Leo Trotzki 19400500 Das Tanaka-Memorandum

Leo Trotzki: Das Tanaka-Memorandum

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 953-970, dort mit umfangreichen Fußnoten]

In der amerikanischen Presse gilt das Tanaka-Memorandum bis jetzt als ein dubioses Dokument.

Am 23. April 1940 hat Konteradmiral Taussig in seinem äußerst interessanten Vortrag vor dem Senatsausschuss für Marineangelegenheiten auf das Tanaka-Memorandum verwiesen. Von seinem eigenen Ministerium wurde der Konteradmiral desavouiert. Ich möchte auf diese Kontroverse nicht eingehen. Ich glaube, dass Konteradmiral Taussig schon wusste, warum er sprach, und dass das Marineministerium eigene Gründe hatte, seine Aussagen zu dementieren und ihn zu desavouieren. Möglich, dass diese Desavouierung für den Konteradmiral keine Überraschung war. Aber das interessiert mich, wie gesagt, nicht. Soweit ich dies beurteilen kann, ist Konteradmiral Taussig einer der besten Kenner der Sitten, der Aufgaben und der Politik im Fernen Osten. Er hat keinen Zweifel an der Echtheit des Tanaka-Memorandums.

Hingegen hält es die New York Times in ihrem Bericht über die erwähnte Sitzung der Senatskommission für nötig, ihre Leser erneut darauf hinzuweisen, dass »das sogenannte Tanaka-Memorandum von den Japanern nachdrücklich für eine chinesische Fälschung erklärt wurde«. So ist also das Memorandum auch heute, etwa sechzehn Jahre nach seiner Veröffentlichung, immer noch ein verdächtiges und umstrittenes Dokument.

Das Tanaka-Memorandum ist keine Fälschung. Das zeigt sich schon bei der aufmerksamen Analyse des Inhalts und des Textes. Überdies verfügt der Autor dieser Zeilen über Angaben, die die Authentizität des Tanaka-Memorandums glaubwürdig und zweifelsfrei bezeugen.

Die innere Glaubwürdigkeit des Dokuments

Um eine derart komplizierte Fälschung mit so tiefem Verständnis für die objektive Situation und die politische Psychologie der herrschenden Kreise Japans anzufertigen, hätte es schon eines genialen Fälschers bedurft. Aber Genies beschäftigen sich im Allgemeinen nicht mit Fälschungen, sie widmen ihre Fähigkeiten anderen Aufgaben. Während des letzten Krieges und in den unmittelbar auf ihn folgenden Jahren war in der Tat kein Mangel an Fälschungen. Man braucht nur an die berüchtigten Sisson-Dokumente über die Sowjetrepublik zu erinnern. In der Regel, ich kenne keine Ausnahme, sind solche Dokumente äußerst plump gemacht. Sie verraten bedeutend mehr über die Psychologie der Fälscher oder der Kreise, die sie im Blick haben, als über die jener Personen oder Gruppen, denen die Fälschungen unterschoben werden. Wenn solchen Dokumenten Vertrauen entgegengebracht wird, dann nur in Unkenntnis des Milieus, dem sie angeblich entstammen. Für die Weltöffentlichkeit bestand die Sowjetregierung aus völlig unbekannten Personen. Es war also leicht, ihnen beliebige Ziele zuzuschreiben und diese Ziele in einer beliebigen Sprache auszudrücken.

Anders verhält es sich mit der kaiserlichen Regierung in Japan. Hier handelt es sich um ein altes, traditionsreiches Milieu. Wer die Entwicklung der japanischen Politik aufmerksam verfolgt hat, wird erkennen müssen, dass das Dokument diesem Milieu mit seinem zynischen Realismus und mit dem kalten Fanatismus der herrschenden Kaste entstammt. Das Dokument ist glaubwürdig, der Text in sich stimmig. Der Inhalt überzeugt, denn er spricht für sich selbst.

Japan ist heute das schwächste Glied der imperialistischen Kette. Sein finanzieller und militärischer Überbau beruht auf dem Fundament einer halb feudalen agrarischen Barbarei. Periodische Ausbrüche von Gewalt innerhalb der japanischen Armee spiegeln nur die unerträgliche Spannung der sozialen Gegensätze im Lande wider. Das ganze Regime kann sich nur vermöge der Dynamik militärischer Eroberungen halten. Das Tanaka-Memorandum liefert die programmatische Grundlage für solche Eroberungen.

Soweit ich mich erinnere, basiert das Memorandum auf dem Testament des Kaisers Meiji. Natürlich ist das Testament selbst eine Fiktion. Aber die japanische Aggression ist mit Traditionalismus verwoben. Die japanischen Imperialisten bauen eine gewaltige Flotte neuesten Typs, ziehen es aber vor, für ihre Handlungen Rückhalt bei der nationalen Tradition zu suchen. So wie Priester ihre Weissagungen und Wünsche Gottheiten in den Mund legen, so geben die Imperialisten ihre – sehr modernen – Pläne und Machenschaften für den Willen der augusteischen Vorfahren des herrschenden Kaisers aus. So hat auch Tanaka die imperialistischen Aspirationen der herrschenden Cliquen durch den Verweis auf ein nicht existierendes Testament des Kaisers zu legitimieren gesucht.

Das Dokument ist natürlich dem Kopf des Barons Tanaka nicht in fertiger Form entsprungen. Es ist eine Verallgemeinerung jener Pläne, die die Führer von Armee und Flotte entworfen haben, in gewissem Sinne ein Kompromiss und eine theoretische Zusammenfassung dieser Pläne. Man muss annehmen, dass dem endgültigen Text zahlreiche Varianten vorausgegangen sind und dass ausführliche Erörterungen in engsten, »nicht offiziellen«, aber desto einflussreicheren Kreisen stattgefunden haben. Die Aufgabe bestand darin, diesen Bestrebungen der Kreise von Militär und Flotte den Stempel des kaiserlichen Willens aufzudrücken. Der alte Kaiser war in einer solchen körperlichen und geistigen Verfassung, dass seine Unterschrift für Eingeweihte keine Autorität mehr haben konnte. Deshalb warteten die imperialistischen Verschwörer den Regierungsantritt von Kaiser Hirohito ab, um ihm das Dokument zur Unterschrift vorzulegen, das seine endgültige Formulierung allen Anzeichen nach unter Federführung des Generals Tanaka erhalten hatte.

Wieso ich die Authentizität bezeugen kann

Von diesen allgemeinen Überlegungen abgesehen, kann der Autor dieser Zeilen folgende Tatsachen bezeugen. Das Dokument wurde zuerst in Tokio im Marineministerium fotografiert und als unentwickelter Film nach Moskau gebracht. Der Verfasser dieser Zeilen war möglicherweise der erste, der sich in einer englischen und russischen Übersetzung des japanischen Originals mit dem Dokument bekannt machte.

Die Beziehungen zu Japan waren in dieser Periode für die sowjetische Außenpolitik äußerst besorgniserregend. Der Ferne Osten war schlecht gesichert. Noch schlechter stand es um den Schutz der Ostchinesischen Eisenbahn. Von ihrem Verkauf an die Japaner war damals noch keine Rede. Nicht so sehr, weil Moskau sie nicht verkaufen wollte, sondern vor allem deshalb, weil Tokio nicht geneigt war zu kaufen: Es wollte sie sich kostenlos aneignen.

Moskau schlug Tokio damals hartnäckig vor, einen gegenseitigen Nichtangriffspakt abzuschließen. Tokio wich diplomatisch aus unter dem Vorwand, die Zeit sei für einen solchen Vertrag noch nicht reif. Damals hatten Verträge noch einen gewissen Anschein von Seriosität. Nur wenige Jahre später wurde es zur Regel, dass ein gegenseitiger Nichtangriffspakt der beste Auftakt zu einer militärischen Invasion war. Jedenfalls zog Japan es in jenen Tagen vor auszuweichen.

Moskau ließ den Fernen Osten nicht aus den Augen. Zum einen sorgten die japanischen Absichten für eine ständige Beunruhigung. Zum andern wuchs die chinesische Revolution der Jahre 1925-1927 heran. Mit der chinesischen Revolution waren große Hoffnungen auch im Hinblick auf die Sicherheit der sowjetischen Besitzungen im Fernen Osten und der Ostchinesischen Eisenbahn verbunden. Der Verfasser dieser Zeilen gehörte nicht zu denen in der Regierung, die es für nötig hielten, den Japanern die Ostchinesische Eisenbahn zu übergeben, sobald es ihnen gelungen wäre, die Mandschurei unter ihre Kontrolle zu bringen.

Andererseits gab es natürlich im Voraus keinerlei Garantien – weder für die Fristen der chinesischen Revolution noch für ihren Erfolg. Mit dem japanischen Imperialismus musste man rechnen wie mit einem Faktum, einem äußerst handgreiflichen und aggressiven. Die chinesische Revolution war hingegen eine Frage der Zukunft. So war es ganz natürlich, dass der sowjetische Nachrichtendienst mit seinen beiden Zweigen – dem militärischen wie dem der GPU – den Auftrag hatte, aufmerksam jeden Schritt Japans auf diplomatischer wie militärischer Ebene zu verfolgen.

Die militärische Nachrichtenbeschaffung fiel unter zweierlei Zuständigkeit: die des Kriegsministeriums und die der GPU. An der Spitze der Auslandsabteilung der GPU stand damals der alte Bolschewik Trilisser, der später abgesetzt und offenbar mit vielen anderen zusammen liquidiert wurde. An der Spitze des militärischen Nachrichtendienstes stand Bersin, ein lettischer Altbolschewik. Mit der Organisation unseres Agentennetzes in Japan war ich nicht näher vertraut, da ich mich wenig für die technische Seite der Angelegenheit interessierte und das meinen Mitarbeitern überließ: zuerst Skijanski, dann Unschlicht und bis zu einem gewissen Grade Rosengolz.

Ich möchte daran erinnern, dass Skijanski, einer der angesehensten und verdienstvollsten Organisatoren der Roten Armee, 1924 oder 1925 in Amerika während einer Bootsfahrt auf einem See ertrank. Unschlicht verschwand und wurde offensichtlich liquidiert. Rosengolz wurde von einem Gericht verurteilt und erschossen.

Fragen, die mit dem Nachrichtendienst zu tun hatten, gelangten so nur in Ausnahmefällen bis zu mir, nämlich dann, wenn es sich um Fragen von großer militärischer oder politischer Bedeutung handelte. So war es auch diesmal.

Frühe sowjetische Vorteile bei der Nachrichtenbeschaffung

Die Erfolge, deren sich die sowjetische Auslandsaufklärung in jener Periode rühmen konnte, kamen nicht von ungefähr. Der Partei standen nicht wenige Menschen zur Verfügung, die eine ernsthafte konspirative Schule durchlaufen hatten und mit allen Methoden und Kniffen von Polizei und Geheimdienst vertraut waren. Sie brachten internationale Erfahrungen für ihre Arbeit mit – viele von ihnen waren in verschiedenen Ländern Emigranten gewesen – und einen breiten politischen Horizont. In vielen Ländern hatten sie persönliche Freunde. Es mangelte nicht an selbstloser Unterstützung von Seiten revolutionärer Elemente in den verschiedenen Ländern. Das untere Personal zahlreicher staatlicher Institutionen in den kapitalistischen Ländern sympathisierte in erheblichem Maße mit der Oktoberrevolution. Wenn man wusste wie, konnte man diese Sympathie im Interesse der Sowjetmacht nutzen. Und sie wurde genutzt.

Das Netz der ausländischen Agenten war noch schwach entwickelt, durchaus lückenhaft, aber dafür brachten einzelne glückliche Verbindungen manchmal überraschende und bemerkenswerte Resultate.

Dserschinski, der damalige Chef der GPU, sprach auf Sitzungen des Politbüros mehr als einmal mit Genugtuung von den außerordentlichen Informationsquellen, über die er in Japan verfüge.

Es muss gesagt werden, dass bei aller Verschlossenheit der Japaner und ihrer Fähigkeit, Geheimnisse zu wahren – die sich aus den spezifischen Bedingungen ihres nationalen Milieus und aus der Unzugänglichkeit der japanischen Sprache für die Mehrheit der Ausländer ergibt –, diese Fähigkeit gleichwohl keine absolute ist. Die Zersetzung des alten Systems drückt sich nicht nur darin aus, dass junge Offiziere und Beamte immer mal wieder ihnen missliebige Minister erschießen, sondern auch darin, dass andere, weniger patriotisch gesinnte Offiziere und Beamte, die der spartanischen Sitten müde sind, Nebeneinkünfte suchen. Mir sind Fälle höherer japanischer Beamter in japanischen Konsulaten in Europa bekannt, die für eine relativ bescheidene Summe wichtige Geheimnisse preisgaben.

Dserschinski, der damalige Chef der GPU, wurde nach dem Tode Lenins ins Politbüro gebracht. Damit wollten Stalin, Sinowjew und Kamenjew den ehrlichen, aber sehr eitlen Dserschinski auf ihre Seite ziehen. Darin hatten sie vollen Erfolg.

Dserschinski war sehr gesprächig, hitzig und aufbrausend. Bei diesem Menschen mit eisernem Charakter, der die Katorga durchgemacht hatte, gab es ganz kindliche Züge. Auf einer Sitzung des Politbüros brüstete er sich einmal damit, dass er hoffe, Boris Sawinkow bald auf sowjetisches Territorium zu locken und ihn zu verhaften. Ich reagierte darauf sehr skeptisch. Aber Dserschinski behielt recht. Sawinkow wurde durch Agenten der GPU auf sowjetisches Territorium gelockt und verhaftet. Kurze Zeit darauf sagte Dserschinski, er hoffe, sich auf die gleiche Weise Wrangels zu bemächtigen. Diese Hoffnung hat sich jedoch nicht erfüllt. Wrangel war vorsichtiger.

Nicht selten hat sich Dserschinski, ohne auf technische Einzelheiten einzugehen – nach denen ihn auch niemand fragte –, mit den Erfolgen unserer Auslandsaufklärung gebrüstet, insbesondere in Japan.

Eines Tages, im Sommer oder Anfang Herbst 1925, teilte Dserschinski in großer Erregung mit, dass er aus Japan ein Dokument von außerordentlicher Bedeutung erwarte. Schon dieses Dokument allein, so sagte er begeistert, sei in der Lage, internationale Umwälzungen, Ereignisse von gewaltiger Bedeutung, einen Krieg zwischen Japan und den Vereinigten Staaten usw. hervorzurufen. Wie stets in solchen Fällen blieb ich skeptisch.

»Kriege werden nicht durch Dokumente hervorgerufen«, entgegnete ich. Aber er bestand darauf: »Sie haben keinen Begriff von der Bedeutung dieses Dokuments; das ist das vom Mikado höchstpersönlich gutgeheißene Programm der herrschenden Kreise, es umfasst die Eroberung Chinas, die Zerschlagung der Vereinigten Staaten und die Herrschaft über die ganze Welt.«

Ich fragte: »Hat man da nicht Ihren Agenten betrogen? Solche Dokumente schreibt gewöhnlich niemand. Warum sollten solche Pläne zu Papier gebracht werden?«

Hier war Dserschinski selbst nicht ganz sicher. »Dort wird alles im Namen des Kaisers gemacht«, sagte er, als versuche er, seine eigenen Zweifel zu zerstreuen. »Die Militärs und die Diplomaten haben sich bemüht, das Interesse des Mikado für eine gigantische Perspektive zu wecken, die sie auch selbst für ihre politischen Abenteuer benötigen, um riskante Schritte, eine riskante Politik und gigantische Ausgaben für Militär und Kriegsmarine zu rechtfertigen. Deshalb hat Tanaka die Pläne dieser Militärkreise dem Kaiser in einem Sonderbericht erläutert, und dieser Bericht hat die Zustimmung des Mikado erhalten. Wir werden eine Ablichtung des Dokuments direkt aus den Archiven des Außenministeriums erhalten.«

Wie das Dokument beschafft wurde

Ich erinnere mich, dass Dserschinski eine Summe nannte, die man für die Ablichtung zahlen müsse. Sie war relativ bescheiden, so etwa um dreitausend amerikanische Dollar.

Von Dserschinski wusste ich, dass sich die GPU der Dienste eines Beamten bediente, der großes Vertrauen genoss und unmittelbaren Zugang zum Geheimarchiv des japanischen Außenministeriums besaß. Er hatte bereits mehr als ein Jahr lang sehr wertvolle Informationen geliefert und sich durch große Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit bei der Erledigung seiner Aufgaben als ausländischer Spion hervorgetan. Er kannte das Archiv und die jeweilige Bedeutung der verschiedenen Dokumente gut. Dieser Beamte hatte vorgeschlagen, das Dokument abzuschreiben, aber der GPU-Beauftragte verlangte auf Weisung Moskaus Ablichtungen. Das war viel schwieriger. Man musste entweder einen Techniker der GPU in das Gebäude des Außenministeriums einschleusen oder dem Beamten die Kunst der Photographie beibringen. Diese technischen Probleme führten dazu, dass sich das Eintreffen des Dokuments hinauszögerte. Jede Seite wurde mehrfach abgelichtet und die Aufnahmen sogleich als Film auf zwei oder drei verschiedenen Routen abgeschickt. Alle kamen sicher in Moskau an.

Ich muss gestehen, ich kann mich jetzt nicht mehr erinnern – möglich, dass ich mich damals nicht dafür interessierte –, ob der japanische Agent einer der Freiwilligen war, die dem neuen Sowjetregime aufrichtig ergeben waren, ob er ein bezahlter Agent war, oder zu jenem Typ gehörte, der eine Kombination von beidem darstellt. Dieser Typ war wohl der verbreitetste. In Japan war die Zahl der Sympathisanten sehr begrenzt.

»Das Dokument ist da«, verkündete Dserschinski fröhlich. Wo war es? Es war als Film gekommen, der sogleich entwickelt wurde. Das Entwickeln verlief erfolgreich, und das Dokument wurde sofort von unseren Japan-Experten übersetzt. Sie waren alle vom Inhalt der ersten Seiten verblüfft. Trilisser (vielleicht war es Unschlicht?) sollte mir Bericht geben.

Als Leiter des Kriegskommissariats lagen mir die Fragen des Fernen Ostens natürlich nahe. Aber ich hatte noch eine weitere Beziehung dazu. In der ersten Phase der Sowjetmacht, in ihren ersten Monaten bis zum Februar 1918, stand ich an der Spitze des Volkskommissariats für Äußeres. Der aus England gekommene Tschitscherin, den wir gegen verhaftete Engländer ausgetauscht hatten, wurde mein Stellvertreter.

Als ich in das Kriegskommissariat überwechselte, wurde Tschitscherin, der mit seinen Aufgaben sehr gut zurechtgekommen war, auf meinen Antrag an den Rat der Volkskommissare und das Zentralexekutivkomitee der Sowjets zum Volkskommissar für Äußeres ernannt. Als Mitglied des Politbüros arbeitete ich häufig mit ihm zusammen die wichtigsten diplomatischen Dokumente aus. Andererseits wandte ich mich in all den Fällen, in denen ich während des Bürgerkriegs die Hilfe der Diplomatie brauchte, direkt an Tschitscherin.

1923 machte die »Troika« (Sinowjew, Kamenjew, Stalin) den Versuch, mir jede Aufsicht über die auswärtige Politik zu nehmen. Formal wurde diese Funktion Sinowjew übergeben. Gleichwohl blieben die alten Beziehungen und, man könnte sagen, die alte inoffizielle Hierarchie weiterhin bestehen. Noch im Jahre 1925, als ich das Kriegskommissariat bereits verlassen hatte und das bescheidene Konzessionskomitee leitete, wurde ich als Mitglied des Politbüros zum Leiter der Kommission für die Angelegenheiten des Fernen Ostens, Japans und Chinas bestellt. Mitglieder der Kommission waren u. a. Tschitscherin, Woroschilow, Krassin und Rudsutak.

Stalin hütete sich damals noch, sich aufs Glatteis der internationalen Politik zu begeben. Meistens hörte er zu und schaute sich um, legte seine Meinung dar oder gab bloß seine Stimme ab, nachdem andere sich geäußert hatten.

Sinowjew, der formal für die Diplomatie verantwortlich war, hatte die allen bekannte Neigung, in Panik zu geraten, sobald die Situation schwierig wurde. All das erklärt hinreichend, warum das aus Tokio bezogene Dokument unmittelbar an mich weitergegeben wurde.

Wir untersuchen das Dokument

Ich muss gestehen, dass ich über die gewaltige Dimension des Vorhabens und das kalte und unbarmherzige Sendungsbewusstsein der Bürokraten-Clique des Mikado verblüfft war. Der Text des Dokuments rief bei mir jedoch nicht den geringsten Zweifel hervor – nicht nur, weil ich die Geschichte des Dokuments kannte, sondern auch wegen seiner Stichhaltigkeit.

Nehmen wir einmal an, die Chinesen hätten einen idealen Fälscher gefunden, der dieses Dokument fabrizierte: Dann bleibt doch die Frage, wie die chinesische Fälschung als geheimes Dokument in das japanische Außenministerium gelangen konnte. Hat das Außenministerium selbst dafür gesorgt, dass das gefälschte chinesische Dokument übergeben wurde, und es als ein echtes japanisches Dokument ausgegeben? Eine solche Annahme ist völlig phantastisch. Die Japaner konnten nicht das geringste Interesse daran haben, dieses Dokument zu verbreiten und es als glaubhaft erscheinen zu lassen. Das haben sie am überzeugendsten dadurch bewiesen, dass sie es unmittelbar nach seiner Veröffentlichung als Fälschung anprangerten.

Die Entwicklung der Filme und die sofortige Übersetzung des Textes erfolgten im Gebäude des Nachrichtendienstes; Filme und Übersetzung wurden dem Kreml sofort zugestellt. Die Abzüge waren noch feucht und die Übersetzung befand sich noch im Rohzustand. Sie bedurfte noch vieler Korrekturen.

Haben sich die anderen Mitglieder des Politbüros gleichzeitig oder kurz nach mir mit dem Dokument vertraut gemacht? Daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Jedenfalls waren zum Zeitpunkt der Sitzung des Politbüros bereits alle Mitglieder mit dem Dokument bekannt. Auch wenn in dieser Zeit die persönlichen Beziehungen bereits sehr gespannt waren, bewirkte das Dokument doch, dass alle Mitglieder des Politbüros, wenn auch nur vorübergehend, etwas zusammenrückten. Wichtigstes Thema der Vordiskussion war natürlich die Gier der Japaner. Darüber wurde mit Bestürzung und einen Anflug von Bewunderung gesprochen, angesichts dieses Größenwahns, in dem sich Mystizismus und Zynismus bestens ergänzten.

»Aber ist dies nicht nur eine Dichtung, eine Fälschung?« So fragte Bucharin, der bei all seiner kindlichen Leichtgläubigkeit bei günstiger Gelegenheit die Rolle eines vorsichtigen Staatsmannes zu spielen liebte. Dserschinski brauste, wie stets, auf.

»Ich habe Ihnen bereits erklärt«, sagte er mit seinem polnischen Akzent, der immer dann stärker wurde, wenn er sich ereiferte, »dass dieses Dokument von unserem Agenten übermittelt wurde, der seine völlige Zuverlässigkeit unter Beweis gestellt hat. Das Dokument befand sich in der geheimsten Abteilung des Archivs des Marineministeriums. Unser Agent hat unseren Photographen dort hineingeführt. Er selbst konnte nicht mit einer Kamera umgehen. Glauben Sie vielleicht, die japanischen Admiräle hätten selbst ein gefälschtes Dokument in ihr Geheimarchiv gelegt? Im Marineministerium gab es anfangs keine Kopie dieses Dokuments. Ursprünglich wurde es nur im kaiserlichen Privatarchiv aufbewahrt, und eine Kopie lag im Außenministerium. Dann verlangten das Heeresministerium und das Marineministerium Kopien für sich. Unser Agent wusste genau, wann eine Kopie aus dem Außenministerium eintreffen würde. Sie wurde unter außerordentlichen Vorsichtsmaßnahmen zugestellt. Nur dank der Tatsache, dass schließlich eine Kopie ins Archiv des Marineministeriums gelangte, konnte unser Agent an sie herankommen. Glauben Sie etwa, das alles wurde speziell zum Zweck der Täuschung getan?«

Was mich angeht, so habe ich – ich wiederhole es – an der Echtheit des Dokuments allein schon aufgrund seiner inneren Stimmigkeit nicht gezweifelt. »Wenn man einen Augenblick annimmt«, sagte ich, »dass dieses Dokument eine Fälschung ist, dann müsste man auch davon ausgehen, dass diese Fälschung von den Japanern selbst fabriziert worden ist. Zu welchem Zweck? Um es uns für zwei- bis dreitausend Dollar zu verkaufen? Um die Kasse des Marineministeriums um dreitausend Dollar zu bereichern? Oder wollen sie uns auf diese Weise provozieren, erschrecken? Aber wir wissen ohnehin von ihren Gelüsten, wenn auch nicht in diesem Umfang. Sie wissen, dass wir trotz einer ganzen Serie von Provokationen alles tun, um einem Konflikt auszuweichen. Ein solches programmatisches Dokument könnte überhaupt nichts an unserer Politik ändern.«

Die Diskussion zu diesem Thema wurde bald beendet. Die damaligen Begleitumstände und technischen Einzelheiten, die mir natürlich nicht alle im Gedächtnis geblieben sind, ließen keinerlei Raum für Zweifel an der Authentizität des Dokuments.

Was macht man mit dem Memorandum?

Es entstand die Frage, was man mit dem Dokument anfangen solle. Wir hatten einen Sprengsatz von großer Explosivkraft in den Händen. Natürlich bestand die Gefahr, sich selbst damit in die Luft zu sprengen. Das Dokument in der sowjetischen Presse zu publizieren, war in keiner Hinsicht ratsam. Zunächst hätte dies den japanischen Behörden offenbart, dass unser Geheimdienst über einen Agenten von außerordentlichem Wert verfügte. Dserschinski wäre damit auf keinen Fall einverstanden gewesen. Noch wichtiger waren Erwägungen politischen Charakters. Japans Pläne waren auf eine Reihe von Jahrzehnten berechnet. Dem Kreml ging es darum, einige Jahre oder sogar nur einige Monate zu gewinnen. Mit den Japanern gingen wir höchst behutsam um. Wir machten sehr große Zugeständnisse. Der klügste, vorsichtigste und behutsamste unserer Diplomaten, Joffe, war in Japan tätig. Das Dokument in Moskau zu veröffentlichen, hätte geheißen, den Japanern offen zu sagen, dass wir den Konflikt suchten. Das hätte sofort den kriegerischsten Elementen in Armee und Marine das Übergewicht gegeben. Japan durch die Veröffentlichung des Dokuments, dem man zudem im Ausland nicht unbedingt Glauben schenken würde, zu provozieren, war ganz und gar unvernünftig.

Sinowjew schlug zunächst vor, das Dokument in der Zeitschrift Die Kommunistische Internationale zu veröffentlichen: Bei einem solchen Vorgehen würde die Regierung immerhin aus dem Spiel bleiben. Aber davon wollte niemand etwas wissen, und Sinowjew bestand auch nicht auf seinem voreilig gemachten Vorschlag.

Ich trug einen Plan vor, den ich bereits vor der Politbürositzung ausgearbeitet hatte. Man müsse das Dokument im Ausland veröffentlichen (und dabei vermeiden, dass es mit Moskau in Verbindung gebracht würde), ohne seine Wirkung abzuschwächen, ohne Misstrauen zu erregen und ohne die GPU-Agenten in Japan zu kompromittieren. Aber wo? Der Ort der Veröffentlichung drängte sich förmlich von selbst auf: die Vereinigten Staaten. Ich schlug vor, das Dokument ins Englische zu übersetzen und es durch einen vertrauenswürdigen und angesehenen Freund der Sowjetrepublik in den Vereinigten Staaten der Presse zukommen zu lassen. »Freund der UdSSR« war damals noch keine Berufsbezeichnung. Die Zahl der Freunde war nicht groß, angesehene und einflußreiche Persönlichkeiten gab es ganz wenige. Die Aufgabe erwies sich jedenfalls als bedeutend schwieriger, als ich gedacht hatte.

Wir glaubten, man würde uns das Dokument aus den Händen reißen, und Dserschinski hoffte, er würde seine Ausgaben für unsere japanischen Agenten leicht zurückerhalten. In Wirklichkeit kam es dann aber ganz anders. Es war nicht leicht, eine glaubwürdige Version für die Art und Weise zu präsentieren, wie man an das Dokument aus Tokio gekommen sei. Jeder Hinweis auf die wirkliche Quelle – die GPU – hätte zusätzliches Misstrauen hervorgerufen. In Amerika wäre natürlich der Verdacht aufgekommen, die GPU selbst habe das Dokument fabriziert, um die Beziehungen zwischen Japan und den Vereinigten Staaten zu vergiften.

Die englische Übersetzung des Dokuments wurde mit aller nur möglichen Sorgfalt in Moskau angefertigt. Die Ablichtungen wurden mit dem englischen Text nach New York geschickt. Auf diese Weise wurde jede Spur einer Verbindung des Dokuments mit Moskau beseitigt.

Wir sollten nicht vergessen, dass dies unter der Regierung des Präsidenten Coolidge und des Außenministers Hughes stattfand, d. h. einer Administration, die sich gegenüber der Sowjetunion äußerst feindlich verhielt. Man hatte allen Grund zu der Befürchtung, dass feindselige Experten das Dokument einfach als ein Moskauer Machwerk deklarieren könnten. Es ist eine Tatsache, dass gefälschte Dokumente zuweilen als echt anerkannt werden und authentische nicht selten als Fälschungen.

Soweit ich weiß, gab es in der amerikanischen Presse keinerlei Hinweis auf Moskau als die Drehscheibe, über die das Dokument von Tokio nach New York gelangt war. Doch war dabei von Seiten Moskaus keinerlei »Arglist« im Spiel, wenn man nicht schon die Beschaffung eines Dokuments aus dem Geheimarchiv eines befeindeten Staates für arglistig hält. Wir hatten einfach keine andere Möglichkeit, das Dokument der internationalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, als es in der amerikanischen Presse ohne Angabe der Quelle zu veröffentlichen, oder, genauer gesagt, als die eigentliche Quelle soweit wie möglich zu verdecken.

Die Sowjetrepublik hatte in jenen Jahren in den Vereinigten Staaten noch keine eigene diplomatische Vertretung. An der Spitze der Amtorg stand der Ingenieur Bogdanow. Er und seine heutzutage besser bekannten und einflussreicheren Mitarbeiter übernahmen alle Arten von diplomatischen Aufträgen. Wer von ihnen beauftragt wurde, eine kompetente Person unter den Amerikanern ausfindig zu machen und über sie das Dokument in Umlauf zu bringen, weiß ich jetzt nicht mehr. Jedenfalls wäre es nicht schwer, dies festzustellen, weil das Dokument zweifellos den einflussreichsten Publikationsorganen in der Reihenfolge ihrer Bedeutung angeboten wurde.

Einigen Hinweisen zufolge ist das Tanaka-Memorandum vom Mikado im Juli 1927 unterzeichnet worden. In diesem Fall ist es offensichtlich, dass das Dokument vor der Unterzeichnung durch den Mikado nach Moskau gelangte. Das Dokument war, wie bereits gesagt, Gegenstand von Beratungen, die im engsten Kreise der Spitzen von Armee, Flotte und Diplomatie angestellt worden waren. Gerade in dieser Zeit musste es den interessierten Ministerien zugänglich gemacht werden. Tanaka wurde im April 1927 Premierminister. Es ist gut möglich, dass er den Posten des Premierministers gerade deshalb bekommen hat, weil er es auf sich nahm, dieses Programm des extremen Flügels der Militaristen und Imperialisten durch den Kaiser sanktionieren zu lassen.

Warum haben die japanischen Behörden das Tanaka-Memorandum als chinesische Fälschung deklariert? Sie wussten offenbar nicht, dass Moskau an der Veröffentlichung beteiligt war. Die Tatsache, dass das Dokument nicht in der sowjetischen, sondern in der amerikanischen Presse erschien, brachte sie natürlich auf den Gedanken, dass das Dokument auf irgendeinem Wege in die Hände der Chinesen geraten war, die es dann rasch an die Vereinigten Staaten weitergegeben hätten.

Warum schweigt der Kreml?

Es ist schwer zu verstehen, warum Moskau, das in dieser Angelegenheit am besten informiert ist, zum Tanaka-Memorandum hartnäckig schweigt. Die erste Ablichtung erhielt Moskau unter Umständen, die jeglichen Zweifel an der Echtheit des Dokuments ausschlossen. Von Moskau, vom Kreml aus wurde das bemerkenswerte Dokument ins Ausland, eben in die Vereinigten Staaten geschickt. Die Authentizität des Dokuments wird seltsamerweise selbst heute noch bezweifelt. Moskau schweigt. Nun hatte Moskau seinerzeit Grund genug, seine Beteiligung an der Veröffentlichung und Bekanntmachung des Tanaka-Memorandums zu verbergen. Die wichtigste Erwägung war, Tokio nicht zu provozieren. Gerade daraus erklärt sich der Umweg, den der Kreml damals einschlug, um das Dokument an die Öffentlichkeit zu bringen. Aber in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten hat sich die Lage radikal geändert. In Moskau weiß man gut, dass die technischen Umstände, die Gründe der Konspirativität, die uns damals dazu zwangen, die Informationsquelle geheim zuhalten, längst nicht mehr bestehen: Die in die Angelegenheit verwickelten Leute wurden abgelöst (die meisten wurden erschossen), die Methoden geändert. Die Flucht des Generals Ljuschkow, eines hohen GPU-Agenten, nach Japan markiert eine Scheidelinie zwischen zwei Perioden der Arbeit des Nachrichtendienstes. Selbst wenn Ljuschkow seine ehemaligen Agenten nicht an die Japaner verraten hat (aber sein Verhalten zwingt uns zu der Annahme, dass er alles, was er wusste, verriet), muss Moskau angesichts der von Ljuschkow ausgehenden Gefahr schon längst alle Agenten in größter Eile entfernt und die Verbindungen erneuert haben. So ist das Schweigen des Kreml in jeder Hinsicht ganz unerklärlich.

Man muss davon ausgehen, dass hier jene übertriebene Vorsicht waltet, die Stalin häufig dazu führt, ob zweitrangiger, kleinlicher Erwägungen Wichtiges nicht zu beachten.

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Moskau auch diesmal Tokio im Hinblick auf die laufenden Verhandlungen und in der Hoffnung auf ein dauerhaftes und längerfristiges Abkommen keine Unannehmlichkeiten bereiten möchte. Alle diese Erwägungen treten jedoch ganz in den Hintergrund, da der Weltkrieg immer weitere Kreise zieht und Japan im Fernen Osten nur einen günstigen Augenblick abwartet, um den nächsten Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung des Tanaka-Memorandums zu tun.

Ich frage mich, warum ich nicht früher über diese Episode berichtet habe, die Licht auf eines der wichtigsten politischen Dokumente der neueren Geschichte wirft. Wohl deshalb, weil sich keine Gelegenheit dazu bot. Zwischen der Sitzung des Politbüros im Jahr 1925, auf der die Frage des Tanaka-Dokuments zum ersten Mal aufkam, und der Zeit, wo ich mich im Exil befand und die Möglichkeit erhielt, das internationale Leben genauer zu verfolgen, lagen Jahre des außerordentlich heftigen inneren Kampfes, der Verhaftung, der Verbannung nach Zentralasien, dann der Türkei. Das Tanaka-Dokument war tief in meinem Gedächtnis versunken.

Die weitere Entwicklung der Ereignisse im Fernen Osten in den letzten Jahren hat das Programm Tanakas in einem solchen Grade bestätigt, dass jegliche Zweifel an der Echtheit des Dokuments ausgeschlossen sind.

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