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Leo Trotzki 19400313 Stalin nach der finnischen Erfahrung

Leo Trotzki: Stalin nach der finnischen Erfahrung

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1327-1333. Dort mit umfangreichen Fußnoten]

Coyoacán, 13. April 1940

Damals, als Stalins Fraktion gerade den Ausschluss der Trotzkisten in den Weg leitete, fragte Stalin in seiner scheinheiligen Art: »Ist die Opposition etwa gegen einen Sieg der UdSSR in den kommenden Kämpfen mit dem Imperialismus?« Auf der Sitzung des Plenums des Zentralkomitees vom 27. [tatsächlich 1.] August 1927 antwortete ich darauf laut dem geheimen stenographischen Protokoll: »Im Grunde genommen meint Stalin eine andere Frage, die er sich nicht auszusprechen getraut, nämlich: ,Denkt die Opposition etwa, dass die UdSSR unter Stalins Führung nicht den Sieg sicherstellen kann?' Ja, das denkt sie!« »Und was ist mit der Partei?«, unterbrach mich vom Platz aus Molotow, den Stalin in vertraulichen Gesprächen nur »Holzkopf« nannte. »Ihr habt die Partei erstickt«, war die Antwort. Ich schloss meine Rede mit den Worten: »Für das sozialistische Vaterland? Ja! Für Stalins Kurs? Nein!«

Auch heute, dreizehn Jahre später, trete ich uneingeschränkt für die Verteidigung der UdSSR ein. Von der herrschenden britischen Klasse bin ich nicht nur in geographischer, sondern auch in politischer Hinsicht mehrere Tausend Meilen weiter entfernt als z.B. Bernard Shaw, der unermüdliche Paladin des Kremls. Die französische Regierung sperrt meine Gesinnungsgenossen ein. Doch all das bringt mich nicht dazu, die Außenpolitik des Kremls zu verteidigen. Im Gegenteil, ich denke, dass unter den heutigen internationalen Verhältnissen Stalin und die von ihm geführte Oligarchie die Hauptgefahr für die Sowjetunion darstellen. Der offene Kampf gegen sie, vor den Augen der öffentlichen Meinung der Welt, ist für mich untrennbar mit der Verteidigung der UdSSR verbunden.

Stalin scheint ein großer Mann zu sein, weil er auf der Spitze einer gigantischen bürokratischen Pyramide steht und einen langen Schatten wirft. In Wirklichkeit hat er nur mittleres Format. Mit seinen mittelmäßigen geistigen Fähigkeiten, dem Überwiegen der Schläue gegenüber dem Verstand, zeichnet er sich durch unersättlichen Ehrgeiz, außergewöhnliche Beharrlichkeit und neidische Rachsucht aus. Stalin schaute niemals weit voraus und entwickelte nie eine große Initiative. Er wartete ab und manövrierte. Die Macht fiel ihm als Folge eines Zusammentreffens historischer Umstände zu – er pflückte lediglich die reif gewordene Frucht. Machtgier, Angst vor den Massen, Grausamkeit gegenüber einem schwachen Gegner, Bereitschaft, vor einem mächtigen Feind gleich zweimal zu katzbuckeln – die neue Bürokratie fand all ihre Kennzeichen in Stalin in der vollendetsten Form vor, und sie hat Stalin zu ihrem Herrscher proklamiert.

Als Lenin 1924 starb, war die Bürokratie im Grunde genommen bereits allmächtig, wenngleich sie sich dessen noch nicht bewusst war. Als »Generalsekretär« der Bürokratie war Stalin schon in jenen Tagen Diktator, hatte das aber selbst noch nicht völlig erfasst. Noch weniger wusste das Land davon. Stalin war es gelungen, diktatorische Macht in seinen Händen zu konzentrieren, bevor mehr als ein Prozent der Bevölkerung seinen Namen kannte. Stalin ist keine Persönlichkeit, sondern die Personifizierung der Bürokratie.

In seinem Kampf gegen die Opposition, die die Unzufriedenheit der Massen zum Ausdruck brachte, erkannte Stalin allmählich seine Mission als Verteidiger der Macht und der Privilegien der neuen herrschenden Kaste. Sofort fühlte er sich entschlossener und selbstbewusster. Seinen subjektiven Neigungen nach ist Stalin heute zweifellos der konservativste Politiker Europas. Er wünscht, dass die Geschichte, nachdem sie einmal die Herrschaft der Moskauer Oligarchie gesichert hat, ihre Arbeit nicht verdirbt und zum Stehen kommt.

Seine unerschütterliche Treue zur Bürokratie, d. h. zu sich selbst, zeigte Stalin mit epischer Grausamkeit in der Zeit der berüchtigten Säuberungen. Ihre Bedeutung wurde nicht rechtzeitig verstanden. Die alten Bolschewiki versuchten, die Tradition der Partei zu wahren. Die Sowjetdiplomaten ihrerseits versuchten, die internationale öffentliche Meinung in ihre Überlegungen einzubeziehen. Die roten Heerführer verteidigten die Interessen der Roten Armee. Alle drei Gruppen gerieten in Widerspruch zu den totalitären Interessen der Kreml-Clique und wurden allesamt liquidiert. Nehmen wir einmal an, dass es einer feindlichen Luftflotte gelänge, alle Sperren zu überwinden und die Gebäude des Außen- und des Kriegsministeriums durch Bomben zu zerstören gerade in dem Augenblick, in dem sich dort die Elite der Diplomatie und der Generalstab versammelt haben. Welch eine Katastrophe! Welch ein Verlust würde ein solcher Angriff von außen für das Leben des Landes bedeuten! Stalin löste diese Aufgabe erfolgreich ohne Hilfe ausländischer Bombenflugzeuge. Er ließ die Sowjetdiplomatie aus allen Teilen der Welt und die Heerführer aus allen Teilen des Landes zusammenbringen, sperrte sie in die Keller der GPU und ließ sie durch Genickschuss töten. Und das am Vorabend eines neuen großen Krieges!

Litwinow blieb physisch am Leben, doch in politischer Hinsicht hat er seine früheren Mitarbeiter noch lange nicht überlebt. Neben dem politischen Motiv, vor Hitler zweimal zu katzbuckeln, spielte bei der Kaltstellung Litwinows zweifellos ein persönliches Motiv eine Rolle. Litwinow war keine eigenständige politische Figur. Doch war er Stalin schon deshalb ein Dorn im Auge, weil er vier Sprachen beherrschte, das Leben in den europäischen Hauptstädten kannte und die unwissenden Bürokraten mit Hinweisen auf ihnen unzugänglichen Quellen reizte, wenn er im Politbüro Bericht erstattete. Alle suchten nur nach einem geeigneten Anlass, um sich des allzu gebildeten Ministers zu entledigen.

Stalin atmete erleichtert auf, als er sich endlich auch seinen Mitarbeitern um Haupteslänge überlegen fühlte. Doch sogleich tauchten neue Schwierigkeiten auf. Der Jammer ist, dass Stalin in Fragen von großer Bedeutung die Selbständigkeit fehlt. Trotz all seiner ungeheuren Reserven an Willensstärke mangele es ihm an Abstraktionsvermögen, an schöpferischer Phantasie und schließlich an Sachwissen. Ideenmäßig lebte er immer auf Kosten anderer. Lange Jahre war das Lenin, mit dem er aber beständig in Widerspruch geriet, sobald er auf sich allein gestellt war. Seit Lenins Erkrankung machte Stalin geistige Anleihen bei seinen zeitweiligen Verbündeten Kamenew und Sinowjew, die er später von der GPU erschießen ließ. Dann benutzte er mehrere Jahre lang die Abstraktionen Bucharins für seine praktischen politischen Manöver. Nachdem er mit Bucharin gebrochen hatte, entdeckte er, dass fortan verallgemeinernde Theorien nicht mehr notwendig seien. Zu dieser Zeit befanden sich die Bürokratie der UdSSR und der Apparat der Komintern bereits in einem Zustand erniedrigender und schmachvoller Unterwürfigkeit.

Dann jedoch ging die Periode verhältnismäßig stabiler internationaler Beziehungen zu Ende. Große Erschütterungen zeichneten sich ab. Stalin, der kurzsichtige Empiriker, der Mann des Apparats, Provinzler bis auf die Knochen, der keine fremde Sprache spricht und keine Zeitungen liest außer denen, die täglich sein eigenes Bild abdrucken, wurde völlig überrascht. Großen Ereignissen ist er nicht gewachsen. Das Tempo der gegenwärtigen Epoche ist für seinen trägen und schwerfälligen Geist zu fieberhaft. Weder von Molotow oder Woroschilow noch von den verwirrten Führern der westlichen Demokratien konnte er sich irgendwelche neue Ideen ausborgen. Der einzige Politiker, der Stalin unter diesen Umständen imponieren konnte, war Hitler. Ecce homo! Hitler hat all das, was auch Stalin besitzt – Verachtung für das Volk, Prinzipienlosigkeit, Ehrgeiz und einen totalitären Apparat. Doch Hitler hat auch das, was Stalin nicht hat: Phantasie, die Fähigkeit, die Massen mitzureißen, und Wagemut. Zunächst schien alles glatt zu gehen – Polen, Estland, Lettland und Litauen. Doch mit Finnland ging es daneben, und das nicht ohne Grund. Die finnische Schlappe leitete in Stalins Biographie das Kapitel des Niedergangs ein.

In den Tagen des Einmarsches der Roten Armee in Polen entdeckte die Sowjetpresse plötzlich Stalins große strategische Talente, die er angeblich schon in der Zeit des Bürgerkrieges entfaltet hätte, und proklamierte ihn zu einem Über-Napoleon. Während der Gespräche mit den Delegationen der baltischen Staaten schilderte dieselbe Presse ihn als größten der Diplomaten. Sie versprach für die Zukunft eine Reihe Wunder, die, ohne einen Tropfen Blut, allein mittels genialer Schachzüge vollbracht würden. Doch alles kam ganz anders. Stalin unterschätzte die lange Tradition des finnischen Volkes im Kampf um Unabhängigkeit und glaubte, die Regierung in Helsingfors allein durch bloßen diplomatischen Druck zum Nachgeben zwingen zu können. Er hat sich schwer verrechnet. Anstatt seinen Plan noch einmal zu überdenken, begann er zu drohen. Auf seine Anweisung hin versprach die Moskauer Prawda, Finnland innerhalb weniger Tage zu erledigen. In der ihn umgebenden Atmosphäre byzantinischer Kriecherei wurde Stalin selbst Opfer seiner Drohungen. Sie machten auf die Finnen keinen Eindruck, zwangen ihn aber zum sofortigen Handeln. So begann ein schändlicher Krieg – ohne Notwendigkeit, ohne klare Perspektive, ohne moralische und materielle Vorbereitung und noch dazu in einem Moment, wo selbst der Kalender vor einem solchen Abenteuer warnte.

Ein wundersames Detail: Stalin dachte nicht einmal daran, nach dem Beispiel seines Inspirators Hitler, die Front zu besuchen. Der Schlachtenlenker im Kreml ist zu vorsichtig, um seine falsche Reputation als Stratege aufs Spiel zu setzen. Zudem hat er den Massen von Angesicht zu Angesicht nichts mitzuteilen. Man kann sich diese mausgraue Figur mit dem bewegungslosen Gesicht, den gelblichen Augen und der ausdruckslosen, kehligen Stimme vor Soldaten, im Schützengraben oder im Unterstand auch kaum vorstellen. Der Über-Napoleon blieb vorsichtigerweise im Kreml, umgeben von Telefonen und Sekretären.

Im Verlauf von zweieinhalb Monaten lernte die Rote Armee nur Niederlagen, Leiden und Misserfolge kennen. Man war auf nichts, nicht einmal auf das Klima vorbereitet. Die zweite Offensive entwickelte sich nur langsam und forderte viele Opfer. Das Ausbleiben des versprochenen »Blitzsieges« über einen schwachen Gegner war an und für sich schon eine Niederlage. Stalins Fehler und Misserfolge könnten bis zu einem gewissen Grad entschuldigt und die Völker der UdSSR mit dem unüberlegten Angriff auf Finnland im Nachhinein versöhnt werden, allerdings nur, wenn es gelungen wäre, wenigstens Teile der finnischen Bauern und Arbeiter durch einen sozialen Umsturz zu gewinnen. Stalin hat dies begriffen und den Sturz der finnischen Bourgeoisie offen als sein Ziel erklärt. Zu diesem Zweck wurde auch der unglückselige Kuusinen aus den Büros der Komintern abberufen. Da Stalin jedoch die Einmischung Englands und Frankreichs und das Missfallen Hitlers und einen langen Krieg fürchtete, zog er sich zurück. Das tragische Abenteuer wurde mit einem Bastard-Frieden beendet, der der Form nach ein »Diktat«, dem Inhalt nach aber ein fauler Kompromiss ist.

Durch den sowjetisch-finnischen Krieg kompromittierte Hitler Stalin und spannte ihn noch fester vor seinen eigenen Wagen. Durch den Friedensvertrag sicherte er sich die Möglichkeit, weiterhin skandinavische Rohstoffe zu beziehen. Die UdSSR sicherte sich im Nordwesten, das soll nicht bestritten werden, strategische Vorteile, doch zu welchem Preis! Das Prestige der Roten Armee ist untergraben, das Vertrauen der arbeitenden Massen und der unterdrückten Völker der ganzen Welt ist geschwunden. Die Folge ist, dass sich die internationale Stellung der UdSSR nicht verbessert, sondern verschlechtert hat. Stalin hat eine schwere persönliche Niederlage einstecken müssen. Die allgemeine Stimmung im Land ist zweifellos so: Wir hätten diesen unwürdigen Krieg nicht beginnen dürfen; wenn er aber schon begonnen wurde, dann hätte er bis zu Ende, d. h. bis zur Sowjetisierung Finnlands, geführt werden müssen. Stalin hat dies auch versprochen, jedoch nicht verwirklicht. Das bedeutet, dass er auf nichts vorbereitet war – weder auf den Widerstand der Finnen noch auf den Frost oder die Drohungen der Alliierten. Gleichzeitig mit dem Diplomaten und Strategen hat auch der »Führer des Weltsozialismus« und der »Befreier des finnischen Volkes« eine Niederlage erlitten. Der Autorität des Diktators wurde ein nicht wiedergutzumachender Schlag versetzt. Die totalitäre Propaganda wird immer mehr von ihrer hypnotischen Kraft verlieren.

Es stimmt, Stalin kann eine Zeitlang Unterstützung aus dem Ausland erhalten, doch dazu müssten ihm die Alliierten den Krieg erklären. Ein solcher Krieg würde aus der Sicht der Völker der UdSSR nicht nur über das Schicksal der stalinistischen Diktatur, sondern über das Schicksal des Landes insgesamt entscheiden. Die Abwehr einer ausländischen Intervention würde die Stellung der Bürokratie unweigerlich stärken. In einem Verteidigungskrieg würde die Rote Armee unvergleichlich erfolgreicher operieren als in einem Angriffskrieg. Im Falle der Selbstverteidigung wäre der Kreml sogar zu revolutionären Maßnahmen fähig. Die würden jedoch lediglich einen Aufschub bewirken. Die Instabilität der Stalinschen Diktatur ist in den letzten fünfzehn Wochen nur allzu deutlich geworden. Man darf nicht glauben, dass Völker die Fähigkeit zu beobachten und zu urteilen verlieren, wenn sie von einem totalitären Regime unterjocht sind. Sie kommen nur langsamer zu Einsichten, die dann aber um so tiefer und dauerhafter sind. Die Glanzzeit Stalins ist vorbei. Ihm stehen schicksalsschwere Prüfungen bevor. Heute, wo der ganze Planet aus dem Gleichgewicht geraten ist, wird es Stalin nicht gelingen, das labile Gleichgewicht der totalitären Bürokratie zu retten.

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