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Leo Trotzki 19400300 Fragmente über die UdSSR

Leo Trotzki: Fragmente über die UdSSR

1940

[eigene Übersetzung nach der englischen Übersetzung, verglichen mit der französischen Übersetzung]

Eine Schlussfolgerung entströmt unausweichlich aus dem sowjetisch-finnischen Konflikt. Niemand im Kreml sah etwas voraus, berauscht wie sie waren durch ihre eigene Prahlerei und durch die Erfolge, die Stalin als Krümel von Hitlers Tisch gefallen waren. Im Kreml sah man nichts voraus und traf keine Vorbereitungen. Die Initiative für die Erfolge des Kremls gehörte völlig und komplett Deutschland. Hitler stieß Stalin vorsichtig und langsam zunächst gegen Polen und später gegen das Baltikum. Der Widerstand in Finnland, den es ohne direkte Hilfe aus Deutschland – über Italien – nicht begonnen haben mag, zwang den Kreml, vor Ort eine Entscheidung zu treffen.

Jetzt sehen wir die gleichen Merkmale und die gleichen Ergebnisse in der diplomatischen und militärischen Arena. Stalin konnte im Baltikum dank einer günstigen militärischen und diplomatischen Kombination von Kräften erfolgreich sein. Aber wo Initiative und Weitsicht gefragt waren [in Finnland], brachte seine Politik der Sowjetunion nichts als Demütigung.

Es war dasselbe in Deutschland, wo der Schlüssel zur inneren Niederlage in hohem Grade in den Händen der Komintern lag und die Führung Stalins den Weg für den Sieg Hitlers ebnete.

Es war dasselbe in Spanien, wo der Kreml die Führung des Bürgerkriegs in seine Hände nahm und das spanische Volk zu den schlimmsten Katastrophen verdammte. Niemand, weder Hitler noch Mussolini, leistete General Franco einen solchen Dienst, wie es Stalin machte.

Man kann die Angst des Kremls vor einem Angriff durch Nazi-Deutschland an den gewaltigen Anstrengungen und Opfern messen, die an den Verteidigungslinien an den westlichen Grenzen der UdSSR aufgewendet wurden.

Die anfängliche Aufgabe des Bolschewismus war die internationale sozialistische Revolution. Es könnte natürlich keine Frage sein, dass ein rückständigen und armen Land, wie es Russland war und die Sowjetunion immer noch ist, in der Lage wäre, anderen Völkern militärisch einen sozialistischen Umsturz aufzuzwingen. Es war eine Frage einer vom Proletariat der fortgeschrittenen Länder gemachten Revolution. Für die Sowjetregierung war die Aufgabe auf der einen Seite, bei der Entwicklung dieser Revolutionen zu helfen und auf der anderen Seite, sich bis zum Sieg des Proletariats in den anderen Ländern zu behaupten. Die Grundlinie der internationalen Politik der Sowjetunion bestand darin, die Widersprüche der anderen Länder auszunutzen, um durchzuhalten. Eine aggressive Militärpolitik war undenkbar.

Der Bolschewismus ging von dem Verständnis aus, dass es innerhalb der Grenzen eines Landes und darüber hinaus eines rückständigen Landes unmöglich war, den Sozialismus aufzubauen, und dass Sozialismus, wie der Kapitalismus vor ihm, die ganze Welt umfassen muss. Der Weg zur sozialistischen Weltrevolution besteht überhaupt nicht in der militärischen Expansion des einen Staates, in dem die Revolution früher als in den anderen siegte.

Im Herbst 1924 kam Stalin erstmals zu dem Schluss, dass man den Sozialismus in einem einzigen Land aufbauen könne. Diese Theorie erlangte in der Folgezeit enorme Bedeutung, sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik der Sowjetunion. Über das Volk erhob sich eine mächtige Bürokratie, die in ihren Händen die ganze Macht und den Löwenanteil des Volkseinkommens konzentrierte. Stalin brachte den Slogan vor: Wir wollen keinen fremden Boden, aber wir werden keinen von uns aufgeben. Dieser rein konservative außenpolitische Slogan entsprach voll und ganz der materiellen Stellung der herrschenden Bürokratie: Sie fühlte sich für einen ausländischen Krieg zu schwach, aber stark genug für innere Herrschaft.

Die einzige unmittelbare Gefahr kam von Japan, und sie war nur für bestimmte Teile des Territoriums gefährlich und keineswegs eine Bedrohung für die Existenz des Staates. Moskau hat sich mit Zugeständnissen aus der japanischen Gefahr herausgekauft. Im Westen wurde die UdSSR von einem Polen, das zwar feindselig, aber schwach war, und einem halb-freundlichen schwachen Deutschland abgeschirmt.

Im Jahre 1924 [1925] versuchten wir in Kapitalismus oder Sozialismus?, fünf Jahre vor dem Erscheinen des Bulletin [der Opposition], den gegenwärtigen Herren des Kremls zu erklären, dass die Stärke und Vitalität einer Gesellschaftsordnung von der Produktivität der Arbeit bestimmt wird. Wir forderten daher die Ausarbeitung verschiedener Koeffizienten der Arbeitsproduktivität in der UdSSR und in kapitalistischen Ländern als ein grundlegendes Kriterium, um zu klären, ob die Gefahr in der UdSSR aus der kapitalistischen Richtung sowohl in wirtschaftlicher als auch in militärischer Hinsicht abnimmt oder wächst; es ist unmöglich, diese beiden Gefahren zu trennen. Stalin antwortete uns mit den Worten, dass die sozialistische Entwicklung nicht vom Tempo der Entwicklung oder folglich vom Tempo des Wachstums der Arbeitsproduktivität abhänge. Die Statistiken arbeiten ausschließlich mit globalen Zahlen und wecken selbst kein großes Vertrauen. In dem Buch Verratene Revolution versuchten wir erneut, die volle Bedeutung der relativen Arbeitsproduktivität und des relativen Pro-Kopf-Einkommens zu erklären. Alle diese Berechnungen, die das niedrige Niveau der Arbeitsproduktivität in der UdSSR aufdecken, gelten als Sabotage und werden auf die härteste Weise unterdrückt. Aber wenn man die wirtschaftliche Natur aus der Tür treibt, kommt sie nur durch das Fenster zurück. Inmitten des krampfhaften stoßweisen [Charakters der stalinistischen Wirtschaftspolitik] können die Volksmassen nicht der Armut entkommen. Auf dem letzten Parteitag [1939] war Stalin gezwungen, einen Versuch zu unternehmen, diese Tatsache zu erklären. Ihm fiel nichts ein, außer dass wir rückständig sind. Wir müssen zu den kapitalistischen Ländern aufschließen. Immer mehr neue Opfer sind notwendig; um diese Opfer zu rechtfertigen, war Stalin gezwungen, erstmals die Verhältnisse des nationalen Pro-Kopf-Einkommens anzugeben. Diese kahlen Verhältnisse sagen jedoch nichts aus. Die Dynamik ist entscheidend. Man muss die Bewegung der Arbeitsproduktivität in der UdSSR und den kapitalistischen Ländern Jahr für Jahr vergleichen, um festzustellen, ob sich das gegenwärtige Wirtschaftssystem in der UdSSR gerechtfertigt hat oder nicht. Nur so kann man über das Ausmaß der militärischen Lebensfähigkeit des Staates entscheiden.

Die bedeutendste militärische Gestalt ist heute der Chef des Generalstabs, Schaposchnikow. Die Revolution fand in ihm einen ranghohen zaristischen General. Sein Hauptmerkmal ist eine charakterlose Unterwürfigkeit. Er passte sich all seinen Vorgesetzten an und überlebte sie alle. Ein Ausnahmefall – ein ehemaliger zaristischer General, der jetzt Mitglied des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei geworden ist.

Budjonny war ein mutiger Anführer der Guerilla-Kavallerie in großem Stil. Er erhielt den Rang eines Marschalls und wurde gezwungen, alle seine Mitarbeiter zu verraten. Der Kavalleriegeneral wurde fett, aber seine militärischen Qualitäten blieben die gleichen. Er muss von einem weitsichtigen und gut ausgebildeten Militärchef geführt werden. Er war absolut nicht in der Lage, eine solche Führung selbst zu übernehmen. So wurde der gesamte Lauf der Dinge von Stalin bestimmt …

Man konnte natürlich nicht erwarten, dass Woroschilow Stalin korrigieren würde.

Es ist im Allgemeinen unmöglich, ernsthaft über Woroschilow zu sprechen, weder als politische Figur noch als Militärchef. Die Qualitäten eines großen Administrators, die Fähigkeit, die verschiedenen Faktoren einer Situation in seinem Kopf nachdenklich zu kombinieren und ihre zukünftige Interaktion vorherzusehen, sind ihm völlig fremd. Nun, da der ehemalige mutige Guerillakämpfer mit den Jahren schwerer geworden ist, von offizieller Schmeichelei eingelullt und an seinen hohen Posten gewöhnt, ist er kaum noch von den alten zaristischen Kriegsministern zu unterscheiden.

Es ist noch weniger möglich, von den Generalstäben Kritik und Argumente erwarten: Sie alle erinnern sich zu gut an das Schicksal von Tuchatschewski und seinen Kollegen.

Es wäre falsch zu denken, dass Litwinow die Politik Stalins behinderte. Er hat keine Politik gemacht, aber er blamierte zweifellos das jetzige Politbüro. Er kannte die besseren Zeiten und das spezifische Gewicht jedes Mitglieds des Politbüros zu gut. Er kannte das fremde Leben und Fremdsprachen. Bei den Politbürositzungen konnte er auf Argumente zurückgreifen, die die Politbüromitglieder nicht beantworten konnten, und sie fühlten sich nicht immer der ihnen gestellten Aufgabe gewachsen. Stalin fand sich mehr als einmal in dieser Position. Litwinow wurde, wie viele andere auch, Opfer seiner eigenen Überlegenheit gegenüber den Mitgliedern des Politbüros. Seine Entfernung hatte keinen Einfluss auf den Kurs der Politik.1

[In der Roten Armee] spielte das Problem des Übergangs zu einem Milizsystem eine enorme Rolle sowohl in unserer Arbeit als auch in unseren militärischen Vorstellungen. Wir betrachteten die Frage als eine prinzipielle. Wir glaubten, dass nur ein sozialistischer Staat es sich erlauben könnte, zu einem Milizsystem überzugehen. „Wenn wir diesen Wandel schrittweise vollziehen", schrieb ich im Mai 1923, „dann nicht aus politischen Bedenken, sondern aus Gründen organisatorischen und technischen Charakters: Es ist ein neues Vorhaben – eines von unermesslicher Bedeutung –, und wir wollen nicht in eine zweite Phase eintreten, ohne die erste zu sichern." All diese großartige Arbeit ist zu nichts geworden. Die Miliz wurde zugunsten einer stehenden Armee abgeschafft. Die Argumentation war rein politisch: Die Bürokratie hatte kein Vertrauen mehr in eine Armee, die unter dem Volk verstreut war und mit dem Volk verschmolz. Es brauchte eine reine Kasernenarmee, isoliert vom Volk.

In der Roten Armee wurde ein Befehl gegeben, bis zum 23. Februar, dem Jahrestag der Gründung der Armee, um jeden Preis erfolgreich zu sein. Einen solchen Befehl hat man in der Vergangenheit mehr als einmal gesehen: „Mache einen solchen Flug anlässlich des neuen Parteitages. Unabhängig von den klimatischen Bedingungen mache einen Höhenflug am Geburtstag des Führers", etc. Dutzende von Flugunfällen sind wurden durch den Umstand verursacht, dass Flüge nicht in Übereinstimmung mit den Witterungsbedingungen, sondern nach den Vorgaben des offiziellen Kalenders durchgeführt wurden.

Unter Bezugnahme auf ein Kommuniqué des Außenministeriums sagte Krasnaya Zvezda (Roter Stern), die Zeitung des Volkskommissariats für Verteidigung, am 18. Februar:

Die Werke Trotzkis nehmen in den italienischen Bibliotheken einen sehr angesehenen Platz ein, obwohl alle Bücher jüdischer Autoren aus den Bibliotheken entfernt wurden. Auf die Frage eines Besuchers der Mailänder öffentlichen Bibliothek: „Ist Trotzki kein Jude", antwortete der Bibliothekar: „Ja, aber für seine Dienste wurde er zum Ehrenarier erklärt.“

In der Sowjetunion gibt es mehrere Millionen privilegierte Familien, privilegiert in unterschiedlichem Maße. Das ist völlig genug, um die offiziellen Programme durchzuführen und den Applaus für das Doppelspiel [d.h. den Stalin-Hitler-Pakt] zu sichern.

Zu Lenins Zeiten hatten die Präsidenten aller in die Union eintretenden2 Sowjetrepubliken die gleichen Rechte wie die Präsidenten der wichtigsten sowjetischen Institutionen. Nun ist Kalinin allein Präsident des Obersten Sowjets. In dieser Änderung werden die allgemeinen politischen Veränderungen gegenüber den Nationalrepubliken ziemlich deutlich symbolisiert. Von Autonomie bleibt keine Spur. Der Kreml entscheidet alles für alle.

Ein Sieg der imperialistischen Staaten über die Sowjetunion würde den Zusammenbruch nicht nur der totalitären Bürokratie bedeuten, sondern auch den Zusammenbruch der durch die Oktoberrevolution geschaffenen Eigentumsformen [und] könnte daher nur vorübergehenden Charakter haben.

So wie es nach der Großen Französischen Revolution unmöglich war, die feudalen Beziehungen für einen längeren Zeitraum in vollem Umfang wiederherzustellen, so sind nach der Oktoberrevolution volle kapitalistische Beziehungen für einen längeren Zeitraum unmöglich. Im Gegenteil, die neuen Eigentumsformen werden sich immer weiter in andere Länder ausbreiten.

Der Fall ist allerdings etwas anders bei den geografischen Grenzen. Sie können und werden Veränderung unterworfen sein. Man kann davon ausgehen, dass sich im Prozess des Krieges zentrifugale und separatistische nationale Tendenzen entwickeln oder besser gesagt, ans Licht kommen werden.

Als Italien Äthiopien angriff (1935), stand ich voll auf der Seite des letzteren, trotz des äthiopischen Negus, für den ich kein Mitgefühl habe. Es galt, sich der Besetzung dieses neuen Territoriums durch den Imperialismus zu widersetzen. In der selben Weise stelle ich mich jetzt entschieden gegen das imperialistische Lager und unterstütze die Unabhängigkeit der UdSSR, trotz der Negus im Kreml.

1Der Absatz fehlt in der französischen Übersetzung

2In der französischen Übersetzung fehlt: „in die Union eintretenden

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