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Leo Trotzki 19281006 Brief an sowjetische Linksoppositionelle

Leo Trotzki: Brief an sowjetische Linksoppositionelle

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 559-562, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Mein Text »Die chinesische Frage nach dem VI. Weltkongress« hat folgende Geschichte: Ursprünglich wollte ich die Losung der Konstituierenden Versammlung für das heutige China bereits in die Programmkritik aufnehmen. Dann aber kam ich zu dem Schluss, es sei besser, sich in einer programmatischen Arbeit zunächst auf eine allgemeine Charakteristik der gegenwärtigen konterrevolutionären Etappe zwischen zwei Revolutionen in China zu beschränken, d.h. auf die Charakteristik der Etappe einer gewissen politischen und ökonomischen Stabilisierung der Bourgeoisie (»das Jahr '49« – wie Lenin es nannte). Ich meinte, der Streit könne grundsätzlich nur darum gehen, ob das »Jahr '49« angebrochen sei oder nicht. Falls ja, so entfiele die Losung der Räte als praktische Losung ganz" von allein.

Eben deshalb wies ich nicht nur nach, dass die Losung der »demokratischen Diktatur« reaktionär ist, sondern auch dass in China keine revolutionäre Situation besteht, und die Politik der starken Tendenz zur Stabilisierung Rechnung tragen muss.

Ich gestehe, dass ich auch fürchtete, Bucharin und Manuilski hätten, wenn ich die Losung der Konstituierenden Versammlung (die meines Erachtens besonders wichtig ist, um den Charakter des politischen Umbruchs in China zu verdeutlichen) beiläufig aufstellte, nichts Eiligeres zu tun, als eine Konstituierende Versammlung zu verbieten. Ich beschloss zu warten. Doch die auf dem Kongress geführte Diskussion über die chinesische Frage zeigte, dass man nicht warten durfte. Meine Arbeit war im Wesentlichen bereits geschrieben, als die Resolution des EKKI erschien, in der die Losung der Nationalversammlung als opportunistisch bezeichnet wurde. Nun bedauerte ich sehr, dass ich die Losung der Konstituierenden Versammlung nicht in die Programmkritik aufgenommen hatte. Inzwischen hatte ich einer Reihe von Genossen in aller Kürze geschrieben, man müsse für China die demokratische Losung einer Volksvertretung ausgeben. Es ist möglich, dass meine Überkürze zu Missverständnissen führte. Ich habe schon einige Telegramme erhalten, in denen Einspruch gegen diese Losung erhoben wird. Einige Genossen kündigen mir telegraphisch an, dass sie brieflich ausführlicher auf diese Frage eingehen wollen. Ich verschicke meinen Text, ohne diese Briefe abzuwarten, auf die ich wahrscheinlich gesondert antworten muss. Doch muss ich sagen, dass mir einige der in den Telegrammen formulierten Einwände ganz unglaublich vorkommen.

So sagen zwei Genossen, die Losung der Konstituierenden Versammlung sei »keine Klassenlosung« und daher abzulehnen. Ein solches Verständnis des Klassencharakters von Forderungen ist anarcho-syndikalistisch, nicht marxistisch. In dem Maße, wie die chinesische Politik das Geleise der Revolution verlassen und auf das Geleise einer bourgeoisen Stabilisierung geraten ist, wobei die Frage der Nationalversammlung schon zur zentralen Frage geworden ist (was völlig klar werden wird), erfordert das richtig verstandene Klasseninteresse des Proletariats die »Durchführung der demokratischen Losungen bis zum Ende«. Vergessen Sie nicht, dass die Bolschewiki sich 1912 in der legalen Presse selbst als »konsequente Demokraten« bezeichnet haben. Das war ein zensurbedingtes Pseudonym, das gleichwohl eine sehr wichtige politische Tendenz der damaligen Arbeit der Partei zum Ausdruck brachte. – In einigen Telegrammen wird statt der Konstituierenden Versammlung die Losung der Räte vorgeschlagen. Das kann man schon gar nicht ernst nehmen. Hier müsste entweder die Funktion der Räte oder aber die Charakteristik der jetzigen Etappe der chinesischen Entwicklung ganz neu bestimmt werden. Andernfalls stürzen wir nur die chinesische Partei und uns selbst in Verwirrung. – Aber, wie schon gesagt, über all das muss nach Erhalt der Briefe gesprochen werden, wenn der hier vorliegende Text nicht schon einige der Missverständnisse ausräumt, die zum Teil sicher durch die Kürze meines Briefs hervorgerufen worden sind.

Ich halte es für nötig, auf die wichtigsten Länder in speziellen Arbeiten einzugehen – etwa in der Art, wie ich es für China versucht habe (»Die französische Frage nach dem VI. Weltkongress«, »Die englische Frage...« usw.). Gut könnte man eine solche Arbeit nur kollektiv machen, zum Beispiel wenn Genosse Radek Deutschland, Holland und Skandinavien, vielleicht auch England übernähme, Genosse Dingelstedt Indien, Genosse Rakowski Frankreich und vielleicht England usw. Andere Genossen könnten mir ihre Überlegungen zu einzelnen Problemen oder Ländern schicken. Wir müssen jetzt alle Fragen der Komintern[-Politik] ganz konkret für die einzelnen Länder aufwerfen, und zwar rechtzeitig. – Von den Genossen Smilga, Palatnikow, Liwschitz und überhaupt von den Ökonomen erwarten wir konkrete Thesen über die innere »gegenwärtige Lage«. Natürlich nenne ich hier die Namen der Genossen nur als Beispiele. Doch die Zeit drängt. Ich drücke Ihnen fest die Hand.

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