Hemmschuhs der Entwicklung der IV. Internationale gespielt hat und noch spielt. Wir wollen hoffen, dass, wenn die internationale Konferenz dies laut und deutlich ausspricht, ihre Warnung den Gen. Vereecken zu einer radikalen Revision seiner Position und insbesondere seiner unzulässigen Methoden veranlasst.

V.

Wie wichtig jedoch auch die persönliche Frage des Gen. Vereecken sein mag, ungleich wichtiger ist die Frage des Schicksals unserer belgischen Sektion im Ganzen. In ihrer Entwicklung ist augenscheinlich ein Stillstand eingetreten. Soweit man das aus der Ferne beurteilen kann, liegt der Grund für diesen Stillstand in beträchtlichen Maße in der falschen Politik des Gen. Vereecken, der die Aufmerksamkeit der Partei in eine ganz falsche Richtung lenkt. Um der belgischen Sektion den Ausgang auf die breite Straße zu erleichtern, sind nach meiner Ansicht folgende Schritte unerlässlich:

1. Man muss allen Mitgliedern der Sektion die Verderblichkeit der Gewerkschaftspolitik Sneevliets und ihre Unvereinbarkeit mit den Aufgaben der revolutionären Partei klarmachen Für den, der seine eigenen Karikatur-Gewerkschaften aufbauen oder aufrechterhalten will, ist in der IV. Internationale kein Platz

2. Die wesentlichste und hauptsächlichste Aufgabe der belgischen Sektion muss die systematische, hartnäckige, ernste Arbeit innerhalb der reformistischen Gewerkschaften sein. Jeder Verzicht auf diese Arbeit, unter welchen Gründen und Vorwänden auch immer, ist als Desertion von Kampfplatz zu betrachten.

3. Auf dem Wege über die Gewerkschaftsverbände muss man sich Zugang verschaffen zum inneren Leben der sozialistischen Partei, muss man sich mit den sozialistischen Arbeitern fest verknüpfen und die eigene Agitation dem inneren Leben der proletarischen Massenorganisationen anpassen.

4. Auf die gleiche Weise muss man in die Organisationen der Arbeiterjugend eindringen.

5. Die Zeitung muss in viel höheren Maße als bisher das innere Leben der Massenorganisationen widerspiegeln und ihre inneren Fragen behandeln.

6. Die Hebung des theoretischen Niveaus der Sektion ist unerlässliche Vorbedingung für die Abwehr sektiererischer und zentristischer Einflüsse einzelner Führer. Zu diesen Zweck ist die Schaffung einer ernsten theoretischen Monatsschrift in französischer Sprache erforderlich. Falls die belgische Sektion noch nicht imstande sein sollte, diese Aufgabe allein zu lösen, wäre es vielleicht zweckmäßig, eine gemeinsame theoretische Zeitschrift für alle französisch sprechenden Länder herauszugeben.

Die objektiven Bedingungen für die Entwicklung der belgischen Sektion sind äußerst günstig. Es ist nur nötig, rechtzeitig die subjektiven Hindernisse hinweg zu räumen.

Den 23. Mai 1938.

L. Trotzki.

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