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Leo Trotzki 19371101 Brief an Harold Isaacs

Leo Trotzki: Brief an Harold Isaacs

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 887-891, dort mit umfangreichen Fußnoten.]

Lieber Freund!

Dem dritten Kapitel, das ich soeben gelesen habe, verdanke ich sehr interessante und wichtige Informationen über das »neue Erwachen«. Dieses Kapitel hat das gleiche Niveau wie die beiden vorangegangenen, und was die allgemeine Natur des Buches angeht, bin ich nun vollkommen beruhigt.

Eine Anregung: Die Kapitel sind sehr lang, und jedes enthält eine Vielfalt an Themen. Meinen Sie nicht, dass es gut wäre, in jedem Kapitel einige Zwischenüberschriften einzufügen, entweder unmittelbar nach der Hauptüberschrift oder aber im Text selbst?

In diesem Kapitel bin ich jedoch in zwei (nicht prinzipiellen, aber doch wichtigen) Fragen anderer Meinung als Sie.

Die erste Frage betrifft die Kontroverse zwischen Maring und Chen Duxiu. Zweifellos meinen Sie es zu gut mit Maring und tun Chen Duxiu unrecht. Die Argumente, die Maring Ihnen gegenüber nachträglich vorgebracht hat, haben keinerlei historischen Wert. Dass Maring in dieser Sache irgendeine persönliche Initiative ergriffen hat, ist völlig ausgeschlossen. Er war in offiziellem Auftrag unterwegs und handelte nicht aufgrund seiner früheren Erfahrung in Java, sondern aufgrund des Mandats, das ihm Sinowjew, Radek und Bucharin, möglicherweise im Einverständnis mit Stalin, erteilt hatten. Sie machen hier keine genauen Zeitangaben, aber die ganze Episode fällt, wenn ich mich recht erinnere, in das Jahr 1922. Lenin war krank. Ich war von der Arbeit der Komintern völlig abgeschnitten und traf Maring erst später, als er aus China zurückkehrte.

Ich hielt es für absolut wahrscheinlich, wenn nicht gar für gesichert, dass Chen Duxiu und andere kommunistische Führer in China gegen ihre Unterordnung unter die Guomindang waren. Eine junge kommunistische Partei musste natürlicherweise mehr zur Unnachgiebigkeit als zum Opportunismus neigen. Wir haben nicht den geringsten Grund, dem Bericht Chen Du-xius zu misstrauen Dass Maring kein »schriftliches Mandat« hatte, klingt lächerlich. An seiner Identität als Abgesandter Moskaus gab es keinen Zweifel, und natürlich appellierte er an die Disziplin der Komintern. Ich weiß nicht, ob es nötig ist, diese wahrscheinlichere Version zu bringen, aber es ist gewiss nicht nötig, Maring nur deshalb den Vorzug zu geben, weil er frei ist, während Chen Duxiu im Gefängnis sitzt.

Sie machen geltend, selbst wenn die chinesischen Führer gegen den Eintritt gewesen seien, hätten sie sich dabei nicht auf Prinzipien berufen, sondern lediglich auf ihre »Überzeugung, die Guomindang sei am Ende«. Diese Behauptung wird mindestens zweimal wiederholt. Ich finde es in diesem Fall nicht richtig, einen Gegensatz zwischen Prinzipien und Tatsachen aufzubauen. In früheren Zeiten, als die bürgerlichen Parteien imstande waren, Massen von Werktätigen zu führen, war es die Pflicht eines Revolutionärs, sich ihnen anzuschließen. Marx und Engels z. B. schlossen sich 1848 der demokratischen Partei an (ob zu Recht oder zu Unrecht, ist eine Frage der konkreten Analyse). »Die Guomindang ist nicht imstande, revolutionäre Massen zu führen. Vom revolutionären Standpunkt aus ist diese Partei am Ende. Deshalb sind wir gegen den Eintritt.« – Einem solchen Argument könnte eine ganz und gar prinzipielle Bedeutung zukommen.

Ich kann noch weiter gehen: Im Jahre 1922 war es an sich noch kein Verbrechen, in die Guomindang einzutreten, vielleicht noch nicht einmal ein Fehler, zumal im Süden, und vorausgesetzt, es habe in den Reihen der Guomindang damals zahlreiche Arbeiter gegeben, während die junge Kommunistische Partei schwach war und fast ausschließlich aus Intellektuellen bestand. (Traf das 1922 zu?) In diesem Fall wäre der Eintritt eine Episode auf dem Weg zur Unabhängigkeit gewesen, die gewisse Analogien zu Ihrem Eintritt in die Sozialistische Partei aufwiese. Es kommt darauf an, welche Absicht mit dem Eintritt verfolgt wurde und wie anschließend die Politik aussah.

Sie haben gegen Chen Duxiu angeführt, was er selbst 1922 schrieb: »Zusammenarbeit mit der revolutionären Bourgeoisie ist der notwendige Weg …« Wurde dies vor oder nach Marings Anweisung geschrieben? Und weiter: »Zusammenarbeit« ist nicht gleichbedeutend mit Eintritt. Wir haben 1927 ebenfalls eine militärische Zusammenarbeit mit der Guomindang vorgeschlagen. Nein, Sie sind zu großzügig mit Maring und zu streng mit Chen Duxiu.

Mein zweiter Einwand betrifft Ihre Kritik der sowjetischen Politik gegenüber China im Jahre 1920. Sie sprechen (III, 13) von einem »augenfälligen Beispiel für die Tendenz, den unmittelbaren staatlichen Interessen den Vorrang vor den revolutionären Zielen einzuräumen«. Die Episoden, die Sie (ohne Zeitangabe) erwähnen, sind mir nicht bekannt. Sie zitieren einen dummen Artikel aus der Iswestija, aber war dieser Artikel charakteristisch für unsere Generallinie? Wie verhielt sich diese Episode zur Generallinie? Handelte es sich hier wirklich um ein »augenfälliges Beispiel für die Tendenz«) In diesem Fall werfen Sie der sowjetischen Regierung vor, Wu Peifu mehr Aufmerksamkeit gewidmet zu haben als den revolutionären Kräften in China. Dieser Vorwurf ist an dieser Stelle nicht berechtigt. Die Komintern hatte die Pflicht, die revolutionären Kräfte zu unterstützen. Aber der Sowjetstaat hatte das Recht, an diesen Grenzen im Fernen Osten zwischen den verfeindeten Imperialisten zu lavieren. Also spielte sich die Politik auf zwei verschiedenen Ebenen ab, nicht nur im Fernen Osten, sondern z. B. auch in Deutschland.

Auf Seite 15 erwähnen Sie erstmals Borodins Eintreffen in China, im Herbst 1923. Dies fällt in die Zeit, als die Troika herrschte und die Politik gegenüber der Guomindang den beginnenden Kampf gegen unsere »Unterschätzung der Bauernschaft« widerspiegelte. Die Guomindang wurde als Partei der Bauernschaft hingestellt.

Vergleichen Sie bitte III, 20, fünfte und sechste Zeile, mit II, 34, vierte Zeile und folgende. Hier liegt ein offensichtlicher Widerspruch vor, und in beiden Fällen sind einige Übertreibungen im Spiel.

Diese Bemerkungen ändern nichts daran, dass ich Ihr drittes Kapitel sehr gut finde.

Meine besten Grüße und Wünsche

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