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Leo Trotzki 19270516 Brief an das Politbüro und das Präsidium der ZKK

Leo Trotzki: Brief an das Politbüro und das Präsidium der ZKK

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 234-239, dort mit umfangreichen Fußnoten]

1. Das Politbüro hat am 12. Mai beschlossen, meine Artikel nicht zu veröffentlichen. Es geht dabei offensichtlich um zwei Artikel: »Die chinesische Revolution und die Thesen des Genossen Stalin«, den ich an den Bolschewik, und »Der sichere Weg«, den ich an die Prawda geschickt habe. Zur Diskussion dieser Angelegenheit im Politbüro wurde ich nicht hinzugezogen, obgleich das doch zur Wahrung wenigstens eines Scheins von Loyalität erforderlich gewesen wäre.

2. Die Nichtveröffentlichung wurde damit begründet, dass die Artikel das ZK kritisierten und dass es sich um Diskussionsbeiträge handele. Mit anderen Worten, es wird die Regel aufgestellt, dass alle Parteimitglieder und die gesamte Parteipresse dem ZK nur noch nach dem Munde reden dürfen, was immer das ZK sagen oder tun möge, und unter welchen Umständen auch immer.

3. Ich halte die Linie des ZK in der chinesischen Frage für grundfalsch. War es doch eben diese Linie, die der chinesischen Konterrevolution den Erfolg des Staatsstreichs vom April garantiert hat. Ungeachtet der weit verbreiteten Lügen und Verleumdungen, die Opposition »spekuliere auf Schwierigkeiten«, haben Genosse Sinowjew und ich vorgeschlagen, die Frage unserer künftigen Linie in China und die wichtigsten Fragen unserer Politik in einer nichtöffentlichen Plenumssitzung zu behandeln. Das allein zeugt schon für unsere Absicht, diese Fragen sachlich zu erörtern und zu lösen, ohne Stenogramm, folglich ohne die Absicht, irgend etwas »auszunutzen«. Das Politbüro und das Präsidium der ZKK* haben die Einberufung eines solchen Plenums abgelehnt. So ist also der Versuch, diese grundfalsche und in ihren Konsequenzen fatale Linie durch eine ernsthafte Diskussion im ZK zu korrigieren, durch Verschulden des Politbüros misslungen, das wie immer automatisch vom Präsidium der ZKK unterstützt wurde.

4. Danach tauchten plötzlich die Thesen des Genossen Stalin auf, mit denen die schlimmsten Fehler dieser Politik noch festgeschrieben und vertieft wurden. Und schließlich, als Krönung von alledem, hat das Politbüro, das sich doch geweigert hatte, die chinesische Frage mit uns in einer nichtöffentlichen Plenumssitzung zu diskutieren (in »privaten« Besprechungen – ohne uns – wurde sie natürlich diskutiert), die Thesen Stalins sanktioniert und danach jedermann verboten, in der Presse danach zu fragen, warum Tschiang Kaischek so leicht siegen konnte, warum das chinesische Proletariat so unvorbereitet war, warum sich unsere Partei in so erschreckendem Maße in den Netzen der Martynowschtschina verfangen hat, warum die Thesen Stalins die chinesische KP und die gesamte Internationale in den opportunistischen Sumpf treiben, und schließlich, warum der Sozialistitscheskij Westnik noch gestern so entschieden den Artikel von Martynow guthieß und heute (am 9. Mai 1927) die Thesen Stalins.

5. Ist denn die chinesische Revolution und die gesamte Linie der Komintern wirklich eine Bagatelle, die man einfach unter den Teppich kehren kann? Kann man denn so zur Erziehung der chinesischen KP beitragen? Können sich denn die ausländischen Sektionen der Komintern unter solchen Umständen entwickeln? Und unsere Partei, kann sie so leben? Ist eine solche bürokratische Utopie überhaupt denkbar?

6. In der Resolution des Politbüros heißt es, wir wollten der Partei eine Diskussion aufzwingen. Wenn man unter Diskussion das Poltern des Apparats, die Pfiffe und das Gejohle der eigens dafür präparierten »Trupps« versteht, die Überflutung der Parteizellen mit bewaffneten, für die Abrechnung mit der Opposition ausgebildeten Sondertrupps und die Betäubung der Arbeiterzellen mit Drohungen und dem Geschrei über die Spaltung – dann wollen wir keine »Diskussion«. Doch gerade Diskussionen dieser Art füllen unser Parteileben. Wir hingegen wollen, dass die Fragen der chinesischen Revolution von der Partei diskutiert werden, und zwar mindestens in ihren theoretischen und zentralen Organen.

7. Ja, wir wollen die Diskussion über das Schicksal der chinesischen Revolution und folglich auch über unser eigenes Schicksal. Warum hat man während der gesamten Geschichte unserer Partei, solange Lenin am Leben war, solche Diskussionen für normal gehalten? Kann denn überhaupt irgend jemand glauben, dass die von Stalin, Molotow und Bucharin dekretierten Thesen für die Partei das jeweils letzte Wort der historischen Entwicklung sind? Ja, wir wollen die Diskussion dieser Fragen, um der Partei zu beweisen, ihr klarzumachen, dass diese Thesen im Kern falsch sind und, falls sie in die Praxis umgesetzt werden, der chinesischen Revolution das Genick zu brechen drohen.

8. Das ZK will keine Diskussion. Aber es geht ja auch um die Kritik am ZK. In der Regel hat wohl jedes ZK um so weniger Geschmack an Diskussionen, je mehr sich seine Linie als falsch erwiesen hat, und je deutlicher und bedrohlicher sie durch die Ereignisse widerlegt worden ist. Ich glaube nicht, dass es in der Geschichte unserer Partei je Fehler gegeben hätte, die auch nur im geringsten den Fehlern gleichkommen, die von Stalin und Bucharin in der chinesischen Frage und in der Frage des Anglo-Russischen Komitees begangen worden sind. Aber es geht schließlich nicht um Fragen von gestern. Jeder von uns war und ist auch jetzt noch bereit, einen Schlussstrich darunter zu ziehen. Doch diese Fehler werden jetzt per Dekret verzehnfacht auf morgen übertragen. Das ist es, wovon ich spreche. Dass das Politbüro keine Diskussion »will«, kann man verstehen. Aber hat es auch das Recht, eine Diskussion zu verbieten, wenn es um die eigenen, grundsätzlichen Fehler in Fragen von weltgeschichtlicher Bedeutung geht?

9. Das Politbüro will keine Diskussion. Warum? Angeblich will es die Partei »nicht belästigen«. Dabei war es gerade das Politbüro, das wegen eines angeblich parteifeindlichen Auftritts des Genossen Sinowjew auf einer angeblich nicht parteioffiziellen Versammlung künstlich von oben eine Diskussion angezettelt hat. Der Partei wurde nichts von dem mitgeteilt, was der Genosse Sinowjew gesagt hat (was mich angeht, so unterschreibe ich jedes Wort, das er geäußert hat). Die Rede des Genossen Sinowjew wird auch nicht veröffentlicht. Es wird so dargestellt, als sei die Versammlung keine Parteiversammlung gewesen, während sie in Wirklichkeit den Charakter einer Parteiversammlung hatte, auch wenn vielleicht ein paar Parteilose zugegen waren. Die »Diskussion« gegen den Genossen Sinowjew ist in vollem Gange. Die ZKK schweigt. Die ZKK mischt sich nicht ein. Wenn die »Diskussion« so läuft wie üblich, dann wird die ZKK auch ihr »Urteil« fällen.

10. Jetzt, wo die chinesische Frage diskutiert wird, werden im ganzen Land offene Versammlungen der Parteizellen speziell zu dem Zweck durchgeführt zu verhindern, dass sich irgend jemand über die Fehler der revolutionären Führung auslässt, bzw. um die Möglichkeit zu haben, jeden, der Kritik übt, dafür zu belangen, dass er sich auf einer Versammlung, die keine Parteiversammlung war, gegen die Partei geäußert hat. Das hat System, und das wird von oben organisiert, um das Denken innerhalb der Partei zu unterdrücken. Man sollte wirklich meinen, dass die Mitglieder der bolschewistischen Partei das dringende Bedürfnis haben, ihre Ansichten über die chinesische Revolution untereinander auszutauschen, besonders jetzt, wo klar geworden ist, dass das Politbüro seine Fehler, anstatt daraus zu lernen, der Partei per Dekret aufzwingt. Jeder ehrliche Parteigenosse, der unter diesen Bedingungen vor die Wahl gestellt ist, wird sagen: »Es ist wesentlich gefährlicher, wenn ich meine Kritik vor der Partei verberge, als wenn sie – gegen meinen Willen – von ein paar Parteilosen gehört wird.«

11. Wir wollen die Diskussion über die Bedingungen und Ursachen der Katastrophe von Shanghai in der Partei. Um das zu verhindern, macht das ZK aus der äußerst ruhigen und maßvollen Ansprache des Genossen Sinowjew eine Partei-»Katastrophe«. Ungeachtet des kritischen Augenblicks, der Schwierigkeiten und Gefahren usw. usf. bringt die Führung die Partei auf die Beine, lässt ihr keine Ruhe, terrorisiert sie und brüllt ihr die bewusste Lüge ins Ohr, Sinowjew mobilisiere die Parteilosen gegen die Partei. Mit einer solchen einseitigen, erbitterten und vergifteten Diskussion aus künstlich geschaffenem Anlass versucht man, die Partei daran zu hindern, die Grundfragen der chinesischen Revolution in Ruhe zu diskutieren. Unter dem Geschrei und Getöse dieser einseitigen, vom Apparat angezettelten Diskussion wird der Abdruck unserer Artikel verboten. Weshalb das Verbot? Weil Stalin nichts darauf zu antworten weiß. Weil die erbärmlichen, ideenlosen, auf gut Glück zusammengekleisterten Sätze seiner Thesen, die Dan so sehr zufriedengestellt haben, beim ersten Hauch von Kritik wie Staub verfliegen.

12. Die Diskussion der eigentlichen Kernfragen wird unter Hinweis auf die schwierige Lage, die Gefahren von außen, die drohende Kriegsgefahr verboten. In ihrer Einstellung zu diesen unleugbaren Gefahren unterscheidet sich die Opposition nur dadurch [von der Führung], dass sie diese Gefahren früher vorausgesehen und ernster genommen hat. Es drohen Gefahren, und zwar gigantische. Doch jede dieser Gefahren wird durch die Fehler der Führung noch hundertmal größer. Die Hauptgefahrenquelle bildet die Niederlage der chinesischen Revolution, zu der es so rasch infolge der fehlenden revolutionären Klassenbasis gekommen ist. Mit unserer falschen Politik haben wir die rechtzeitige Bildung einer solchen Basis verhindert. Das hat jetzt zu einem Schlag gegen die Revolution und gegen unsere internationale Position geführt. Wenn wir Stalins Thesen weiter folgen, dann wird die Lage der chinesischen Revolution, und das heißt auch die unsere, noch schlechter (vgl. die Rede von Chen Duxiu). Dann wird man auf die doppelt so schlechte Situation verweisen und jede Kritik doppelt verbieten. Je mehr Fehler die Führung macht, desto weniger wird man sie – wenn dieser Kurs fortgesetzt wird – kritisieren dürfen.

13. Die Frage ist völlig auf den Kopf gestellt worden. Unter günstigen Bedingungen könnte man auch mit einer falschen Linie vorankommen. Doch eine schwierige Situation macht eine korrekte Linie erforderlich, und zwar um so dringlicher, je schwieriger die Situation ist. Wenn die Linie falsch ist und die Führung mit aller Hartnäckigkeit darauf beharrt, dem Arbeiterstaat und der internationalen Revolution also neue Niederlagen und Erschütterungen drohen, dann können zu diesen Fehlern (falls sie sie überhaupt wahrnehmen) nur erbärmliche, charakterlose Bürokraten oder gemeine Karrieristen schweigen, von denen sich, nebenbei gesagt, hier eine ganze Anzahl herumtreiben. Wenn die prinzipielle, politische Diskussion strittiger Fragen durch den Lärm, das Getöse und Halali einer künstlich angezettelten »Diskussion« gegen den Genossen Sinowjew unterbunden wird, so bedeutet das, dass man ein ordentliches Parteimitglied terrorisiert und demoralisiert, den Apparatschik aber in den Himmel hebt und den Karrieristen sich tummeln lässt wie ein Fisch im Wasser.

14. Ich nenne die Dinge beim Namen, denn halbherzige Worte können unter solchen Umständen nicht weiterhelfen. Routinemäßig unterdrücken kann man vorübergehend alles: Kritik, Zweifel, Fragen und empörten Protest. Aber so etwas hat Lenin grobe und illoyale Methoden genannt. Grob und illoyal sind sie nicht wegen der unangenehmen Form, sondern weil sie mit dem Charakter der Partei zutiefst unvereinbar sind. Man kann die chinesische Revolution nicht einfach unter den Teppich kehren. Das wird niemandem gelingen. Und die konspirativ vorbereitete Zerschlagung der Opposition kann nur äußerlich, nur mechanisch gelingen. Die Linie, die wir verteidigen, hat die Feuerprobe der bedeutendsten Ereignisse der Weltgeschichte bestanden, ist durch alle Erfahrungen des Bolschewismus bestärkt und durch die tragischen Erfahrungen mit der chinesischen Revolution und mit dem Anglo-Russischen Komitee neuerlich – wenn auch negativ – bestätigt worden. Es wird nicht gelingen, diese Linie zu unterdrücken. Doch ist es sehr wohl möglich, dass der Partei und der Komintern ein nicht wiedergutzumachender Schaden zugefügt wird. Das ist es, was ich dem ZK und der ZKK klar und deutlich sagen will.

* Das Präsidium der ZKK hat in keiner einzigen Frage des elementaren Parteirechts jemals auch nur den Anschein von Selbständigkeit gegenüber dem Politbüro oder dem Orgbüro gezeigt, schon gar nicht gegenüber dem Sekretariat. (L. T.)

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