Leo Trotzki 19300918 Zu einer Erklärung indochinesischer Oppositioneller

Leo Trotzki: Zu einer Erklärung indochinesischer Oppositioneller

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 698-702, dort mit Fußnoten]

Soweit ich das bei meiner ganz unzureichenden Kenntnis der Verhältnisse in Indochina beurteilen kann, werden in der Erklärung die Aufgaben der indochinesischen Kommunisten in den Grundzügen richtig dargestellt. Die nachstehenden Bemerkungen dienen nur der Ergänzung und Präzisierung und dazu, mögliche Missverständnisse auszuräumen.

1. In Bezug auf die Agrarfrage muss klarer, vollständiger und genauer ausgeführt werden, welche Rolle die halb feudalen Landeigentümer und Großgrundbesitzer überhaupt spielen, welche Bedeutung sie haben. Über welchen Bodenfonds könnte die Revolution verfügen, wenn sie die Großgrundbesitzer zugunsten der ärmsten Bauern enteignete? Die Bauernfrage ist in der Erklärung ganz ausgespart.

Ohne Beseitigung des kolonialen Jochs ist die Enteignung der großen und mittleren Landbesitzer nicht möglich. Beide Fragen, die nationale Frage und die Landfrage, müssen im Bewusstsein der Arbeiter und Bauern aufs Engste miteinander verknüpft werden. Natürlich erfordert das ein detailliertes Studium, und möglicherweise wird auch schon daran gearbeitet. Jedenfalls müsste in der Erklärung eine klare Losung für die Agrarrevolution gefunden werden.

2. Auf der zweiten Seite heißt es, dass die Massen »naiv darauf vertrauten, die nationale Unabhängigkeit könnte sie von der Armut befreien.« »Aber in letzter Zeit haben die meisten ihren Fehler eingesehen.« Das ist offensichtlich falsch formuliert. Die nationale Unabhängigkeit ist, wie auch aus der Erklärung ersichtlich, ein notwendiges Element der indochinesischen Revolution. Doch wird kaum die gesamte indochinesische Bauernschaft schon zu der Einsicht gekommen sein, dass ein revolutionärer Sturz der Herrschaft des französischen Imperialismus notwendig ist. Um so zweifelhafter ist, dass die indochinesischen Massen schon begriffen haben sollen, dass eine nur nationale Befreiung unzureichend und illusorisch ist. Hier öffnet sich für die Kommunisten ein weites Feld für Agitation und Propaganda. Es wäre sehr gefährlich zu glauben, die Massen hätten schon all das verstanden, was man ihnen erst erklären muss und nur anhand des lebendigen Beispiels des Massenkampfes erklären kann. Eben darum muss man unbedingt, wie oben erwähnt, die Interessen, Bedürfnisse und Proteste der Bauern in Bezug auf Land, Steuern, Militärdienst usw. mit dem Kampf gegen den ausländischen Imperialismus und seine »nationale« Agentur, d. h. die indochinesische Bourgeoisie, verknüpfen.

3. Auf der dritten Seite heißt es: »Jede Doktrin der Klassenzusammenarbeit dient der ideologischen Verschleierung der kapitalistischen Klassenherrschaft.« Hier wird ein vollkommen richtiger Gedanke formuliert, aber in einer Form, die Anlass zu Missverständnissen geben kann. Wir lehnen nicht jegliche Zusammenarbeit der Klassen ab. Im Gegenteil, es gibt eine Zusammenarbeit der Klassen, die wir nach Kräften anstreben: das ist die Zusammenarbeit des Proletariats mit der ärmsten Bauernschaft sowie mit den am stärksten unterdrückten und ausgebeuteten Unterschichten des städtischen Kleinbürgertums. Eine solche revolutionäre Zusammenarbeit der Klassen, die nur unter der Bedingung eines unversöhnlichen Kampfes gegen die nationale Bourgeoisie zustandekommen kann, muss das Proletariat zum wirklichen nationalen Führer machen, wobei unter Nation die überwältigende Mehrheit der unterdrückten und ausgebeuteten Massen in Stadt und Land verstanden wird, die das Gegengewicht zum antinationalen Block der besitzenden Klassen mit dem Imperialismus bildet.

4. Auf der vierten Seite heißt es, dass der Nationalismus »zu allen Zeiten eine reaktionäre Ideologie gewesen ist und nur neue Ketten für die Arbeiterklasse schmieden kann.« Hier wird Nationalismus abstrakt gefasst als eine gesellschaftsübergreifende Idee, die stets reaktionär bleibt. Das ist aber keine historische, keine dialektische Formulierung des Problems, sondern eine, aus der man falsche Schlussfolgerungen ziehen kann. Der Nationalismus war keineswegs immer eine reaktionäre Ideologie und er ist dies auch heute nicht immer. Könnte man zum Beispiel sagen, der Nationalismus der großen Französischen Revolution sei eine reaktionäre Kraft im Kampf gegen das feudale Europa gewesen? Auf gar keinen Fall! Sogar der Nationalismus der verspäteten und feigen deutschen Bourgeoisie in der Periode 1848-1870 (im Kampf um die nationale Einigung) war eine progressive Kraft gegenüber dem Bonapartismus.

Heute ist der Nationalismus des rückständigsten indochinesischen Bauern, der sich gegen den französischen Imperialismus wendet, ein revolutionärer Faktor, im Gegensatz zum abstrakten und verlogenen Kosmopolitismus der Freimaurer und anderer demokratischer Bourgeois oder auch zum »Internationalismus« der Sozialdemokraten, die den indochinesischen Bauern ausplündern oder bei seiner Ausplünderung helfen.

Die Erklärung sagt ganz richtig, dass der Nationalismus der Bourgeoisie ein Mittel zur Unterdrückung und Täuschung der Massen ist. Der Nationalismus der Volksmassen jedoch ist die Elementarform ihres berechtigten und progressiven Hasses gegen die geschicktesten, klügsten und unbarmherzigsten ihrer Unterdrücker: die ausländischen Imperialisten. Das Proletariat hat nicht das Recht, diesem Nationalismus den Rücken zuzukehren. Im Gegenteil, es muss durch die Tat beweisen, dass es der konsequenteste und hingebungsvollste Kämpfer für die nationale Befreiung Indochinas ist.

5. Ebenfalls auf Seite 4 heißt es, »die indochinesischen Arbeiter fordern selbst« den gleichzeitigen Kampf für die nationale Befreiung, für demokratische Freiheiten und für die sozialistische Revolution. Diese Formulierung ist in vieler Hinsicht anfechtbar. Vor allem beweist der bloße Hinweis auf die Meinung der Arbeiter noch nichts: Unter den Arbeitern gibt es verschiedene Tendenzen, darunter auch manche falsche. Darüber hinaus ist es sehr fraglich, ob die indochinesischen Arbeiter tatsächlich schon jetzt das nationale, das demokratische und das sozialistische Element der Revolution zu einem Ganzen verknüpft haben. Hier wird wiederum eine Aufgabe als schon gelöst unterstellt, zu deren Lösung es doch erst der gesamten Arbeit der Kommunistischen Partei bedarf. Nicht weniger wichtig ist schließlich auch das, was aus dieser Formel nicht klar hervorgeht: Von welchen »demokratischen Freiheiten« eigentlich die Rede ist. Der folgende Satz spricht direkt von der »Eroberung der demokratischen Freiheiten durch die Diktatur des Proletariats«. Das ist zumindest eine unklare Formel. Unter demokratischen Freiheiten versteht die Vulgärdemokratie: Freiheit des Wortes, der Presse, der Versammlung, des Stimmrechts usw. Die Diktatur des Proletariats ersetzt diese abstrakten Freiheiten durch die Konzentration der für seine Befreiung benötigten materiellen Mittel und Werkzeuge (insbesondere der Druckereien, der Versammlungsräume etc.) in den Händen des Proletariats. Andererseits erschöpft sich die demokratische Revolution keineswegs in den demokratischen »Freiheiten«. Für die Bauern bedeutet die demokratische Revolution vor allem die Lösung der Landfrage und die Befreiung von den Lasten der Steuern und des Militarismus, was ohne nationale Befreiung nicht möglich ist. Für die Arbeiter ist die Verkürzung des Arbeitstags ein Eckpfeiler der Demokratie, denn sie allein eröffnet ihnen die Möglichkeit zu einer wirklichen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben des Landes. Alle diese Aufgaben können und werden nur durch die Diktatur des Proletariats, das sich auf die halbproletarischen Massen in Land und Stadt stützt, vollständig gelöst werden. Das müssen wir natürlich heute schon den fortschrittlichen Arbeitern erklären.

Aber zur Diktatur des Proletariats muss man erst noch kommen, d. h., man muss die Millionenmassen an sie heranführen. In der Agitation sind wir gezwungen, von dem auszugehen, was ist. Der Kampf gegen das blutige französische Regime muss unter den Losungen der entfalteten und konsequenten Demokratie geführt werden. Die Kommunisten müssen besser und mutiger als andere gegen die Militärjustiz, für die Presse- und Versammlungsfreiheit, für eine indochinesische Konstituierende Versammlung kämpfen. Indem man zur Demokratie von vornherein nein sagt, kommt man nicht zur Diktatur des Proletariats. Nur im Kampf um die Demokratie kann die kommunistische Avantgarde die Mehrheit der unterdrückten Nation um sich scharen und so zur Diktatur kommen, die, in unlöslicher Verbindung mit der Bewegung des Weltproletariats, auch die Bedingungen für einen Übergang zur sozialistischen Revolution schaffen wird.

Mir scheint, dass vieles von dem, was hierzu im Manifest an die chinesischen Kommunisten gesagt worden ist, auch auf Indochina übertragen werden kann.

6. Auf derselben Seite 4 heißt es, dass sich vor kurzem drei kommunistische und drei nationalistische Parteien zu einer Kommunistischen Partei Indochinas zusammengeschlossen haben. Das wird nur nebenher, in zwei Zeilen, erwähnt. Dabei ist dies – vom Standpunkt der Opposition wie auch der indochinesischen Revolution insgesamt aus gesehen – eine zentrale Frage. Was vertreten diese sechs Gruppen, darunter die drei nationalistischen? Was für Programme haben sie, wie ist ihre soziale Zusammensetzung? Besteht nicht die Gefahr, dass unter dem Namen einer Kommunistischen Partei eine indochinesische Guomindang geschaffen wird? Die Erklärung sagt völlig richtig, dass unsere Aufgabe gegenüber dieser neu geschaffenen Partei darin besteht, ideologische Klarheit zu schaffen. Aber gerade dafür ist es notwendig, in der Erklärung selbst möglichst vollständig und genau den wirklichen Charakter der neugeschaffenen Partei zu bestimmen. Nur auf einer solchen Grundlage kann auch unsere Politik ihr gegenüber bestimmt werden.

7. Die Losungen, mit denen die Erklärung endet (Seite 5), sind teils zu abstrakt, teils unvollständig. Man muss sie, in Übereinstimmung mit dem oben (zur Agrarfrage, zum nationalen Moment, zu den demokratischen Losungen als Übergangslosungen, zum Achtstundentag usw.) Gesagten, präzisieren und ergänzen.

Meine Kritik basiert auf der klaren Überzeugung, dass wir Gleichgesinnte sind, woran die Erklärung keinen Zweifel lässt. Die oben gemachten Bemerkungen sollen dazu beitragen, die Erklärung präziser zu formulieren. Mir ist jedoch nur allzu bewusst, dass meine Kritik ihrerseits zu abstrakt ist, weil ich mit der sozialen Struktur und der politischen Geschichte Indochinas nicht zureichend vertraut bin. Deshalb habe ich auch keine genaueren Formulierungen vorgeschlagen. Meine Bemerkungen verfolgen nur das eine Ziel: die Richtung zu skizzieren, in der man nach genaueren und konkreteren Antworten auf die Fragen der indochinesischen Revolution suchen muss.

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