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Leo Trotzki 19270322 Überlegungen zur Politik der KPCh

Leo Trotzki: Überlegungen zur Politik der KPCh

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 125-129, dort mit umfangreichen Fußnoten. Zur Frage eines Regierungseintritts schrieb Trotzki am 3. April in „Die Klassenverhältnisse in der chinesischen Revolution“: „Sollen die Vertreter der Kommunistischen Partei sich an der Nationalregierung beteiligen? In eine Regierung, die einer neuen Phase der Revolution entspräche, nämlich in eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung, müssen sie zweifellos eintreten. In die augenblickliche Nationalregierung aber unter keinen Umständen.]

Offen gestanden beunruhigt mich zur Zeit am stärksten die Lage in China. Gerade habe ich ein Telegramm mit der Nachricht erhalten, dass Shanghai von nationalen Truppen besetzt wurde. Je größer das Territorium der Nationalregierung ist, je mehr die Guomindang den Charakter einer Staatspartei annimmt, desto bürgerlicher wird sie. In dieser Beziehung ist die Einverleibung Shanghais in das Territorium der Nationalregierung von geradezu entscheidender Bedeutung. Gleichzeitig liest man die Reden von Kalinin und Rudsutak, in denen der Gedanke, die Nationalregierung sei eine »Regierung aller Klassen der Bevölkerung Chinas« (so wortwörtlich!), vorgetragen und wiederholt wird. So stellt es sich also heraus, dass in China die Existenz einer klassenübergreifenden Regierung möglich ist. Der Marxismus ist endgültig vergessen, vergessen sind auch Lenins Thesen über die Demokratie (vom I. Weltkongress der Komintern). Wenn man solche Dinge in der Prawda liest, will man zunächst seinen Augen nicht trauen, liest noch einmal und noch einmal. Und dabei formulieren ja in dieser Frage Kalinin und Rudsutak nichts anderes als die Politik der chinesischen KP, d.h., genauer gesagt, die jetzige Politik der Komintern in der chinesischen Frage. Je erfolgreicher die nationale Revolution in China ist, desto größere Gefahren erwarten uns bei der gegenwärtigen Politik. (Es wird sich schon ein Schlauer finden, der aus diesen Worten folgert, ich sei gegen die chinesische »Ernte«, will sagen, gegen den Sieg der nationalen Revolution in China!)

Die jetzige Politik ist falsch, selbst wenn man die Frage unter »rein staatlichem« Aspekt angeht und von der internationalen Revolution »abstrahiert«. Es steht außer Zweifel, dass die chinesische Nationalregierung, die über gewaltige Territorien herrscht und sich unmittelbar mit gigantischen und schwierigen Aufgaben konfrontiert sieht, weil es ihr an ausländischem Kapital mangelt und es täglich zu Zusammenstößen mit Arbeitern kommt, eine scharfe Rechtswendung machen wird – in Richtung auf Amerika und bis zu einem gewissen Grade auch England. In diesem Augenblick ist die Arbeiterklasse ohne Führung, denn das »kommunistische« Anhängsel der Guomindang, dem man suggeriert, die Nationalregierung sei eine Regierung aller Klassen, kann nicht als selbständige Führung der Arbeiterklasse gelten. Wir befinden uns in der Lage der Henne, die ein Entlein ausgebrütet hat.

Offenbar stellen sich die Verfechter dieser Politik den Gang der Entwicklung so vor: Zunächst treiben wir die Sache bis zum vollständigen Sieg der nationalen Truppen, d.h. bis zur Vereinigung Chinas; dann beginnen wir, die KP von der Guomindang zu lösen. Das ist eine durch und durch menschewistische Konzeption. Erst machen wir eine bürgerliche Revolution, dann... usw. usw. Mit dieser Konzeption sind wir nicht mehr die Klassenkraft der Geschichte, sondern werden zu einer Art klassenloser Aufsichtsbehörde über den gesamten historischen Prozess Und straucheln natürlich schmählich bei der ersten Wendung. Ein solcher Wendepunkt ist vermutlich mit der Besetzung Shanghais erreicht.

Die Kommunisten können natürlich nicht auf die Unterstützung der Nationalarmee und der Nationalregierung verzichten und offenbar auch nicht auf den Eintritt in die Nationalregierung. Doch darf die Entscheidung über die vollständige organisatorische Selbständigkeit der Kommunistischen Partei, d. h. über ihren Austritt aus der Guomindang, keinen einzigen Tag mehr hinausgeschoben werden. Ohnedies haben wir uns schon schrecklich verspätet. Die Kommunisten können nur dann mit der Guomindang eine einheitliche Regierung bilden, wenn die beiden Parteien, die den politischen Block bilden, ihre völlige Selbständigkeit wahren. So war es bei uns mit den linken Sozialrevolutionären. Das hat auch Wladimir Iljitsch von den ungarischen Kommunisten verlangt, denen er vorwarf, sie hätten sich auf eine Verschmelzung der Parteien eingelassen, was übrigens auch einer der Gründe für den raschen Untergang der ungarischen Revolution war.

Kann man weiterhin mit dem Sunyatsenismus kokettieren, der für das chinesische Proletariat zu einer ideologischen Fessel wird und morgen (eigentlich schon heute) zur Hauptwaffe der chinesischen bürgerlichen Reaktion? Ich halte diese Art von Koketterie für ein Verbrechen. Aber um die Nabelschnur zum Sunyatsenismus zu durchschneiden, braucht man jemanden, der schneidet: Es bedarf einer selbständigen Kommunistischen Partei. Dazu muss ohne Zweifel in der Kommunistischen Partei eine revolutionäre Ausmusterung vorgenommen werden, d. h. die Partei muss nicht in Worten, sondern in Taten bolschewisiert werden.

Die menschewistische Politik kann auf gar keinen Fall mit einem Hinweis auf die nationale Unterdrückung gerechtfertigt werden. Vor allem muss man daran erinnern, dass die gesamte Zweite Internationale (Jaurès, Vandervelde u.a.), als sie das Zusammengehen der Bolschewiki nicht nur mit den Menschewiki, sondern auch mit den Sozialrevolutionären forderte, von der zaristischen Unterdrückung ausgegangen ist. Als ob der Kampf gegen den Zarismus oder gegen das nationale Joch nicht auch Klassenkampf wäre! In Georgien, Finnland, Lettland usw. bedeutete das Joch des Zarismus die schrecklichste nationale Unterdrückung, die die englische oder gar die japanische in China noch bei weitem übertraf. Daraus folgte jedoch keineswegs, dass die Georgier, Finnen oder Letten auf den Aufbau einer selbständigen Partei hätten verzichten müssen.

Mir scheint, dass man in der einen oder anderen Form diese Frage erneut vor das Politbüro bringen muss. Natürlich besteht die Gefahr, dass man, statt diese Frage im ZK ernsthaft zu diskutieren, einen Fraktionsstreit daraus macht. Aber kann man schweigen, wenn es buchstäblich um den Kopf des chinesischen Proletariats geht?

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