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Leo Trotzki 19300822 Fünfter Brief an Liu Renjing

Leo Trotzki: Fünfter Brief an Liu Renjing

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 644-647, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Lieber Genosse N.,

1. Damit ich es nicht vergesse: Sie schreiben, dass ich in meinem Aufsatz »Die chinesische Frage nach dem VI. Weltkongress« einen »kleinen geographischen Fehler« gemacht hätte: Der Provinz Jiangsu werde nicht nur Shanghai, sondern auch Kanton zugerechnet. Das ist nicht mein Fehler, sondern der Fehler einer früheren Schreibkraft. Doch sollten Sie aus dem Text erkennen, dass nicht von Kanton die Rede ist, sondern von Hankou, das ebenso wie Shanghai zur Provinz Jiangsu gehört. So schwach meine geographischen Kenntnisse auch sein mögen, weiß ich doch, wo Shanghai liegt und wo Kanton.

2. Erst heute las ich den Brief des Genossen Chen Duxiu vom 10. Dezember 1929. Ich meine, dass es sich bei dem Brief um ein ganz hervorragendes Dokument handelt. Er antwortet auf alle wichtigen Fragen klar und bestimmt. Insbesondere zur Frage der demokratischen Diktatur nimmt Genosse Chen Duxiu in diesem Brief eine völlig richtige Position ein. Als Sie mir in einem der letzten Briefe die Unmöglichkeit eines Zusammenschlusses mit Chen Duxiu erklärten, behaupteten Sie, er habe bis jetzt den Standpunkt der »demokratischen Diktatur« vertreten. Diese Frage halte ich für entscheidend, da die demokratische Diktatur, im Gegensatz zur Diktatur des Proletariats, das die Dorfarmut anführt, nichts anderes ist als das Pseudonym einer neuen Guomindangiade. In dieser Frage kann es keine Kompromisse geben. Aber es zeigt sich, dass der Genosse Chen in seinem Brief vom 10. Dezember eine untadelige Position eingenommen hat. Wie erklärt und rechtfertigt sich dann aber die Separatheit Ihrer Gruppen? Welche Meinungsverschiedenheiten bleiben noch? Keine, außer Nuancen in der Frage, wie eine Konstituierende Versammlung einberufen werden kann, welche Rolle der Parlamentarismus in China noch spielen kann usw. Im Wesentlichen herrscht aber auch hier völlige Übereinstimmung. Die Nuancen betreffen teils akademische Fragen, teils taktische, die in dem Maße genauer zu bestimmen sind, wie die Ereignisse sich entwickeln. Außerdem muss ich Ihnen offen sagen, dass mir einige Ihrer Formulierungen in Bezug auf die Konstituierende Versammlung und den Parlamentarismus nicht sehr gelungen scheinen. Allerdings besteht auch kein Grund, darin – nach dem Muster von »Unser Wort« – »Kautskyanismus« zu sehen.

Wenn ein solch hervorragender Revolutionär wie Chen Duxiu mit der offiziellen Partei bricht, d. h. den Ausschluss akzeptiert und seine »hundertprozentige« Solidarität mit der Internationalen Opposition erklärt, können wir ihm dann den Rücken kehren? Gibt es bei Ihnen vielleicht viele Kommunisten vom Format Chen Duxius? Er hat in der Vergangenheit große Fehler gemacht. Aber er hat sie als solche erkannt. Und die Einsicht, Fehler gemacht zu haben, ist eine unersetzliche Erfahrung für einen Revolutionär, für einen Führer. Ich denke, dass viele junge Oppositionelle bei Chen Duxiu lernen können und müssen.

3. Sie beschuldigen die Gruppe »Unser Wort«, sie beurteile die allgemeine politische Lage in China falsch und neige dazu, den Kampf unter den Losungen der Demokratie zu negieren. Ich habe von dieser Gruppe einen ausführlichen Brief erhalten, der davon zeugt, dass die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten, auf die Sie verweisen, gegenwärtig jedenfalls schon nicht mehr existieren. Sie schreiben, sie hätten die Resolution ihres Kongresses revidiert. Ist das richtig, dann werden sie sie in jedem Fall zum Guten und nicht zum Schlechten hin umgearbeitet und sich auf diese Weise uns angenähert haben. Sie beschuldigen die Gruppe unehrlicher Methoden (wie der nachträglichen Verbesserung von Resolutionen usw.). Natürlich ist diese Frage von Bedeutung; aber wenn sie, weil sie sich von diesem oder jenem Fehler überzeugt haben und nach Absprache untereinander ihre eigene Resolution abgeändert haben, dann ist das doch kein schreckliches Verbrechen, zumal es sich um Änderungen in marxistischem Sinne handelt.

Die dritte Meinungsdifferenz, die Sie anführen (»soll man nur innerhalb der Partei oder auch außerhalb der Partei arbeiten«), hat keinen prinzipiellen Charakter, denn keine der oppositionellen Gruppen setzt sich zur Aufgabe, eine zweite, parallele Partei zu gründen; doch da wir uns als eine Fraktion betrachten, d. h. als Teil der Partei, müssen wir natürlich auch Parteilose für die Kommunisten, d.h. für die Opposition werben. Das richtige Verhältnis zwischen der Arbeit innerhalb und außerhalb der Partei lässt sich nur praktisch klären. Jedenfalls muss unsere Arbeit außerhalb der Partei so beschaffen sein, dass die einfachen Parteimitglieder in uns Freunde und nicht Feinde sehen. Was die europäischen Erfahrungen angeht, so ist die französische Opposition wie auch die deutsche in letzter Zeit bedeutend näher an die Partei herangerückt, ohne dabei den Kampf mit deren Führung abzuschwächen. Diese Politik hat in Frankreich zu sehr guten Resultaten geführt und zeigt auch in Deutschland erste Erfolge.

Natürlich halte ich die Forderung der Gruppe »Unser Wort«, die anderen Gruppen sollten ihr gegenüber ihre Fehler eingestehen, für völlig falsch. Gleichwohl sehe ich weder programmatische noch ernsthafte taktische Meinungsverschiedenheiten und halte daher Ihre Kritik für äußerst übertrieben. Wenn die Existenz verschiedener Gruppen politisch nicht gerechtfertigt ist, dann fangen die Menschen immer an, nach Meinungsverschiedenheiten zu suchen oder sich solche auszudenken. Ein wenig sind auch Sie in diese Situation geraten.

4. In der nächsten Nummer des russischen Bulletins wird den chinesischen Angelegenheiten viel Raum gewidmet. Leider haben Sie uns bisher nichts zur Bauern-(»Räte«-)Bewegung in China geschickt. Es ist sehr wichtig, dazu eine richtige Position einzunehmen; die Fakten müssen sorgfältig untersucht und alle Informationen gesammelt werden, sonst könnte man einen Umschwung der gesamten Situation verpassen.

Besteht zur Zeit die Hoffnung, dass sich der Bauernkrieg mit der Arbeiterbewegung verbindet? Diese Frage ist ungeheuer wichtig. Theoretisch ist eine plötzliche Beschleunigung des revolutionären Aufschwungs in den Städten unter dem Einfluss des Bauernaufstands nicht ausgeschlossen. Kommt es dazu, dann gewänne der Bauernaufstand eine ganz andere objektive Bedeutung. Unsere Aufgabe besteht natürlich nicht darin, uns im Bauernaufstand aufzulösen und ihn naiv zu idealisieren, sondern darin, den Arbeitern seine wirkliche Bedeutung und die sich aus ihm ergebenden Perspektiven zu erklären und zu versuchen, ihnen auf diese Weise Mut zu machen. Gleichzeitig müssen wir die Aufständischen, ihre Forderungen, ihr Programm vor der öffentlichen Meinung der Arbeiterklasse und der städtischen Armut verteidigen, sie vor den Lügen, der Verleumdung und Hetze der Gutsbesitzer, der Bürokraten und der Bourgeoisie in Schutz nehmen. Auf dieser Grundlage – und nur auf dieser – müssen wir die Scharlatanerie der offiziellen Führung der Komintern entlarven, die davon spricht, in China sei die »Rätemacht« errichtet worden – ohne Diktatur des Proletariats, sogar ohne aktive Teilnahme der Arbeiter an der Bewegung.

Ich hoffe, das Internationale Büro gibt zu dieser Frage ein Manifest an die chinesischen Kommunisten heraus.

5. Die permanente Revolution ist Ihnen, wie es scheint, rechtzeitig zugeschickt worden. Das wird noch einmal überprüft.

6. Ich bin nicht sicher, ob die alte Adresse von Chen Duxiu noch stimmt. Ich möchte Sie bitten, ihm einen Gruß von mir zu überbringen und ihm mitzuteilen, dass mich sein Brief vom 10. Dezember sehr gefreut hat. Ich hoffe fest auf eine Zusammenarbeit mit ihm.

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