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Leo Trotzki 19370824 Erprobung der Ideen und Individuen durch die Erfahrung der spanischen Revolution

Leo Trotzki: Erprobung der Ideen und Individuen durch die Erfahrung der spanischen Revolution

24. August 1937

[Veröffentlicht im Internen Internationalen Bulletin, herausgegeben vom Internationalen Sekretariat für die Vierte Internationale, Nr. 2 (Deutsche Ausgabe Nr. 1), April 1938. Nach Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, S. 260-271]

An alle der Vierten Internationale angeschlossenen Organisationen: Die spanische Revolution ist in den Augen der fortgeschrittenen Arbeiter nicht nur als ein erstrangiges historisches Ereignis, sondern auch als eine Hochschule der revolutionären Strategie von enormer Bedeutung. Ideen und Individuen werden darin einer ausnehmend wichtigen, man kann sagen unfehlbaren Prüfung unterzogen. Das Studium nicht nur der Revolutionsereignisse, sondern auch der politischen Haltung, die bei uns gewisse Gruppen und einzelne Genossen gegenüber den spanischen Ereignissen einnehmen, ist Pflicht jedes ernsten Marxisten.

Genosse Vereecken und Genosse Sneevliet

In diesem Brief möchte ich bei einem besonderen, aber im höchsten Grade lehrreichen Beispiel verweilen, nämlich bei der Haltung des Genossen Vereecken, eines der leitenden Genossen unserer belgischen Sektion. Vereecken war Berichterstatter für die spanische Frage in der Sitzung des Zentralkomitees der Revolutionär-Sozialistischen Partei Ende Juni dieses Jahres. Die Wiedergabe seines Berichts im internen Bulletin der belgischen Sektion von Juni-Juli ist recht kurz, höchstens 25 Zeilen, gibt aber dennoch ein hinreichend deutliches Bild von den Fehlern des Genossen Vereecken, die sowohl für unsere belgische Sektion wie für die gesamte Internationale sehr gefährlich sind.

Genosse Sneevliet, Führer der RSAP Hollands, hat sich bekanntlich völlig mit der Politik der POUM solidarisiert und damit klar gezeigt, wie weit er vom revolutionären Marxismus abgegangen ist. Was Genosse Vereecken betrifft, so steht die Sache ein wenig anders. In ‘seine Argumentation sind heute wie früher Vorbehalte eingeflochten: „einerseits", „andererseits". In Bezug auf die POUM bezieht er eine „kritische" Position, wobei er viele Argumente unserem gemeinsamen Arsenal entlehnt. Aber im Grunde ist seine zentristische Haltung viel mehr geeignet, in unseren Reihen Zweifel zu säen, als die Haltung des Genossen Sneevliet. Darum ist es notwendig, Vereeckens Auffassungen einer aufmerksamen Kritik zu unterziehen.

Optimistischer Fatalismus – ein Wesenszug des Zentrismus

Vereecken erstattete seinen Bericht vor der Zerschlagung der POUM und vor der ruchlosen Ermordung ihres Führers durch Stalins Agenten in Spanien (Antonow-Owsejenko und andere). Wir werden Nins Andenken und das seiner Mitstreiter unnachgiebig gegen die Verleumdungen der Kanaillen von Moskau und anderswo verteidigen. Aber Nins tragisches Schicksal vermag an unseren politischen Anschauungen, die von den historischen Interessen des Proletariats und nicht von Gefühlserwägungen diktiert sind, nichts zu ändern.

Schon seit langem schätzte Genosse Vereecken die POUM auf ganz verkehrte Art ein. Er dachte, diese Partei müsse unter dem Druck der Ereignisse sich sozusagen „automatisch" nach links entwickeln, und unsere Politik in Spanien sich auf „kritische" Unterstützung der POUM beschränken. Die Ereignisse haben diese fatalistische und optimistische Prognose, die für das zentristische Denken überaus, für das marxistische aber keineswegs bezeichnend ist, in keiner Weise bestätigt. Es genügt, hier darauf hinzuweisen, dass die gesamte Politik der POUM von demselben fatalistischen Optimismus erfüllt war. Die Leitung der POUM passte sich den anarchistischen Führern an, in der Hoffnung, dass diese automatisch den Weg der proletarischen Revolution betreten würden, just wie Vereecken sich den POUM-Führern anpasste. All diese Erwartungen sind vollkommen enttäuscht worden: die Ereignisse trieben die anarchistischen wie die POUM-Führer nicht nach links, sondern nach rechts. Statt offen die Falschheit seiner Politik zuzugeben, will Vereecken heimlich auf eine neue Position hinüberschleichen, die sich von seiner gestrigen nur durch noch größere Konfusion auszeichnet.

Charakterisierung der POUM

Anders als die CNT und die FAI, die bereits seit Jahrzehnten existieren" – so beginnt Vereecken seinen Bericht – „ist die POUM jung, heterogen; der linke Flügel darin ist schwach." Diese Beschreibung stellt eine gründliche Verurteilung nicht nur der Haltung Sneevliets dar, sondern auch der vorherigen eigenen Haltung Vereeckens. Denn wo ist die versprochene Linksentwicklung geblieben? Gleichzeitig zeichnet sich diese Charakterisierung durch gewollte Ungenauigkeit aus. Der „linke Flügel"? Das Wort will hier gar nichts besagen. Ist von der marxistischen Fraktion der POUM oder von der linkszentristischen Fraktion die Rede? Vereecken will diese Frage bewusst nicht beantworten. Wir antworten an seiner statt: in der POUM besteht nach Ausschluss der „Trotzkisten" keine konsequent marxistische Fraktion. Aber selbst die linkszentristische Fraktion ist schwach. Darin hat Vereecken recht. Doch das bedeutet bloß, dass nach sechs Jahren Revolutionserfahrung die POUM-Politik von den Rechtszentristen bestimmt wird. Das ist die ungeschminkte Wahrheit.

Genosse Vereecken „kritisiert" die POUM

Hören wir nun, wie Vereecken die POUM kritisiert: „Fehler der POUM: Anschluss an die Volksfront zur Zeit der Wahlen. Sie hat diesen Fehler am 19. Juli durch den bewaffneten Aufstand wiedergutgemacht. Anderer Fehler: Beteiligung an der Regierung und Auflösung der Komitees. Aber nach ihrem Austritt aus der Regierung fand in der POUM eine Klärung statt."

All das sieht auf den ersten Blick wie marxistische Kritik aus. In Wirklichkeit aber benutzt Vereecken sterilisierte Bruchstücke der marxistischen Kritik, nicht um die opportunistische Politik der POUM zu enthüllen, sondern um sie – und seine eigene – vielmehr zu verschleiern. Vor allem springt in die Augen, dass es sich bei unserem Kritiker um einzelne „Fehler" der POUM handelt, und nicht um eine marxistische Einschätzung ihrer gesamten Politik. „Fehler" kann es in jeder Organisation geben. Marx machte Fehler. Lenin machte Fehler, die bolschewistische Partei als Ganzes auch. Doch diese Fehler wurden dank der richtigen Grundlinie rechtzeitig korrigiert. Bei der POUM handelt es sich nicht um einzelne „Fehler", sondern um eine nichtrevolutionäre, zentristische, d.h. Im Wesen opportunistische Grundlinie. Anders gesagt, bei einer revolutionären Partei sind „Fehler" die Ausnahme; bei der POUM sind die Ausnahme ein paar vereinzelte richtige Schritte.

Der 19. Juli 1936

Vereecken verweist uns darauf, dass die POUM am 19. Juli 1936 am bewaffneten Kampf teilnahm. Gewiss doch! Nur eine konterrevolutionäre Organisation hätte an diesem Kampf, der das gesamte Proletariat erfasste, nicht teilnehmen können: natürlich hat niemand von uns die POUM als solche bezeichnet. Aber wieso konnte die Teilnahme am bewaffneten Kampf der Massen, die in jenen Tagen ihre Politik sowohl den Anarchisten wie Sozialisten und POUMisten aufzwangen, den „Fehler" der Beteiligung an der Volksfront „wiedergutmachen"? Wechselte die POUM etwa die Grundrichtung ihrer Politik? Keineswegs! Der Kampf des 19. Juli endete trotz des tatsächlichen Sieges der Arbeiter mit dem Zwittergebilde der Doppelherrschaft, einzig weil keine Organisation die erforderliche Einsicht im Schädel noch die unerlässliche Courage besaß, den Kampf zu Ende zu führen. Die Beteiligung der POUM an der Volksfront war kein zufälliger „Fehler", sondern das untrügliche Anzeichen ihrer opportunistischen Natur. In den Julitagen hatte sich nur die äußere Lage, keineswegs aber die zentristische Natur der Partei geändert. Die POUM passte sich dem Arbeiteraufstand an, wie sie sich einige Monate zuvor der Volksfrontwahlmechanik angepasst hatte. Der linke Haken des Zentrismus ergänzt den rechten und macht ihn keineswegs „wieder gut". Auch während ihres linken Hakens gab die POUM nicht im Geringsten ihre Zwitterstellung auf und bereitete damit die zukünftige Katastrophe vor.

Die Regierungsbeteiligung

Vereecken sagt: „Der andere Fehler war die Beteiligung an der Regierung und die Auflösung der Komitees". Woher mag wohl dieser „andere Fehler" kommen, wenn die Teilnahme am Juliaufstand die vorherige falsche Politik „wiedergutgemacht" hatte? In Wirklichkeit war die Regierungsbeteiligung ein neuer, dem zentristischen Wesen der Partei entspringender Haken. Genosse Sneevliet hat geschrieben, er „verstehe" diese Beteiligung. Leider zeigt diese zweideutige Formulierung nur, dass Genosse Sneevliet die Gesetze des Klassenkampfes in der Revolutionsepoche nicht versteht.

Die Julitage von 1936, wo das katalanische Proletariat bei richtiger Leitung mühelos und ohne zusätzliche Opfer die Macht hätte ergreifen und die Epoche der Diktatur in ganz Spanien hätte eröffnen können, endeten zum großen Teil infolge des Fehlers der POUM mit einem Doppelherrschaftsregime, d.h. mit der provisorischen Teilung der Macht zwischen dem Proletariat (Komitees) und der Bourgeoisie, vertreten durch ihre Lakaien (die stalinistischen, anarchistischen und sozialistischen Führer). Das Interesse der Arbeiter war, so rasch wie möglich der gefährlichen Zwitterlage ein Ende zu bereiten durch Übergabe der gesamten Macht an die Komitees, d.h. die spanischen Sowjets. Die Aufgabe der Bourgeoisie hingegen war, die Komitees im Namen der „einheitlichen Macht" zu beseitigen. Nins Beteiligung an der Regierung war Bestandteil des gegen das Proletariat gerichteten Plans der Bourgeoisie. Wenn Sneevliet das „versteht", umso schlimmer für ihn. Vereecken ist vorsichtiger: er spricht von der Regierungsbeteiligung als vom „anderen Fehler", der darin bestand, die Regierung der Bourgeoisie direkt gegen die Arbeiterkomitees zu unterstützen!

Aber", so beeilt sich Vereecken hinzuzufügen, um seiner Kritik die Spitze abzubrechen, „nach ihrem Austritt aus der Regierung fand in der POUM eine Klärung statt". Das ist eine glatte Unwahrheit, die Vereecken selbst durch die Charakterisierung der POUM – von uns weiter oben zitiert – widerlegt hat, indem er nämlich, erklärte, dass sie eine heterogene Partei sei, in der der linke Flügel schwach ist. Was für eine „Klärung" mag das wohl sein, nach der selbst der Linkszentrismus in der Partei in schwacher Minderheit bleibt? Oder soll man vielleicht unter „Klärung" … den Ausschluss der Bolschewiki-Leninisten verstehen?

Die Kritik am Internationalen Sekretariat (IS)

Vereecken geht in seiner winkeladvokatenhaften Verteidigung des Zentrismus noch weiter. Sofort nach der Aufzählung der „Fehler" der POUM zählt er, um die Symmetrie zu wahren, die „Fehler" des Internationalen Sekretariats auf. Bringen wir wieder das wörtliche Zitat.

Fehler des IS: zehn Tage nach dem 19. Juli hatte man in Paris noch keine Stellung bezogen. Man begriff die Bedeutung der Ereignisse nicht. Man hat der Brüsseler Konferenz nicht beigewohnt: man hat die Pariser Resolution zu wörtlich angewandt. Man hätte diese Gelegenheit benutzen sollen, um die POUM zu einer revolutionären Politik zu drängen. Durch die Veröffentlichung des Trotzkibriefes hat man sich von Nin getrennt."

Man traut seinen Augen nicht, wenn man diese Häufung von „Anklagen" liest! Das IS mag natürlich diese oder jene praktische Nachlässigkeit oder sogar diesen oder jenen politischen Fehler begangen haben. Nur der aber könnte diese Dinge auf die gleiche Ebene wie die opportunistische Politik der POUM rücken, der zwischen einer uns feindlichen Partei und unserer eigenen internationalen Organisation die deplacierte Rolle eines Schiedsrichters spielen wollte. Hier bekundet Genosse Vereecken nicht zum ersten Mal einen Mangel an Sinn für Proportionen, der einen verzweifeln lassen könnte. Sehen wir uns jedoch seine Anklagen näher an.

Zehn Tage" nach dem 19. Juli hatte das IS keine Position! Nehmen wir an, dies sei wahr. Welches ist die Ursache? Mangelnde Information? Übermäßige Vorsicht? Vereecken erklärt es nicht. Gewiss, besser ist es, sofort eine „Position" zu haben. Das IS ist die höchste administrative Institution. Es sollte beim Beziehen einer politischen Position sehr vorsichtig sein, umso mehr, als es den Kampf in Spanien nicht unmittelbar leitete und nicht leiten konnte. Hatte aber das IS „zehn Tage danach" keine Position, so befindet sich Genosse Vereecken ein Jahr nach dem 19. Juli auf einer falschen Position. Das ist unvergleichlich schlimmer.

Die Brüsseler Konferenz

Es war, wie man sieht, nötig, ein übriges Mal an der kläglichen und bedeutungslosen Brüsseler Konferenz der Zentristen teilzunehmen, um „die POUM zu einer revolutionären Politik zu drängen". Auf die POUM einzuwirken, galt es anscheinend also nicht in Barcelona, sondern in Brüssel. Nicht vor den revolutionären Massen, sondern hinter den Konferenztüren. Als ob wir uns das erste Mal mit den POUM-Führern getroffen hätten! Als hätten wir im Laufe von sechs Jahren nicht versucht, sie auf den Weg der revolutionären Politik zu „drängen"! Alle Methoden und alle Wege benutzten wir: ausgiebige Korrespondenz, Entsendung von Delegierten, organisatorische Verbindungen, zahlreiche Artikel und ganze Broschüren, schließlich öffentliche Kritik. Allein, anstatt den Weg marxistischer Politik zu betreten, betraten die POUM-Führer, erschreckt über die unerbittlichen Anforderungen der Revolution, ein für alle Mal den Weg des Zentrismus. All das ist für Vereecken natürlich nur Zufall ohne Bedeutung. Dagegen ganz enorme Bedeutung sollte der zentristischen Brüsseler Konferenz zufallen, wo Vereecken vor ein oder zwei POUM-Führern eine Rede gehalten hätte, die bestenfalls nur das wiederholt hätte, was vor der Konferenz hunderte von Malen gesagt und geschrieben wurde. Auch diesmal gesellt sich bei Vereecken zum Zentristen der Sektierer. Für den Sektierer ist der höchste Augenblick im Leben, wenn er auf der tausendundersten Konferenz auftritt!

Der Trotzkibrief

Schließlich die letzte Anklage: die Veröffentlichung des Trotzkibriefes. Der Brief war, soviel ich weiß, nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Aber man muss schon wirklich den letzten Rest politischen Instinkts verloren haben, um in der Veröffentlichung dieses Briefes einen bedeutenden Faktor für die Bestimmung unseres Verhältnisses zur POUM zu erblicken. Der Brief nannte die Teilnahme am Block mit der Bourgeoisie Verrat am Proletariat. Ist das richtig oder nicht?

Wir haben nie die Reinheit von Nins Absichten bezweifelt. Aber die politische Beurteilung seiner Volksfrontbeteiligung als ein Akt des Verrats ist absolut richtig. Wie indes konnte uns die Veröffentlichung dieses Briefs von Nin „trennen"? Selbst vor der Veröffentlichung des Briefes waren wir schon hinreichend von Nin getrennt, und nicht von ungefähr: seine ganze Politik ging in entgegengesetzte Richtung als die unsere. Nicht aus irgendeiner Laune hat Nin drei Jahre vor der Veröffentlichung des Trotzkibriefes mit uns gebrochen. Oder will Vereecken etwa sagen, dass Nin sich nach den Wahlen zu uns hin entwickelte, und dass die Veröffentlichung des Briefes diese Entwicklung zum. Stillstand brachte?

Vereeckens Worte können keinen anderen Sinn haben, angenommen, dass sie überhaupt den geringsten Sinn haben. In Wirklichkeit waren, wie wir wissen, Nin und seine Freunde auch weiterhin der Meinung, dass ihre Beteiligung an der Volksfront und später an der Regierung richtig war, und forderten sogar die Erneuerung dieser Regierungsbeteiligung. Auch hier handelte es sich nicht um einen „Fehler", sondern um eine ganze politische Linie.

Nimmt man schließlich an, die POUM habe den „Fehler" der Beteiligung an der Volksfront begriffen, wieso hätte dann die Veröffentlichung des Briefes mit seiner scharfen Charakterisierung dieses Fehlers die Entwicklung der POUM hindern können? Will Vereecken sagen (wenn er überhaupt etwas sagen will!), dass Nin von diesem Brief so beleidigt war, dass er beschloss, zu seiner unrichtigen vorherigen Position zurückzukehren? Aber eine derartige Meinung ist doch zu beleidigend für Nin, der sich von politischen Ideen und nicht von Erwägungen engen persönlichen Eigendünkels leiten ließ.

Das sind die Fehler des IS, die Vereeckens mit der zentristischen Politik der POUM auf eine Stufe stellt. Er zeigt damit nur, dass er selbst die Stellung eines Schiedsrichters zwischen Marxismus und Zentrismus bezogen hat.

Die Vorbereitung der Maitage (1937)

Vereecken geht dann zu den Maiereignissen dieses Jahres über

Man stellt fest", sagt er, „dass die POUM darauf gefasst war und sich bewaffnete. Der Umfang der Ereignisse überraschte die Partei. Aber jede beliebige Partei wäre überrascht gewesen."

Nicht ein Satz, der nicht ein Fehler wäre, übrigens kein zufälliger, sondern das Erzeugnis einer falschen politischen Linie. Die Maiereignisse „vorhersehen" und sich darauf vorbereiten, das konnte man nur auf eine Art: durch unerbittliche Kampfansage an die Regierungen von Katalonien und Spanien, durch Verweigerung jeglicher politischer Mitarbeit, durch Opposition der Partei gegen alle anderen Parteien, d.h. ihre leitenden Zentren, insbesondere und vor allem gegen die CNT-Leitung. Nicht zulassen, dass die Massen auch nur einen Augenblick lang die revolutionären Führer mit den Lakaien der Bourgeoisie verwechseln! Eine derartige unnachgiebige Politik, selbstverständlich bei aktiver Teilnahme am militärischen Kampf und an den revolutionären Bewegungen der Massen, hätte der POUM bei den Arbeitern unerschütterliche Autorität verschafft, vor allem bei den anarchistischen Arbeitern, die die große Mehrheit des katalanischen Proletariats bilden. Stattdessen forderte die POUM die Rückkehr ihrer Führer in die konterrevolutionäre Regierung und versicherte in jeder Nummer der Batalla, die Arbeiter könnten die Macht kampflos nehmen. Zu diesem Zweck entwarf die POUM sogar das kindische Projekt eines besonderen Kongresses, der von der bürgerlichen Regierung einberufen werden sollte, um … die Macht den Arbeitern und Bauern zu übertragen. Eben deswegen war die POUM überrascht und waren die Maiereignisse für sie nur eine neue Etappe auf dem Wege zur Katastrophe.

Aber", so ruft Vereecken, „jede beliebige Partei wäre überrascht gewesen". Dieser unglaubliche Satz zeigt noch einmal, dass Vereecken nicht den Unterschied zwischen einer zentristischen und einer marxistischen Partei kennt. Man kann wohl zugeben, dass ein wirklich von den Massen ausgehender Aufstand mehr oder weniger jeder beliebige revolutionäre Partei überrundet. Aber der Unterschied liegt eben in dem Grade: auch hier geht die Quantität in Qualität über. Eine zentristische Partei wird von den Ereignissen fortgeschwemmt und ersäuft darin, während eine revolutionäre Partei sie letzten Endes bezähmt und den Sieg sichert.

Verteidigung, nicht Angriff"

Am 4. und 5. Mai", fährt Vereecken fort, „war ihre Politik (der POUM) richtig. Verteidigung, nicht Angriff. Auf die Machtergreifung loszusteuern, wäre im gegebenen Moment ein Abenteuer gewesen. Der große Fehler der POUM bestand darin, während des Rückzugs Illusionen zu säen und die Niederlage für einen Sieg auszugeben."

Man sieht, mit welch apothekerhaften Genauigkeit Vereecken die „richtigen" Handlungen und die „Fehler" der POUM abwägt und gegeneinander ausgleicht. Indes stellt sein ganzer Gedankengang einen durchgehenden Fehler dar. Wer sagte – und an welcher Stelle –, dass es ein Abenteuer gewesen wäre, in den Maitagen auf die Machtergreifung loszusteuern? Dies war vor allem nicht die Meinung der POUM selber. Versicherte sie doch noch am Vorabend den Arbeitern, sie könnten kampflos die Macht ergreifen, sobald es ihnen nur beliebt. Den Arbeitern „beliebte es". Wo ist da ein Abenteuer? Das Element niederträchtiger Provokation seitens der Stalinisten hat von dem uns interessierenden Gesichtspunkt aus zweitrangige Bedeutung. Alle nach den Ereignissen veröffentlichten Berichte beweisen, dass unter einer halbwegs ernsten und selbstsicheren Führung der Sieg des Maiaufstandes gewiss war. In diesem Sinne hatte die POUM recht, wenn sie sagte, die Arbeiter könnten die Macht ergreifen, wenn es ihnen „beliebt". Sie vergaß nur hinzuzufügen: Leider haben wir keine revolutionäre Führung. Die POUM konnte deshalb und nur deshalb das katalanische Proletariat nicht zum revolutionären Angriff führen, weil ihre gesamte vorausgegangene Politik sie zu einer solchen Initiative unfähig gemacht hatte.

Die „Julitage" 1917 und die „Maitage" 1937

Hier könnte uns indes Genosse Vereecken mit dem Einwand kommen: „Die Bolschewiki haben sich im Juli 1917 doch auch nicht zur Machtergreifung entschließen können, sich auf die Verteidigung beschränkt, um die Massen mit möglichst geringen Verlusten aus dem Feuer zu führen. Warum soll diese Politik der POUM nicht billig sein?"

Untersuchen wir diesen Einwand. Die Genossen Sneevliet und Vereecken gefallen sich sehr darin, uns daran zu erinnern, Spanien „sei nicht Russland", man könne nicht überall die „russischen" Methoden anwenden, usw. Derartige abstrakte Belehrungen erwecken einen durchaus unernsten Eindruck. Recht oder schlecht, wir versuchten in den letzten sechs Jahren, die konkreten Bedingungen der spanischen Revolution zu analysieren. Von Anfang an warnten wir davor, sich auf das schnelle Entwicklungstempo der Ereignisse nach dem Muster von 1917 in Russland einzustellen. Im Gegenteil, wir benutzten die Analogie mit der Großen Französischen Revolution, die 1789 begann und eine Reihe von Etappen durchlief, ehe sie im Jahre 1793 ihren Höhepunkt erreichte. Und gerade weil wir nicht gewohnt sind, geschichtliche Ereignisse zu schablonieren, halten wir die Übertragung der bolschewistischen Taktik im Juli 1917 in Petrograd auf die Maiereignisse in Katalonien für unmöglich. „Spanien ist nicht Russland". Die Unterscheidungsmerkmale sind augenfällig.

Die bewaffnete Demonstration des Petrograder Proletariats entlud sich bereits vier Monate nach Beginn der Revolution, drei Monate, nachdem die bolschewistische Partei ein wirklich bolschewistisches Programm (Lenins Aprilthesen) aufgestellt hatte. Die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung des riesigen Landes hatte kaum begonnen, sich von den Februarillusionen freizumachen. An der Front stand eine Zwölfmillionenarmee, die eben von den ersten Gerüchten über die Bolschewiki erreicht wurde. Unter diesen Bedingungen hätte ein isolierter Aufstand des Petrograder Proletariats dessen unweigerliche Niederschlagung mit sich gebracht. Es hieß Zeit zu gewinnen. Diese Lage bestimmte die Taktik der Bolschewiki.

In Spanien sind den Maiereignissen nicht vier Monate, sondern sechs Jahre vorausgegangen. Die Massen haben im ganzen Lande eine gewaltige Erfahrung gesammelt. Sie haben längst die Illusionen von 1931 verloren, wie auch die aufgewärmten Illusionen der Volksfront. Sie vermochten in allen Teilen des Landes zu zeigen, dass sie bereit sind, bis ans Ende zu gehen. Hätte das katalanische Proletariat im Mai 1937 die Macht ergriffen – wie sie es im Juli 1936 faktisch ergriffen hat – es würde in ganz Spanien Unterstützung gefunden haben. Die bürgerlich-stalinistische Reaktion würde nicht einmal zwei Regimenter zur Niederringung der katalanischen Arbeiter gefunden haben. Auf dem durch Franco besetzten Gebiet hätten sich nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Bauern auf die Seite des proletarischen Katalonien gestellt, die faschistische Armee isoliert und eine unaufhaltsame Zersetzung in sie hineingetragen. Kaum hätte sich irgendeine ausländische Macht unter diesen Umständen entschlossen, ihre Truppen auf den brennenden Boden Spaniens zu werfen. Die Intervention wäre faktisch unmöglich oder zumindest äußerst gefährlich geworden.

Selbstverständlich bleibt in jedem Aufstand etwas Unwägbares und ein gewisses Risiko. Aber der ganze weitere Gang der Ereignisse hat bewiesen, dass selbst im Falle einer Niederlage die Lage des spanischen Proletariats unvergleichlich günstiger gewesen wäre als jetzt, gar nicht davon zu reden, dass die Zukunft der revolutionären Partei gesichert gewesen wäre.

Aber worauf gründet Vereecken seine kategorische Erklärung, die Machtergreifung wäre unter den damaligen Umständen ein „Abenteuer" gewesen? Absolut auf nichts, es sei denn … auf den Wunsch, die Impotenz des Zentrismus zu rechtfertigen, und damit zugleich seine eigene Politik, die nur der linke Schatten des Zentrismus war und bleibt.

Vereecken verteidigt den Ausschluss der Bolschewiki-Leninisten

Die Schlusszeilen des Berichts stehen auf dem Niveau des Ganzen. „Man sagt, in der POUM gebe es keine Demokratie; aber wenn die Bordigisten bei uns eintreten wollten", erwidert Vereecken, „würden wir sie ohne Zweifel aufnehmen, aber ohne Fraktionsrecht". Wer sagt das? Ein Anwalt des Zentrismus oder ein Revolutionär, der sich zu den Bolschewiki-Leninisten zählt? Es ist schwer zu sagen. Die Demokratie der POUM befriedigt Vereecken vollauf. Die Opportunisten schließen aus ihrer Partei die Revolutionäre aus. Vereecken sagt: die Opportunisten haben recht, denn die bösen Revolutionäre bauen Fraktionen auf.

Erinnern wir noch einmal daran, was Vereecken anfangs von der POUM sagte: sie sei eine „junge, heterogene Partei, in der der linke Flügel schwach ist". Aus dieser heterogenen, im Grunde nur aus Fraktionen und Unterfraktionen bestehenden Partei schließt die POUM nicht die erwiesenen Reformisten, nicht die kleinbürgerlich-katalanischen Nationalisten, noch selbstverständlich auch die Zentristen, sondern nur die Bolschewiki-Leninisten aus. Ist das nicht deutlich genug? Allein, der „Bolschewik-Leninist" Vereecken billigt die reaktionären Unterdrückungsmaßnahmen der Zentristen, Wie man sieht, beschäftigt ihn ausschließlich die juristische Frage der Fraktionsrechte, und nicht die politische Frage ihres Programms und ihrer Taktik.

Für den Marxisten ist eine revolutionäre Fraktion in einer zentristischen Partei etwas Positives, eine sektiererische oder opportunistische Fraktion in einer revolutionären Partei aber etwas Negatives. Dass Vereecken die Frage auf das bloße Recht der Fraktionen aufs Dasein reduziert, zeigt lediglich, dass er die Trennungslinie zwischen Zentrismus und Marxismus völlig verwischt hat. Ein wirklicher Marxist würde sagen: „Es heißt, in der POUM gebe es keine Demokratie. Das ist nicht wahr. Die Demokratie ist dort vorhanden – für die Rechten, für die Zentristen, für die Wirrköpfe, aber nicht für die Bolschewiki-Leninisten." Mit anderen Worten, das Ausmaß der POUM-Demokratie ist vom realen Inhalt der zentristischen, dem revolutionären Marxismus von Grund auf feindlichen Politik bestimmt.

Unverzeihlicher Vorwurf

Aber Vereecken macht nicht einmal hier halt. Im Interesse der Verteidigung der POUM greift er sogar zu glatter Verleumdung (anders kann man es nicht nennen!) unserer Gesinnungsgenossen in Katalonien. „Die bolschewistisch-leninistische Sektion von Barcelona", sagt er, „bestand aus Karrieristen und Abenteurern". Man traut seinen Augen nicht, wenn man das liest! Wer spricht so? Ein Sozialdemokrat? Ein Stalinist? Ein bürgerlicher Feind? Nein, so spricht ein verantwortlicher Funktionär unserer belgischen Sektion. Dahin gerät man, wenn man auf seinen, vom gesamten Gang der Ereignisse aufgedeckten Fehlern beharrt! Morgen werden die Barcelonaer GPU-Leute, wenn das belgische Bulletin ihnen zwischen die Finger gerät, sagen: „Vereecken selbst gibt ja zu, dass die Bolschewiki-Leninisten Karrieristen und Abenteurer sind. Man muss mit ihnen in entsprechender Weise Schluss machen!"

Ich denke, es ist Pflicht aller unserer Sektionen, zu erklären, dass wir den unzulässigen Vorwurf des Genossen Vereecken entrüstet zurückweisen und mit all unserer internationalen Autorität unsere junge Barcelonaer Organisation unterstützen. Ich füge hier hinzu: wie ihr programmatischer Aufruf vom 19. Juli dieses Jahres zeigt, gehen unsere Barcelonaer Genossen an die Aufgaben der Revolution mit ungleich größerem Verständnis und Ernsthaftigkeit heran als Vereecken. Der wirkliche „Fehler" des Internationalen Sekretariats ist eher der, dass es bisher nicht Vereeckens Erklärung verurteilt und nicht auf ihrer Verurteilung durch unsere belgische Sektion bestanden hat.

Es gilt, Genossen Vereecken nochmals auf den rechten Weg zu verhelfen

Wir haben nicht im Mindesten die Absicht, die Meinungsverschiedenheiten zu verschärfen. Wir sind Genossen Vereecken unter verschiedenen Umständen und auf diversen Entwicklungsetappen der belgischen Sektion und der internationalen Organisation begegnet. Wir alle haben Genossen Vereeckens Ergebenheit an die Sache der Arbeiterklasse, seine Energie, seine stete Bereitwilligkeit, alle seine Kräfte uneigennützig dieser Sache hinzugeben, schätzen gelernt. Die jungen Arbeiter sollen das an Genossen Vereecken lernen. Aber was seine politische Position betrifft, so befindet sie sich leider meistens mehrere Meter zur Rechten oder zur Linken der marxistischen Politik, wobei Genosse Vereecken jedoch nicht die mindeste Schonung für diejenigen, die auf dieser Linie bleiben, kennt. In der Vergangenheit mussten wir vor allem die sektiererischen Tendenzen des Genossen Vereecken bekämpfen, die der belgischen Sektion nicht wenig geschadet haben. Aber schon damals war es für niemanden von uns ein Geheimnis, dass das Sektierertum nur eine Knospe ist, aus der jederzeit die Blüte des Opportunismus hervorsprießen kann. Nunmehr haben wir eine außerordentlich deutliche Bestätigung dieses Gesetzes der politischen Botanik erhalten. Genosse Vereecken bewies Sektierertum in zweitrangigen oder formellen organisatorischen Fragen, um in einer politischen Frage von gigantischer historischer Bedeutung beim Opportunismus zu landen.

Das innere Leben der Vierten Internationale beruht auf den Prinzipien der Demokratie. Genosse Vereecken macht von dieser Demokratie ausgiebigen, zuweilen sogar anarchischen Gebrauch. Indes, der Vorteil des demokratischen Regimes besteht darin, dass die erdrückende Mehrheit, auf Erfahrung und freundschaftliche Diskussion gestützt, frei ihre maßgebliche Meinung herausbilden und gelegentlich eine Minderheit, die einen gefährlichen Weg betritt, zur Ordnung rufen kann. Das ist der beste Dienst, den man augenblicklich unserer belgischen Sektion und gleichzeitig auch der holländischen Sektion erweisen kann.

Crux

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