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Leo Trotzki 19310300 Der Fünfjahresplan in vier Jahren?

Leo Trotzki: Der Fünfjahresplan in vier Jahren?

[Nach Schriften 1.1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1929-1936. Hamburg 1988, S. 263-265. Dort mit zahlreichen Fußnoten]

Büyük Ada, März 1931

Das »Zusatzquartal« (Oktober bis Dezember 1930) brachte ein sehr rasches Tempo in der Entwicklung der Industrie. Gleichzeitig aber wurde deutlich, dass die Umwandlung des Fünfjahresplans in einen Vierjahresplan ein leichtsinniges Abenteuer war, das den eigentlichen Plan in Gefahr bringt.

Das Wirtschaftsjahr begann in Russland nicht wie das Kalenderjahr am 1. Januar, sondern immer am 1. Oktober. Das ergab sich aus der Notwendigkeit, die Wirtschaftskalkulationen und -operationen dem landwirtschaftlichen Zyklus anzupassen. Zu welchem Zweck wurde nun diese Regelung plötzlich aufgehoben, die doch wohlbegründet war? Sie wurde aufgehoben, um das bürokratische Prestige zu steigern. Denn bereits im vierten Quartal des zweiten Jahres des Fünfjahresplans hatte sich gezeigt, dass es unmöglich war, den Plan in vier Jahren zu verwirklichen, und so wurde beschlossen, ein Zusatzquartal zu schaffen, d.h. den vier Jahren noch eine dreimonatige Zusatzfrist anzufügen. Man nahm an, es werde in dieser Frist gelingen, durch verdoppelten Druck auf Muskeln und Nerven der Arbeiter den Fetisch der unfehlbaren Führung zu retten.

Doch da dieses Zusatzquartal keinerlei besondere Wunderkräfte besaß (davon, dass man den Gefrierpunkt auf dem Thermometer tiefer ansetzt, wird es noch längst nicht wärmer), zeigte sich am Ende des Quartals, was man hätte voraussehen können und was wir von Anfang an vorausgesehen haben, nämlich: das Rekordtempo ließ sich nicht realisieren, obwohl unter der dreifachen Knute von Partei, Sowjets und Gewerkschaft gearbeitet wurde.

Die Eisen- und Stahlindustrie des Südens und Zentralrusslands erfüllte den Plan des Zusatzquartals zu 84 %. Die Metallurgie insgesamt blieb laut Prawda vom 16. Januar um ungefähr 20 % hinter dem Plan zurück. Das Donezbecken erbrachte statt der vorgesehenen 16 Millionen 10 Millionen Tonnen Steinkohle, d.h. nicht mehr als 62 %. Auch die Superphosphatindustrie erfüllte ihr Produktionssoll nur zu 62 %. Bei anderen Industriezweigen waren die Rückstände in der Planerfüllung nicht ganz so groß (die genauen Berechnungen liegen uns noch nicht vor), insgesamt jedoch ist der sogenannte Plan-»Rückstand« sehr erheblich, besonders beim Investitionsbau.

Schlimmer sieht es jedoch bei den Qualitäts-Indizes aus. In Bezug auf die Kohleindustrie heißt es in der Zeitung Sa Industrialisaziju [»Für die Industrialisierung«]: »Der Niveauabfall ist, gemessen an Qualitätsindizes, wesentlich größer als der nach den Quantitätsindizes gemessene« (8. Januar). Am 7. Januar schreibt dieselbe Zeitung über das Eisenerz von Kriwoj Rog: »Die Qualitätsindizes sind gefallen«. Gefallen! Und dabei wissen wir, dass sie auch vorher schon äußerst niedrig waren. Über Buntmetall und Gold sagt dieselbe Zeitung: »Statt zu fallen, sind die Selbstkosten gestiegen.« Die Reihe derartiger Äußerungen lässt sich mühelos fortsetzen.

Was z.B. die Qualitätsminderung der Kohle bedeutet, das zeigt derselbe Korrespondent anhand des Transports (vgl. den »Brief eines Gewerkschafters« in der gleichen Nummer): Verringerung der Kilometerleistung, Lokomotivschäden, wachsende Zahl von Unfällen, ja, Niedergang des Transportwesens überhaupt – das ist die automatische Antwort auf die Qualitätsminderung des Brennmaterials. Die rapide Verschlechterung des Bahntransports, vor allem in der Zeit des Zusatzquartals, hatte ihrerseits, das sei hier ausdrücklich vermerkt, gravierende Auswirkungen auf alle übrigen Wirtschaftszweige. Der dem Sport nachempfundene Führungsstil, der eine vorausschauende, sachbezogene und flexible Planung ersetzte, bedeutete starken Leistungsabfall, und das nicht selten in verkappter, d. h. besonders gefährlicher, weil krisenträchtiger Form.

Für sich genommen war das Arbeitstempo des Zusatzquartals sehr hoch und hat die immensen Vorzüge der Planwirtschaft erneut aufs Beste demonstriert. Bei einer richtigen Führung, die mit den realen wirtschaftlichen Prozessen rechnet und notwendige Änderungen am Plan auch während seiner Laufzeit vornimmt, könnten die Arbeiter auf die Erfolge wirklich stolz sein. Jetzt aber hat man genau das Gegenteil erreicht: Wirtschaftsfunktionäre und Arbeiter sehen auf Schritt und Tritt, dass der Plan nicht zu erfüllen ist, wagen das aber nicht laut zu sagen, sondern arbeiten unter Druck und mit verhohlenem Groll; ehrliche und tüchtige Administratoren wagen den Arbeitern nicht mehr in die Augen zu sehen. Alle sind unzufrieden. Die Buchführung wird künstlich dem Planziel angepasst, die Qualität der Erzeugnisse wird der Buchführung angepasst – alle Wirtschaftsvorgänge spielen sich in einem Klima von Betrügerei ab. So wird die Krise programmiert.

Warum das alles? Um des Prestiges der Bürokratie willen, das nun endgültig das bewusste und kritische Vertrauen der Partei zur Führung ersetzt hat. Dieser Götze – das Prestige – ist nicht nur teuflisch anspruchsvoll und zynisch, sondern auch ziemlich dumm. So hat man sich z.B. nicht gescheut einzugestehen, dass die Pläne von Schädlingen ausgearbeitet worden seien, wobei weder Krschischanowski, noch Kuibyschew oder Molotow oder Stalin in der Lage waren, diese Schädlingsarbeit an ihren wirtschaftlichen Symptomen zu erkennen. Andererseits ist der gleiche Götze auf keinen Fall bereit einzugestehen, dass die aus der Kombination von Schädlingsarbeit und törichtem Abenteurertum entsprungene Vierjahresfrist ein Fehler ist.

Wir erinnern noch einmal daran, dass wir von vornherein vor dem leichtsinnigen, unmotivierten und unvorbereiteten Schritt gewarnt haben, während Jaroslawski, der Troubadour des Prestiges, lauthals in allen Sprachen verkündete, unsere Warnung beweise nur erneut den konterrevolutionären Charakter des »Trotzkismus«.

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